Nicht selten hört man, jemand wäre unter gewissen Umständen bereit, eine bereits erstattete Strafanzeige zurückzunehmen. Oder der Geschädigte will eine Strafanzeige zurücknehmen, weil er (nachdem der erste Zorn verraucht ist) doch nicht möchte, dass der Täter strafrechtlich belangt wird. Heute soll es darum gehen, ob eine solche Zurücknahme einer Strafanzeige (nicht etwa eines Strafantrags) überhaupt möglich ist.
Die erste Erwähnung der Strafanzeige findet sich im Zweiten Abschnitt der Strafprozessordnung (StPO). Gemäß § 158 Abs. 1 kann eine Strafanzeige
bei der Staatsanwaltschaft, den Behörden und Beamten des Polizeidienstes und den Amtsgerichten mündlich oder schriftlich angebracht werden. Die mündliche Anzeige ist zu beurkunden.
Das ist also nur eine Zuständigkeitsnorm, die regelt, welchen Amtsträgern gegenüber die Anzeige erstattet werden muss.
Dieser zweite Abschnitt der StPO ist überschrieben mit „Vorbereitung der öffentlichen Klage“. Man könnte also meinen, dass es immer eine Strafanzeige geben muss, um die öffentliche Klage (also die Anklage) vorzubereiten. § 160 Abs. 1 StPO führt dazu aus:
Sobald die Staatsanwaltschaft durch eine Anzeige oder auf anderem Wege von dem Verdacht einer Straftat Kenntnis erhält, hat sie zu ihrer Entschließung darüber, ob die öffentliche Klage zu erheben ist, den Sachverhalt zu erforschen.
Die Staatsanwaltschaft kann also auch auf anderem Weg einen Verdacht bekommen, die Anzeige ist nur einer von mehreren möglichen Wegen. Sobald sie Kenntnis erhalten hat, muss die Staatsanwaltschaft „den Sachverhalt erforschen“, also in der Sache ermitteln. Diese Verpflichtung, keine mögliche Straftat einfach ignorieren zu können, nennt sich Legalitätsprinzip.
Was passiert nun, wenn eine Strafanzeige „zurückgezogen“ wird? Dann geht also der Anzeigeerstatter zur Staatsanwaltschaft und sagt „Ich nehme meine Anzeige zurück, ich will nicht mehr, dass Sie ermitteln“. Aber in dieser Situation hat die Staatsanwaltschaft ja bereits Kenntnis von einer potentiellen Straftat. Diese Kenntnis kann der Anzeigeerstatter den zuständigen Beamten nicht mehr nehmen. Und aufgrund dieser Kenntnis müssen die Staatsanwälte gemäß dem in § 160 Abs. 1 der Strafprozessordnung verankerten Legalitätsprinzip weiter ermitteln. Man kann sich also nicht einfach die Anzeige „wegdenken“ und dann davon ausgehen, dass die Strafverfolger dann ja keinen Hinweis auf die Straftat hätten.
Es bedeutet nicht einmal eine automatische Verfahrenseinstellung, wenn der Erstatter einer Strafanzeige zugibt, dass er gelogen hat. Ein einfaches „Nein, ich hab gar nicht gesehen, dass er die Zigaretten geklaut hat, das hab ich mir nur ausgedacht“ ist schon einmal nicht notwendigerweise überzeugender als die vorherige belastende Aussage. Die Staatsanwaltschaft muss sich dann immer noch fragen, ob damit die Strafanzeige tatsächlich vollständig entwertet ist oder ob man die Änderung der Aussage als reine Laune auffasst. Und wurden im Laufe des bisherigen Ermittlungsverfahren schon andere Beweismittel gefunden, dann ist diese „Zurücknahme“ der Anzeige praktisch ohne Bedeutung.
Gibt es keine anderen Beweise und geht die Staatsanwaltschaft davon aus, dass die Strafanzeige tatsächlich falsch war, dann kann sich der Anzeigeerstatter sicher sein, dass gegen ihn ein Verfahren wegen falscher Verdächtigung eingeleitet wird. § 164 Abs. 1 StGB sagt:
Wer einen anderen bei einer Behörde oder einem zur Entgegennahme von Anzeigen zuständigen Amtsträger (…) wider besseres Wissen einer rechtswidrigen Tat (…) in der Absicht verdächtigt, ein behördliches Verfahren oder andere behördliche Maßnahmen gegen ihn herbeizuführen oder fortdauern zu lassen, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Wenn man also jemanden anzeigen will, dann sollte man es sich gut überlegen. Man sollte vor allem Tatsachen von Vermutungen trennen und nur das aussagen, was man selbst gesehen hat. Denn eine einmal erstattete Anzeige ist in der Welt; sie kann nicht mehr zurückgenommen werden – aber sie kann sehr wohl nach hinten losgehen.