Wird eine Verfassungsbeschwerde eingereicht, muss das Bundesverfassungsgericht über diese entscheiden. Doch längst nicht jede Verfassungsbeschwerde wird vom gesamten Senat aus acht Richtern behandelt, geschweige denn im Wege einer mündlichen Verhandlung. Die allermeisten Verfassungsbeschwerden werden nur durch eine Kammer, also durch drei Richter, entschieden. Dabei wiederum gibt ein Richter (der sogenannte Berichterstatter) den Ton an, die inhaltliche Arbeit macht meist ein wissenschaftlicher Mitarbeiter.
Gibt die Kammer der Verfassungsbeschwerde – wie meist – keine Chance auf Erfolg, wird sie gar nicht erst zur Entscheidung angenommen und unmittelbar abgewiesen. Diese Form der Entscheidung (bzw. Nicht-Entscheidung) bedarf keiner weiteren Begründung.
Die AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag nun den Entwurf eines Sechsten Gesetzes zur Änderung des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes (Gesetz zur Einführung der Begründungspflicht) eingebracht.
Der Inhalt des Gesetzes ist sehr überschaubar. Aus § 93d Abs. 1 Satz 3 BVerfGG
Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf keiner Begründung.
sollen nun die folgenden drei Sätzen werden:
Die Ablehnung der Annahme der Verfassungsbeschwerde bedarf einer Begründung. Es genügt, die für die Nichtannahme im konkreten Sachverhalt wesentlichen Punkte darzulegen. Sie ist zu veröffentlichen.
Ich halte von diesem Gesetz nicht besonders viel. Wenn die Nichtannahme begründet werden müsste, würde sich im Ergebnis nicht viel ändern. Nichtannahme bleibt Nichtannahme, damit ist die Verfassungsbeschwerde erledigt und anfechtbar ist die Entscheidung ja nicht. Zugleich wäre es natürlich manchmal ganz hilfreich, zu erfahren, woran es denn nun gelegen hat.
Es gibt aber im Verfassungsrecht, im Verfassungsprozessrecht und im Recht der Verfassungsbeschwerde ganz andere Baustellen, bei denen man meines Erachtens eher ansetzen müsste.
Martin Eifert, Professor für Öffentliches Recht an der Berliner Humboldt-Universität, lehnt das Vorhaben aber ganz entschieden ab und sieht darin – wie die Süddeutsche Zeitung in der Überschrift zu seinem Gastkommentar verlauten ließ – gar einen Angriff auf den Rechtsstaat. Das wiederum halte ich für eine arge Übertreibung.
Im Einzelnen:
Das Vorgehen der AfD entspricht genau dem Muster populistisch-antiliberaler Strategien.
Dass es liberal sein soll, dass staatliche Organe ihre Entscheidungen nicht begründen müssen, war mir doch recht neu. Es ist auch eher schwer vorstellbar, dass ausgerechnet eine Zeitung wie die Süddeutsche zum Gralshüter des Liberalismus geworden wäre. Aber es ist ja, das darf man nicht vergessen, nur ein Gastkommentar.
Ursprünglich musste das Gericht bei Nichtannahme zwar keine Begründung liefern, sondern nur einen Hinweis auf den maßgeblichen rechtlichen Gesichtspunkt.
Diese Hinweispflicht klingt nun ein wenig wie das, was der Gesetzentwurf als Darlegung der wesentlichen Punkte für die Nichtannahme vorschlägt. Nun wäre es schon interessant, zu wissen, ob Prof. Eifert die alte, immerhin von 1951 bis 1972 geltende Rechtslage als fortgesetzten Angriff auf den Rechtsstaat angesehen hat.
Wenn Begründungen keine Leerformeln sein sollen, kommt ihnen eine über den Einzelfall hinausreichende Bedeutung zu. Sie müssten entsprechend detailliert abgestimmt werden. Der Vorschlag der AfD schwächte also die Arbeitsfähigkeit des Gerichts
Zum einen würde es doch reichen, eine Begründung für den Einzelfall abzugeben. Eine allgemeine Bedeutung muss nicht jede Entscheidung haben.
Zum anderen ist ist es doch so, dass die Nichtannahme bereits begründet ist. Der zuständige wissenschaftliche Mitarbeiter hat sich bereits Gedanken gemacht, warum eine Annahme nicht in Betracht kommt. Diese Einschätzung haben der zuständige Richter und seine beiden Kammerkollegen geteilt. Die tragenden Gründe nun noch in einigen wenigen Sätzen zu Papier zu bringen, sollte keine allzu große Arbeitsbelastung bedeuten.
Die Landesverfassungsgerichte begründen die Ablehnung von Verfassungsbeschwerden nach Landesrecht übrigens in den meisten Fällen, ohne dass die zu juristischen Verwerfungen führt. Es geht hier also alleine um Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht.
Das Bundesverfassungsgericht hat kein Misstrauensproblem. Es genießt seit Jahrzehnten das höchste Vertrauen aller politischen und juristischen Institutionen.
Das liegt aber, so möchte ich behaupten, in erster Linie daran, dass die wenigsten Bürger eine Ahnung von den Realitäten der Verfassungsgerichtsbarkeit haben. „Karlsruhe“ wird in der öffentlichen Meinung als Schutzmacht der Bürger und ihrer Grundrechte wahrgenommen. Dies macht man in erster Linie an einigen überraschenden, medial verbreiteten Entscheidungen.
Tatsächlich sind die meisten Verfassungsbeschwerden (ca. 97 %) erfolglos. Und das Bundesverfassungsgericht war und ist zunehmend großzügig dabei, Rechtfertigungen für die Einschränkung von Grundrechten durch den Staat anzunehmen.
Die Begründung für solche Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind oft schwer erträglich. Insofern ist es vielleicht besser, wenn manches davon gar nicht erst ausgesprochen wird.
Und doch kann man es auch anders sehen: Der Bürger hat das Recht darauf, dass diese allerletzte gerichtliche Instanz ihm wenigstens erläutert, aus welchen Gründen sie ihm die Hilfe verweigert. Das mag man für überflüssig halten. Es aber als antiliberal und als Angriff aus den Rechtsstaat anzusehen, ist kaum nachzuvollziehen.