In den US-Medien wird derzeit darüber diskutiert, ob es eine Verfassungsversammlung (Constitutional Convention) geben muss. Hintergrund ist eine Bestimmung der amerikanischen Verfassung. Artikel V der amerikanischen Verfassung ermöglicht es den Staaten, eine Versammlung einzuberufen, die Verfassungsänderungen (im Rechtsterminus „amendments“, also eigentlich „Zusätze“) vorschlagen kann, die dann auf dem üblichen Weg ratifiziert werden.
Dafür müssen zwei Drittel der Staaten zustimmen, derzeit also 34 von 50. Ob diese „magische Zahl“ 34 nun erreicht ist oder nicht, kann nur beantwortet werden, wenn man sich über die Zählweise im Klaren ist. Und dies wirft viele Fragen auf.
Zunächst einmal ist zu fragen, welchen Tenor die Anträge der Bundesstaaten überhaupt haben müssen. Gemeinhin wird zwischen verschiedenen „Klassen“ entschieden, von denen die ersten drei praxisrelevant sind:
- Class I: Ein allgemeiner Wunsch nach einer Verfassungsversammlung zu beliebigen Themen.
- Class II: Ein allgemeiner Wunsch nach einer Verfassungsversammlung zu beliebigen Themen, für die jedoch mindestens ein Thema bereits vorgegeben wird.
- Class III: Ein Wunsch nach einer Verfassungsversammlung zu einem bestimmten Thema.
Von diesen Anträgen sind im Laufe der Zeit hunderte gestellt worden. Die Gesamtzahl ist aber unerheblich, relevant ist nur, dass sich die erwähnten zwei Drittel der Staaten für eine Versammlung ausgesprochen haben.
Derzeit haben fünf Staaten noch Klasse-I-Anträge ausstehen, nämlich Missouri, Ohio, Indiana, Wisconsin sowie Texas. Hinzu kommen noch Alabama und South Carolina in Klasse II. Es sind also gerade einmal sieben Staaten, die eine allgemeine Versammlung beantragt haben.
Weitere 24 US-Staaten haben nur eine Class III Application verabschiedet, also eine zu einem bestimmten Thema (und zwar zu vielen verschiedenen Themen). Diese werden teilweise zu den ersten sieben Staaten hinzugerechnet, sodass es 31 insgesamt wären – immer noch drei zu wenig, aber wenigstens schon in Sichtweite der notwendigen 34. Nur hat diese Rechnung den Schönheitsfehler, dass die Anträge der dritten Klasse nicht einfach hinzuaddiert werden können.
Denn sie beziehen sich ja gerade nicht auf eine allgemeine Versammlung, sondern auf eine ganz bestimmte. Wenn zum Beispiel Delaware eine Verfassungsversammlung zum Thema Abtreibung fordert, dann hilft das den Befürwortern einer generellen Verfassungsversammlung offensichtlich nicht weiter. Allenfalls umgekehrt könnte eine Versammlung zu einem bestimmten Thema einberufen werden, wenn die Summe der Anträge zu diesem Thema und die der Anträge für eine allgemeine Versammlung das Quorum erreicht. Denn die Anträge für eine allgemeine Verfassungsversammlung schließen ja denknotwendig jedes Thema ein.
Ein solches Thema könnte das „Balanced Budget Amendment“ sein. Die hierfür zählenden Staaten könnte nun tatsächlich bei 34 liegen. Der 34. Staat wäre danach Wisconsin gewesen – was irritiert, da dieser ja eigentlich bereits zu den fünf Class-I-Staaten zählt und damit seine Resolution von Ende März (explizit für das Balanced-Budget-Verfassungsversammlung) keine zusätzliche Stimme gebracht hätte. Trotzdem wird der Beschluss Wisconsins teils euphorisch gefeiert, teils als Ende der USA angesehen – obwohl es nur um eine Art Schuldenbremse geht.
Aber auch diese Rechnung geht fehl. Denn unter den 34 US-Bundesstaaten für den Verfassungszusatz sind zwölf, die ihren einstigen Antrag bereits widerrufen haben. Zwar ist nicht völlig geklärt, ob ein solcher Widerruf überhaupt zulässig ist. Aber es ist schon schwer zu argumentieren, warum er es nicht sein sollte. Wie kann ein Parlament sich ewig binden? Wenn ein Beschluss eines Staates eine Äußerung seines gestalterischen Willens als bundesstaatlicher Verfassungsgeber ist, dann kann es kaum sein, dass dieser einmal geäußerte Wille noch unterstellt wird, obwohl er längst ausdrücklich annulliert wurde.
Auch sagt die Verfassung (Artikel V, Satz 1) ausdrücklich, dass auf einen Antrag von zwei Dritteln der Staaten eine Versammlung einberufen werden muss:
on the Application of the Legislatures of two thirds of the several States
Dies wird teilweise so verstanden, dass es sich um einen einzelnen Antrag handeln muss. Dies wäre aber schon deswegen zu eng interpretiert, weil die 34 beteiligten Staaten logischerweise unabhängig voneinander ihre Parlamentssitzungen abhalten. Vielmehr müssen die (denknotwendig verschiedenen) Beschlüsse nur einen übereinstimmenden Inhalt haben. Soweit der übereinstimmende Inhalt reicht, ein konkretes Vorhaben also von allen Anträgen gedeckt ist, handelt es sich um „einen“ Antrag, werden die Anträge also zusammengezählt.
Zum übereinstimmenden Inhalt gehört aber nicht nur ein thematisches, sondern auch ein zeitliches Zusammentreffen. Ein Antrag darf also nicht widerrufen worden sein, sonst ist er (aus Sicht des betreffenden Staates) nicht mehr mit dem neuen (eines anderen Staates) identisch. Es kann schon nicht mehr derselbe Antrag sein, weil eine zeitliche Zensur und damit möglicherweise auch eine Veränderung der politischen Verhältnisse stattgefunden hat. Hierfür spricht allein schon die Tatsache, dass eine neue Ausrichtung des politischen Willens stattgefunden hat. Von einem gemeinsamen Antrag kann dann schon keine Rede mehr sein.
Die zwölf widerrufenden Staaten muss man also abziehen, sodass auch mit Wisconsins Stimme nur noch 22 überbleiben. Das ist nicht einmal die Hälfte der US-Staaten und weit weniger als zwei Drittel.
Nach all dem sind die US-Staaten also weit davon entfernt, eine Verfassungsversammlung einberufen zu haben. Und sogar, wenn man der Meinung folgt, die 34 Bundesstaaten für eine Convention zum „Balanced Budget Amendment“ gefunden hat, ist das doch nicht mehr als das, was es ist: Eine Versammlung von Delegierten, die ein in seiner Wirkung sehr spezifisches „Balanced Budget Amendment“ beraten und dann auf den (höchst unsicheren) Weg der Ratifikation bringen sollen. Höchst sicher ist dagegen, dass die USA nicht zerfallen werden, wenn ein in der Verfassung vorgesehener Mechanismus genutzt wird.
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