Das Bundesverfassungsgericht hat sich mit dem Aufkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) für Staatsanleihen europäischer Staaten auseinandergesetzt. In seinem Urteil vom 05.05.2020 (Az. 2 BvR 859/15) hält das BVerfG diese für teilweise rechtswidrig und nur unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig (siehe dazu die Pressemitteilung sowie der Volltext des Urteils).
Dieses Urteil ist nun in der „Süddeutschen Zeitung“ auf heftige Kritik gestoßen. Insbesondere die Tatsache, dass das Bundesverfassungsgericht anderer Ansicht ist als der EuGH, sorgt für Unverständnis.
Der Artikel fasst die Entscheidung dahin gehend zusammen,
dass das von den europäischen Richtern für rechtens erachtete Aufkaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) teilweise gegen das deutsche Grundgesetz verstößt, die Bundesbank darf sich nur unter bestimmten Bedingungen weiter daran beteiligen.
Hieran macht der Autor nun eine erhebliche Zahl einzelner Kritikpunkte fest:
Die Bundesbank hat jetzt drei Monate Zeit, zusammen mit der EZB überprüfen zu lassen, ob die Aufkäufe der Staatsanleihen verhältnismäßig sind. Aber was ist verhältnismäßig?
Die Verhältnismäßigkeit ist ein juristischer Begriff, der in vielerlei Hinsicht vorkommt. Das Bundesverfassungsgericht hat ihn nicht erfunden, um in diesem speziellen Fall die EU zu ärgern.
Verhältnismäßigkeit bedeutet, dass eine Maßnahme ein bestimmtes Ziel erreicht, ohne andere Rechtsgüter über Gebühr zu beschädigen. Was nun noch verhältnismäßig ist und was nicht mehr, lässt sich freilich nicht mathematisch feststellen.
Karlsruhe muss sich allerdings auch eine gewisse Ambivalenz vorwerfen lassen. Einerseits betont Voßkuhle, dass es nicht Aufgabe der EZB sei Wirtschaftspolitik zu betreiben. Andererseits erwähnt er selbst ausdrücklich die wirtschafts- und sozialpolitischen Folgen der EZB-Politik für die deutschen Bürger, die mit null Zinsen leben müssen und steigenden Immobilienpreisen.
Gerade, weil die EZB nicht wirtschaftspolitisch tätig werden darf, müssen die mittelbaren wirtschaftlichen Auswirkungen ihrer Tätigkeit sehr wohl berücksichtigt werden. Das Verbot einer wirtschaftspolitischen Zielrichtung bedeutet ja nicht, dass man bei der Einschätzung der Handlungen der EZB die Wirtschaftspolitik vollständig ausblenden muss oder darf.
Besonders zu kritisieren ist allerdings, dass sich das Bundesverfassungsgericht offenbar nicht mehr seiner Vorbildrolle gegenüber den nationalen Gerichtsbarkeiten in Europa bewusst ist.
Es gibt keine solche Vorbildrolle des Bundesverfassungsgerichts. Weder im Grundgesetz noch im Bundesverfassungsgerichtsgesetz noch im EU-Recht. Und schon gar nicht in den Prozessrechtsordnungen anderer Staaten.
Es ist eine geradezu absurde Vorstellung, dass das BVerfG seine Rechtsprechung daran ausrichten soll, was die Gerichte anderer Staaten daraus machen könnten. Das BVerfG ist an das Grundgesetz gebunden und hat dieses und die deutsche Verfassungsordnung zu wahren. Und ebenso müssen die Verfassungsgerichte anderer Staaten ihre jeweilige Rechtsordnung vor Anmaßungen und Übergriffen durch die EU schützen.
Erstmals haben die Karlsruher Hüter des Grundgesetzes die Rechtsprechung aus Luxemburg angezweifelt.
Das ist kompletter Unsinn. Mehrfach hat das Bundesverfassungsgericht schon die EuGH-Rechtsprechung kritisiert. Es hat in den Solange-Entscheidungen klargestellt, dass die Gerichte der sog. Europäischen Union einer Überprüfung durch die nationalen Verfassungsgerichte unterliegen.
In der EU gilt die Doktrin, dass die Mitgliedsstaaten die „Herren der Verträge“ sind. Die EU erhält ihre Macht nicht aus sich selbst heraus, sondern nur durch bewusste und begrenzte Übertragung durch die Einzelstaaten. Darum ist der EuGH auch kein den nationalen Gerichten übergeordnetes Gericht. Es befindet sich nicht auf einer höheren, sondern auf einer anderen Ebene.
Das macht sie nun zu einem schlechten Vorbild für andere nationale Gerichte – nach dem Motto: Stellen sich die Deutschen gegen die Richter in Luxemburg, können wir das auch.
Und genau so ist es. Bedingungslose Vasallität, Unterordnung und Verleugnung der eigenen Verfassung sind jedenfalls nicht das gute Vorbild, das die Deutschen den anderen EU-Staaten geben sollten.
Das mag den Richtern am Bundesverfassungsgericht gefallen, weil sie daraus eine größere eigene Bedeutung ablesen können.
Woher diese Unterstellung kommt, bleibt wohl ein Geheimnis des Autors. Hätte er sich mit der Rechtsprechung des BVerfG zu EU-Fragen beschäftigt, wüsste er um die zahlreichen Entscheidungen, in denen sich Karlsruhe sehr weit, fast schon zu weit zurückgenommen und seine eigene Bedeutung hintangestellt hat.
Den Richtern nun sinistre, eigennützige Motive zu unterstellen, ist schlicht absurd.
Für Europa aber ist das eine schlechte Nachricht.
Wenn „Europa“ davon lebt, dass die Mitgliedsstaaten all ihre Kontrollrechte aufgeben, dann mag das vielleicht so sein. Gerade dann sollte man auch noch einmal daran erinnern, dass Europa nicht allein die EU ist.