Wenige juristische Begriffe sorgen für so viel Verwirrung wie derjenige der freiwilligen Gerichtsbarkeit. Wie kann Gerichtsbarkeit denn freiwillig sein? Ist es nicht das Wesen eines staatlichen gerichtlichen Ausspruchs, dass dieser unbedingt gilt und nicht nur freiwillige Bindung entfaltet? Ist das dann eine Art Schiedsgerichtverfahren, bei dem man niemanden zur Teilnahme zwingen kann?
Tatsächlich hat das Verfahren auch nicht viel mit Freiwilligkeit zu tun. Als man 1898 das „Gesetz über die Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FGG) einführte, orientierte man sich einfach an diesem in der Rechtswissenschaft bereits gut eingeführten Begriff. Denn die Vorstellung einer freiwilligen Gerichtsbarkeit geht bis in römische Zeiten zurück.
Die Anfänge der freiwilligen Gerichtsbarkeit bestanden darin, dass ein römischer Bürger vor der Curie, einer gerichtsartigen Behörde, sein Testament errichten oder eine Schenkung beurkunden lassen könnte. Dieser Akt war in der Tat freiwillig: Man nahm die Dienste der Curie aus eigener Veranlassung in Anspruch und für das dortige Rechtsgeschäft war nur der Wille des Bürgers maßgebend.
Das seit nunmehr fast 120 Jahren in Deutschland geltende Recht der freiwilligen Gerichtsbarkeit hat dagegen nicht mehr viel mit dem freien Willen zu tun. Trotzdem hielt man auch beim neuen „Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit“ (FamFG), das das FGG im Jahr 2008 ersetzte, an diesem Namen fest.
Vom FamFG werden vielerlei Prozesse umfasst, die man in den Bereich der persönlichen Bindungen der Menschen untereinander einordnen würde: Ehe und Scheidung mit all ihren Folgesachen wie Unterhalt, Sorgerecht und Versorgungsausgleich. Vaterschaftsfeststellung und Adoption. Die Bestellung eines Betreuers (früher Entmündigung) sowie Unterbringungssachen. Nachlasssachen und Erbscheine. Hinzu kommen noch verschiedene Registerangelegenheiten.
Ob eine Sache zur freiwilligen Gerichtsbarkeit gehört, lässt sich auf dem Definitionsweg nicht feststellen. Man muss einfach nachsehen, ob es eine gesetzliche Zuweisung zum FamFG-Prozess gibt. Wenn nicht, dann richtet sich das Verfahren höchstwahrscheinlich nach der Zivilprozessordnung (ZPO).
Gerade in den in der Praxis bedeutsamen Sachen im familienrechtlichen Umfeld ist der freie Wille im FamFG bedeutend weniger weit ausgeprägt als in der ZPO. Im Zivilprozess ist es Sache des Klägers, welchen Anspruch er inwieweit geltend macht. Auch kann jeder Beteiligte prinzipiell den Prozess beenden, indem er auf seine Klageforderung verzichtet bzw. diese anerkennt. Auch bei der Ermittlung der Wahrheit haben es die Parteien in der Hand, welche Beweismittel sie heranziehen wollen. Wenn beide bspw. einen Zeugen für verzichtbar halten, dann wird er nicht angehört, egal, ob es den Prozess weiterbringen würde oder nicht. Das Gericht ist hier dem Willen der Parteien untergeordnet.
Demgegenüber statuiert § 26 FamFG ganz deutlich den sog. Amtsermittlungsgrundsatz: „Das Gericht hat von Amts wegen die zur Feststellung der entscheidungserheblichen Tatsachen erforderlichen Ermittlungen durchzuführen.“ Wer das Sorgerecht für ein Kind bekommt, richtet sich nicht nur nach der Vereinbarung der Eltern, sondern wird vom Gericht nach Berücksichtigung des Kindeswohls bestimmt (§ 1671 BGB). Dass nach der Scheidung ein Versorgungsausgleich durchgeführt wird, steht ebenfalls nicht im Belieben der Eheleute.
Von der Freiwilligkeit ist im FamFG-Verfahren offensichtlich nicht viel zu spüren. Aber anscheinend hat man noch immer keinen besseren Sammelbegriff für die vielen ganz verschiedenen Gegenstände im Bereich dieser Verfahrensart gefunden. Vielleicht ist das auch gar nicht notwendig. Schließlich wissen Juristen, was sie mit diesem Ausdruck anfangen müssen. Und Laien werden schon bald merken, dass ihre Beteiligung an einem solchen Verfahren bei weitem nicht so freiwillig ist, wie man zunächst meinen könnte…