Zunächst muss man freilich konstatieren, dass es sich sehr wohl um ein versuchtes Tötungsdelikt (Totschlag oder Mord) handelt. Wer einem anderen sechsmal in den Oberkörper sticht, will diesen entweder töten oder er nimmt es zumindest billigend in Kauf.
Ob und wie ein Rücktritt möglich ist, ist stark von der Situation und der Sicht des Täters abhängig. Da die Informationen für den vorliegenden echten Fall zu karg sind, nehmen wir lieber eine ähnliche Konstellation: Der Täter schießt in Tötungsabsicht auf sein Opfer, trifft dieses jedoch nur im Bauchraum. Das Opfer geht zu Boden und blutet.
Nun kommt es drauf an:
- Der Täter geht davon aus, dass er die Tat überhaupt nicht mehr vollenden kann. Das Opfer wird überleben, egal, was er jetzt tut. Für eine Tötung wären erhebliche neue Vorkehrungen notwendig, er müsste sich bspw. eine neue Waffe beschaffen.
Dann gibt es keinen Rücktritt mehr. Denn in dem Fall ist der Versuch fehlgeschlagen, ein Rücktritt wäre nicht mehr freiwillig. In dieser Situation gibt es keinen Grund mehr, den Täter zu privilegieren, denn er tritt ja nicht zurück, sondern erkennt einfach nur die Realität an. Auch das Opfer bedarf keines Schutzes mehr, denn es ist schon außer Gefahr.
Das scheidet, sofern der Täter nicht nur mit einer einzigen Patrone am Tatort war, ziemlich sicher aus. - Der Täter geht davon aus, dass er die Tat ohne Weiteres vollenden könnte. Nach einem zweiten, nun etwas gezielteren Schuss wäre das Opfer in kürzester Zeit tot. Vom ersten Schuss wurde es aber nicht so schwer getroffen, dass Lebensgefahr besteht. Es war nur ein Streifschuss, die Blutung wird bald stoppen.
Der Versuch ist hier nicht fehlgeschlagen. Außerdem ist er unbeendet, da der Täter noch weiter handeln müsste, um die Vollendung herbeizuführen, also das Opfer zu töten. In dem Fall reicht es gemäß § 24 Abs. 1 Satz 1, erste Alternative, wenn er die Tatausführung einfach aufgibt, also nichts mehr tut. - Der Täter geht wieder davon aus, dass er die Tat ohne Weiteres vollenden könnte. Allerdings ist der Schuss tief in den Bauchraum eingedrungen, die Blutung ist stark und es wurden möglicherweise Organe getroffen. Ohne ärztliche Versorgung wird das Opfer wahrscheinlich sterben.
Hier ist der Versuch beendet, denn der Täter hat alles Notwendige getan, um den Tod des Opfers zu verursachen. Damit kann es nicht reichen, dass der Täter einfach auf einen zweiten Schuss „verzichtet“ und weggeht – denn dann würde ja der Tod eintreten und der mit den Rücktrittsvorschriften bezweckte Opferschutz auf der Strecke bleiben. Daher sieht § 24 Abs. 1 Satz 1, zweite Alternative, dafür die Verhinderung der Vollendung vor. Der Täter muss also durch aktives Tun dafür sorgen, dass das Opfer gerettet wird. Das kann durch eigenes Hilfeleisten geschehen, aber auch durch Alarmierung des Rettungsdienstes oder anderer Personen.
Angemerkt werden muss aber noch Folgendes: All das gilt nur für den Tötungsversuch. Die gefährliche Körperverletzung ist vollendet und von dieser kann er nicht mehr zurücktreten, deswegen wird er also auf jeden Fall verurteilt. Sollte das Opfer doch noch sterben, bleibt auch insoweit für den Rücktritt kein Platz mehr und der Täter ist wegen Totschlags oder Mordes strafbar. Die Rettungsversuche können dann allenfalls bei der Strafzumessung berücksichtigt werden.
Insofern ist es keineswegs so, dass die Rücktrittsvorschriften dem Täter einen „Freischuss“ einräumen und er immer noch straflos bleiben kann, wenn er es sich anders überlegt. Denn das Risiko, dass er die Tat vollendet oder sie ohne Vollendung fehlgeschlagen ist, nimmt ihm niemand ab.