Wenn man den Sinn und die Zielrichtung staatlicher Regelungen hinterfragt, hört man oft eine Rechtfertigung in dem Sinne, dass das alles ja demokratisch beschlossen sei. Es geht also – zumindest indirekt – auf den Volkswillen zurück, der sich zwar nicht immer unmittelbar durch eine Abstimmung, aber wenigstens in der Form äußert, dass es die vom Volk gewählten Vertreter waren, die hier gehandelt haben. Nun fallen in der Realität Volkswille und Volksvertreterbeschlüsse oft genug auseinander. Aber sogar, wenn man unterstellt, das Volk habe selbst und mehrheitlich gehandelt – ist dies dann ein Grund, warum eine bestimmte Entscheidung sakrosankt ist und nicht mehr hinterfragt werden darf?
Wenn man das so sieht, fordert man im Endeffekt eine totale Demokratie. Es wird alles auf verfassungsmäßigem Wege, abgestützt durch Mehrheiten, entschieden, also ist es in Stein gemeißelt. Diese Ansicht blendet einen wesentlichen Teil echter Demokratie aus. Wir haben eben keine Diktatur der Mehrheit, sondern eine freiheitlich-demokratische Grundordnung. Die Freiheitlichkeit setzt der Demokratie klare Grenzen. Nicht alles, was eine Mehrheit an Bürgern oder gewählten Mandatsträgern will, ist Gesetz.
Freiheitlichkeit bedeutet, dass die Rechte des Einzelnen (Grundrechte und andere subjektive Rechte) gewahrt bleiben müssen. Demokratie kann nur da stattfinden, wo die zu regelnde Materie disponibel ist. Dies schließt Eingriffe in Rechte nicht aus, diese müssen allerdings durch beachtliche Ziele gerechtfertigt und unter deren Berücksichtigung maßvoll sein.
Demokratische Entscheidung ist notwendig, aber nicht hinreichend
Der demokratische Prozess alleine kann daher keine Rechtfertigung für Rechtseingriffe sein. Es ist vielmehr so, dass man eine demokratische Entscheidung als Grundvoraussetzung dafür ansehen muss, dass etwas überhaupt „Recht“ sein kann. Ob es wirklich Recht ist, muss nach inhaltlichen Kriterien bestimmt werden. Und auch, wenn es nach diesen Maßstäben bestehen bleibt, kann man eine Entscheidung natürlich weiterhin kritisieren und deren Aufhebung verlangen. Nichts ist für die Ewigkeit, ein Gesetz erst recht nicht.
Und doch ist der Glaube an die Unantastbarkeit der momentanen Rechtslage weit verbreitet – freilich in erster Linie dort, wo man sie persönlich für richtig hält. Als Rechtsanwender sollte man stets zumindest im Blick haben, dass ein Gesetz mehr Voraussetzungen erfüllen muss, als im jeweiligen Gesetz- oder Amtsblatt veröffentlicht zu sein. Dass der Spielraum des Normgebers stets ein weiter ist und die Gerichte sehr selten dazu übergehen, Vorschriften für nichtig zu erklären, steht freilich auf einem anderen Blatt.
Aber bei der Frage, ob das Recht so bleiben kann und soll wie es ist, sollte man sich nie mit dem Status quo begnügen. Und vor allem sollte man sich seine Rechte und die anderer nie mit dem bloßen Verweis auf Mehrheiten oder den angeblichen „Volkswillen“ streitig machen lassen.