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Die Verfassung des Vereinigten Königreichs

Man hört häufig die Theorie, Großbritannien, genauer gesagt: das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland, habe keine Verfassung.

Dabei stellen sich jedem Juristen die Nackenhaare auf. Denn jeder Staat hat eine Verfassung. Als „Verfassung“ bezeichnet man im Grunde nur den politischen Zustand eines Landes, also die Frage, wie es „verfasst“ ist. Diese Verfassung existiert ganz einfach, sie muss nicht etwa niedergeschrieben sein. So hat auch eine absolutistische Monarchie eine Verfassung, auch wenn sie nur aus dem Kernsatz „Der König darf alles“ bestehen mag.

Keine einheitliche, geschriebene Verfassung

Richtig ist, dass das Vereinigte Königreich keine geschriebene Verfassung (Grundgesetz) besitzt. Und es gibt auch keine Rechtsnormen, die wie eine Verfassung über den „normalen“ Gesetzen stehen. Es gibt einzelne Parlamentsgesetze, die Verfassungsrecht beinhalten. Die Institutionen des britischen Verfassungslebens sind auch nicht alle gesetzlich definiert, sondern werden häufig nur unvollständig geregelt. Man muss über ein fundiertes Wissen bzgl. des Gewohnheits- und Richterrechts verfügen, um die komplette Verfassungsordnung überblicken zu können.

Ein erstes verfassungsähnliches Gesetz war die Magna Charta aus dem Jahr 1215, die verschiedende damals aktuelle Rechtsgebiete, sehr breit z.B. das Lehensrecht, daneben aber auch prozessuale Grundsätze, Fragen der Verwaltung, Rechtsbeziehungen zwischen dem König und einzelnen Adligen sowie die königlichen Ländereien, behandelte. Eine umfassende oder systematische Kodifizierung war dies jedoch in keiner Weise

Grundrechte

Grundrechte haben in der britischen Verfassungstradition seit jeher eine erhebliche Stellung. Als in Kontinentaleuropa noch weitestgehend absolute Monarchien herrschten, die in ihrer Macht über den Untertanen kaum beschränkt waren, gab es auf der Insel bereits ein ausgeprägtes Grundrechtssystem. Kodifiziert wurden diese Grundrechte aber kaum bzw. außerordentlich spät.

So schützt der Habeas Corpus Act bereits seit dem 17. Jahrhundert ausdrücklich vor unbegründeter Verhaftung. Die Bill of Rights garantierte Waffenbesitz und Petitionsfreiheit. Andere Grundrechte wurden zwar nach und nach anerkannt, schriftlich niedergelegt wurden sie aber erst im Human Rights Act 1998.

Parlament

Dass das Parlament aus Ober- und Unterhaus sowie formell aus dem Monarchen besteht, war gewohnheitsrechtlich anerkannt. Die meisten Gesetze über das Parlament sollten in erster Linie die Rechte des Parlaments gegenüber der Krone festigen, also mehr Angelegenheiten der alleinigen Verfügungsgewalt des Königs entziehen. Die Bill of Rights setzte die Immunität der Abgeordneten durch, diese konnten also nicht mehr für parlamentarisches Verhalten verfolgt werden; außerdem waren die Steuererhebung sowie die Finanzierung des Heeres nur noch durch Parlamentsgesetz möglich.

Die Rolle des Oberhauses, in dem der Adel vertreten ist, schwand im Laufe der Zeit immer mehr zugunsten des vom Volk gewählten Unterhauses. Seit 1911 hat es nur noch ein suspensives Vetorecht, das Unterhaus kann also eine fehlende Zustimmung des Oberhauses selbst überstimmen. Auf Finanzfragen hat er gar keinen Einfluss mehr. Mit dem House of Lords Act aus dem Jahr 1999 wurde das Oberhaus zudem grundlegend reformiert und der weitestgehende Übergang von erblichen Mandaten hin zu auf Lebenszeit ernannten Personen sowie gewählten Vertretern des Adels beschlossen.

Dass die Amtsdauer des Unterhauses maximal fünf Jahre betragen darf, hatte sich ebenso im Laufe der Zeit ergeben wie die Tatsache, dass der Monarch auf Bitte der Regierung das Parlament jederzeit auflösen konnte. Seit 2011 ist die Amtszeit nun im Fixed-term Parliaments Act erstmals schriftlich auf fünf Jahre fixiert. Eine Auflösung ist nur noch möglich, wenn nach einem Misstrauensvotum keine neue Regierungsmehrheit zustande kommt oder die Selbstauflösung mit Zwei-Drittel-Mehrheit beschlossen wird. Letzteres geschah erstmals am 19. April 2017, was zu den gestrigen Neuwahlen führte.

Premierminister und Regierung

Der Premierminister ist ein weitestgehendes Nullum in der britischen Verfassung. Wann es ihn zum ersten Mal gab, weiß man nicht – der Begriff etablierte sich wohl erst im Laufe des 19. Jahrhunderts. Er taucht kaum in Gesetzen auf und hat praktisch keine offizielle Funktion. Das steht völlig konträr zu seiner tatsächlichen Stellung, die deutlich stärker ist als in den meisten anderen europäischen Ländern und teilweise fast präsidentiell anmutet. Der Premierminister hat traditionell ganz erheblichen Einfluss auf die Gesetzgebung, dominiert viele Parlamentsdebatten und hat weitgehend freie Hand bei der Regierungsbildung.

So erklärt sich auch, dass ein nur durch das Parlament gewählter Premierminister kaum denkbar ist und schnell im Rahmen von Neuwahlen bestätigt werden muss – was Theresa May jüngst versucht hat.

Verfassungsmäßig ist der Premierminister aber eigentlich nur Teil der „Regierung seiner Majestät“. Es wird also so getan als würde der Monarch die Regierung bilden. Tatsächlich ernennt er aber grundsätzlich den Politiker, der eine Parlamentsmehrheit hinter sich hat. Das letzte Mal, dass der König „seinen“ Prime Minister abgesetzt hat, war sogar schon 1834.

Monarch

Der König war zunächst unumschränkter Herrscher, dessen Macht aber nach und nach zugunsten des Parlaments schwand. Heute ist die Königin in erster Linie eine zeremonielle Figur, die allenfalls absegnet, was Parlament und Regierung beschließen. Ihre Regierungserklärung (Queen’s Speech) wird Wort für Wort von der Regierung vorgegeben.

Gemeinhin werden die Rechte der Königin auf drei Positionen reduziert: To be kept informed, to advise and to warn.

Gerichte

Oberstes Gericht war ursprünglich das House of Lords. Diese rechtsprechende Funktion übten später nur noch die sog. Law Lords, eine Kammer des Oberhauses, aus. Seit 2009 ist an deren Stelle der Supreme Court of the United Kingdom als oberstes Staatsgericht getreten.

Dieser ist dem US Supreme Court nachempfunden, er ist also sowohl Verfassungsgericht als auch höchstes Fachgericht in Zivil- und Strafsachen (abgesehen von schottischen Strafprozessen, die der dortige oberste Gerichtshof entscheidet).

Darunter gibt es verschiedene untergeordnete Instanzgerichte, die Magistrates‘ Courts und County Courts, wobei sich das System zwischen den Landesteilen durchaus unterscheidet. Zwar gilt der Grundsatz „The king can do no wrong“ nicht mehr, eine Verwaltungsgerichtsbarkeit, die behördliches Handeln im deutschen Sinne umfänglich überprüfen kann, ist in Großbritannien weitgehend unbekannt. Es gibt zwar verschiedenen verwaltungsgerichtliche Tribunale, diese behandeln aber meist nur Sondermaterien, z.B. Schulrecht, Gesundheitsrecht oder Patentrecht.

Föderalismus

Traditionell ist Großbritannien, im Gegensatz zu fast allen anderen modernen demokratischen Ländern, ein extrem zentralistischer Staat. In den letzten Jahren sind gewisse Dezentralisierungstendenzen erkennbar. Schottland, Nordirland und Wales haben gewisse Kompetenzen erhalten. Diese ergeben sich aber nicht, wie etwa im deutschen Grundgesetz, aus der Verfassung selbst im Sinne einer Abgrenzung zwischen Ländern und Bund. Vielmehr werden die Zuständigkeiten der Landesteile durch spezifische Einzelgesetze (z.B. Northern Ireland Act, Scotland Acts, Government of Wales Acts, Wales Acts) festgelegt.

Auch das schottische Unabhängigkeitsreferendum musste durch ein Einzelgesetz (Scottish Independence Referendum Act 2013) initiiert werden.

Zusammenfassung

Dies ist nur ein äußerst grober Überblick über das Verfassungssystem Großbritanniens. Es gibt viele Gesetze, die in irgendeiner Form Verfassungsrecht beinhalten und zahllose Konventionen, die als Teil der Verfassung angesehen werden. Schon deswegen ist die Verfassung permanenten Änderungen unterworfen – dies stellt ein völliges Gegenkonzept zu starren, geschriebenen und schwer zu ändernden Verfassungen wie bspw. derjenigen der USA dar.

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