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    Categories: Verfassungsrecht

Wie kein US-Präsident gewählt wird

Heute wählen die Vereinigten Staaten einen neuen Präsidenten – so zumindest die allgemeine Meinung. Es könnte aber auch sein, dass die Amerikaner wählen und trotzdem niemand Präsident wird. Das ist zugegebenermaßen nicht besonders wahrscheinlich – aber für wie wahrscheinlich hätte man es vor ein paar Jahren gehalten, dass Hillary Clinton und Donald Trump als die beiden geeignetsten Kandidaten für das mächtigste Amt der Welt angesehen würden?

Bei dieser Wahl kann alles passieren. Ein Gedankenspiel.

Die „normale Wahl“ ohne Mehrheit

Wie mittlerweile dank erheblicher medialer Berichterstattung allgemein bekannt sein dürfte, wird der US-Präsident nicht direkt gewählt. Zwar kreuzen die Bürger an, wen sie gerne als ihr Staatsoberhaupt sehen würden, tatsächlich entscheiden sie damit aber, welche Wahlmänner für ihren Bundesstaat abstimmen dürfen. Welcher Kandidat mehr Stimmen im jeweiligen Staat bekommt, dessen Wahlmänner kommen zum Zug, und zwar alle. Dieses „Electoral College“ tritt zwar nie als Gremium zusammen, sondern es wird in jedem Staat extra abgestimmt, aber die so ermittelte Gesamtstimmenzahl entscheidet über den Wahlsieger. Die 50 Staaten und der District of Columbia entsenden zusammen 538 Wahlmänner, die 538 Stimmen abgeben. Gewählt ist also, wer 270 Stimmen auf sich vereinigt.

Nun wäre es durchaus möglich, dass niemand 270 Stimmen bekommt.

Denkbar wäre zunächst ein banales Unentschieden: Jeder hat 269 Stimmen, keiner eine Mehrheit. Dieses Szenario ist wahrscheinlicher geworden, seit Maine und Nebraska nicht mehr strikt nach obigem Modus vorgehen, sondern der Verlierer immerhin noch eine von vier Stimmen bekommt, wenn er in einem der je zwei Wahlkreise der beiden Staaten die Mehrheit errungen hat.

Von dritten Kandidaten und treulosen Wahlmännern

Oder ein dritter Kandidat gewinnt einen ganzen Staat. Nachdem es zunächst so aussah als könnte der libertäre Bewerber Gary Johnson gleich in mehreren Staaten mithalten, sind seine Aussichten mittlerweile erheblich geschrumpft. Nachdem ihn die Medien konsequent ignorierten und nicht einmal zum Fernsehduell einluden, sanken seine Umfragewerte deutlich. Würde er aber seinen Heimatstaat New Mexico gewinnen, hätte nach derzeitigem Stand Clinton 267 Stimmen, Trump 266 und Johnson 5 – und damit keiner die notwendige absolute Mehrheit von 270.

Eine weitere Möglichkeit wäre, dass die Wahlmänner und -frauen nicht alle so abstimmen, wie man dies gern hätte. In früheren Jahre gab es diese „faithless electors“ immer mal wieder, aber insgesamt doch recht selten. Entscheidend für die Präsidentschaft waren sie dabei nie. Das könnte sich dieses Mal ändern. Ein demokratischer Wahlmann aus dem Bundesstaat Washington hat schon angekündigt, nicht für Clinton stimmen zu wollen. Man kann davon ausgehen, dass es vielen Wahlmännern (obgleich diese fast ausschließlich langjährige treue Parteimitglieder sind) ähnlich geht, wobei wohl die meisten dann doch widerwillig zur Parteilinie zurückkehren werden. Weder Hillary noch Trump sind Traumkandidaten – erstere hat sich durchgesetzt, weil es in ihrer Partei keinen anderen ernstzunehmenden Kandidaten gab, letzterer, weil sich in seiner Partei die anderen ernstzunehmenden Kandidaten alle gegenseitig aus dem Rennen geworfen haben. Clinton könnte derzeit auf 272 Wahlmännerstimmen hoffen – wenn es nur drei davon doch nicht über’s Herz bringen, sie zu wählen, reicht es nicht für sie.

Die Wahl im Kongress

Nun stellt die US-Verfassung dafür natürlich auch einen Mechanismus bereit.

Erringt keiner die Mehrheit der Wahlmänner, muss das House of Representatives, die zweite Kammer des Parlaments, den Präsidenten wählen. Diese 435 Abgeordneten, die übrigens auch allesamt heute neu gewählt werden, stimmen aber nicht einzeln ab, sondern aufgeteilt in die 50 Delegationen der Staaten. Von diesen wiederum hat jede Delegation eine Stimme, egal ob es sich um die 53 kalifornischen Abgeordneten handelt oder um den einen Vertreter Vermonts.

Um Präsident zu werden, benötigt man eine Mehrheit von 26 Staaten hinter sich. Bei der letzten Wahl, die vom House of Representatives entschieden wurde (was immerhin schon 192 Jahre her ist), brauchte man innerhalb der einzelnen Delegationen eine absolute Mehrheit, um die Stimme des jeweiligen Staates zu bekommen. Da dies Amerikaner Präzedenzfälle mögen, kann man davon ausgehen, dass sie es auch dieses Mal wieder so halten würden – die Verfassung schweigt zu dieser Frage.

Stimmverhalten der Repräsentantenhaus-Delegationen unsicher

Und genau das macht dieses System wiederum anfällig. Wenn Abgeordnete, die sich „ihrem“ Präsidentschaftskandidaten noch weniger verbunden fühlen müssen als Wahlmänner, einfach mit Enthaltung stimmen, kann die Stimme des Staates unter Umständen schon nicht vergeben werden. In Staaten mit nur einem Abgeordneten ist dies zwangsläufig so, aber auch in anderen Staaten kann eine Stimme entscheidend sein: Wenn sich einer der beiden bisher (und voraussichtlich auch zukünftigen) demokratischen Kongressleute Rhode Islands lieber enthält als für Hillary Clinton zu stimmen, muss sich der Staat insgesamt enthalten, weil der zweite Abgeordnete keinesfalls eine Mehrheit ausmachen kann. In Iowa haben die Republikaner derzeit eine komfortable 3-zu-1-Mehrheit. Verweigert einer der drei Trump seine Stimme, ist diese Mehrheit aber weg – und dafür muss er, wohlgemerkt, nicht einmal für Hillary Clinton stimmen, eine Enthaltung reicht.

Diese Problematik betrifft nach derzeitigem Stand Alaska, Arizona, Colorado, Delaware, Hawaii, Idaho, Illinois, Iowa, Maine, Minnesota, Mississippi, Montana, Nebraska, Nevada, New Hampshire, New Jersey, New Mexico, North Dakota, Rhode Island, South Dakota, Vermont, Washington, Wisconsin und Wyoming – mithin 24 Staaten. Und von den restlichen 26 Staaten kann keiner der Kandidaten erwarten, alle für sich zu gewinnen. Mal davon abgesehen, dass sich innerhalb einer Delegation auch zwei oder mehr Abgeordnete vom Kandidaten ihrer Partei abwenden könnten. Das mag unwahrscheinlich sein, aber – wie gesagt – bei dieser Wahl gibt es sehr viel Unzufriedenheit in den Parteien. Eine Mehrheit ist alles andere als gesichert, sogar wenn nur wenige dieser wackelnden Staaten wirklich abspringen.

Wahl im Jahr 1800: 35 Wahlgänge nötig

Die Frage ist: Was passiert dann? Das Prozedere ist einfach dasjenige, dass es einen neuen Wahlgang gibt. Nur führt ein neuer Wahlgang mit denselben Wählern nicht unbedingt zu einem anderen Ergebnis. Natürlich, man wird hinter der Kulissen anfangen, die vermeintlich Abtrünnigen sanft und unsanft zu bearbeiten, dass sie ihre Stimme doch noch einmal überdenken sollen. Aber warum sollten sie? Sie haben im Wahlkampf alle gemerkt, wie schwer es für sie war, wenn sie in die Nähe ihres Präsidentschaftskandidaten gerückt wurden. Warum sollten sie das nun mit Nibelungentreue belohnen?

Das House kann so oft wählen, wie es will. Bei der Wahl im Jahr 1800 waren 35 Wahlgänge an sieben Tagen notwendig, bis Mitte Februar 1801 endlich der neue Präsident feststand. Das könnte nun deutlich länger dauern.

Keine Übergangslösung in Sicht

Wer zwischenzeitlich Präsident ist, weiß niemand. Der 20. Verfassungszusatz besagt zwar, dass der Kongress durch Gesetz festlegen kann, wer das Amt vorübergehend wahrnimmt, wenn bis zum 20. Januar kein Präsident gewählt wurde. Das allgemeine Vertretungsgesetz („Presidential Succession Act“) regelt die Nachfolge aber nur bei Tod, Rücktritt, Amtsenthebung und „failure to qualify“. Was unter Letzterem zu verstehen ist, ist nicht so ganz klar, wahrscheinlich ist damit aber nur gemeint, dass sich herausstellt, dass der gewählte Präsident laut Verfassung gar nicht wählbar (also für das Amts qualifiziert) war, weil er noch keine 35 Jahre alt oder nicht seit Geburt Amerikaner ist. Dass niemand die notwendige Stimmenzahl bekommen hat, ist aber kein „failure to qualify“, sondern es gibt dann eben noch gar keinen gewählten Präsidenten.

Freilich könnte der Kongress dann schnell ein Gesetz verabschieden, wonach der Übergangspräsident z.B. durch normale Abstimmung im House (also nicht getrennt nach Staaten) gewählt wird, um die Mehrheitsbildung zu beschleunigen. Oder man könnte den scheidenden Präsidenten Obama im Amt belassen, bis endlich die Nachwahl erfolgt ist. Oder der Stimmenstärkste im Electoral College übernimmt. Oder der Succession Act wird für anwendbar erklärt.

Die Sache hat aber einen Haken: Das Gesetz bedürfte der Zustimmung beider Kammern, also auch des Senats. Ob eine Übereinstimmung zustande käme, wäre höchst unsicher. Vielleicht haben wir nach den heutigen Wahlen in den beiden Kammern unterschiedliche oder unsichere Mehrheiten – wohlgemerkt, wir befinden uns hier ja in einem Szenario, in dem sich die Abgeordneten gerade von ihren Parteien abwenden. Warum diese Unzufriedenen dann einem Übergangsgesetz zustimmen sollten, erschließt sich nicht unmittelbar. Es könnte allenfalls sein, dass auch ohne sie eine Mehrheit zustande kommt.

Es geht auch ohne Regierung

Wer aus irgendwelchen Gründen Angst hat, dass sich die Bürger die Köpfe einschlagen, nur weil es gerade niemanden im Weißen Haus gibt, kann beruhigt sein: Die Bundesstaaten, die in den USA deutlich mehr Kompetenzen besitzen als deutsche Bundesländer oder auch als EU-Mitgliedsstaaten, haben natürlich weiterhin ihre jeweiligen Behörden und Gouverneure. Einige von Letzteren werden zwar ebenfalls heute gewählt, sind von der Wahl auf Bundesebene aber völlig unabhängig.

Aber ist das denn überhaupt vorstellbar, dass ein Staat keine Zentralregierung hat? Ja, durchaus. Aktuell ging es Spanien und Belgien für längere Zeit so, anderen Staaten ebenso. Und die Erfahrung zeigt: Ohne Regierung läuft es im Groben einfach so weiter wie bisher, und im Detail meistens gar nicht so schlecht. Die Wirtschaft wächst stärker, der Lebensstandard steigt, die Menschen sind zufriedener. Vielleicht wäre dieser Weg ja auch für die USA ganz erstrebenswert. Und war der Slogan eines der beiden aussichtsreichsten Kandidaten nicht „Make America Great Again“?

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