Das Münchner Oberlandesgericht verhandelt in zweiter Instanz die Klage eines Opfers gegen den jugendlichen Schläger. Das Gericht hat versucht, auf einen Vergleich hinzuwirken und eine Einigung unterhalb der geforderten Summe von 200.000 Euro Schmerzensgeld zu erreichen. Das ist juristisch üblich und richtig. Denn es ist alles andere als sicher, dass der Kläger seine gesamte Forderung realisieren kann – und trotzdem ist es absolut verständlich, dass er keinen Grund für ein Entgegenkommen sieht.
„Was ist ein zertrümmertes Gesicht wert – und was eine Zukunft?“ fragt der Nachrichtensender N24 auf seiner Internetseite. Dabei geht es um einen Berufungsprozess über zivilrechtliche Ansprüche wegen einer Körperverletzung. Ein Geschäftsmann wurde vor mittlerweile sieben Jahren durch einige schweizer Jugendliche, die sich auf Klassenfahrt in München befanden, angegriffen und schwer misshandelt.
Strafrechtlich wurde der Haupttäter zu sieben Jahren Jugendstrafe wegen versuchten Mordes verurteilt und nach Teilverbüßung aus dem Gefängnis entlassen. Zivilrechtlich hat das Landgericht München I in erster Instanz 80.000 von beantragten 200.000 Euro Schmerzensgeld zugesprochen, die Restforderung aber angewiesen. Hiergegen ging das Opfer nun in Berufung.
Schmerzensgeld kann Verletzung nicht aufwiegen
In derartigen Fällen kommt die Juristerei an ihre Grenzen. Es geht hier nicht um nüchtern zu kalkulierenden Schadenersatz wegen materieller Schäden. Wieviel ist es wert, wenn jemand schwer verletzt wurde und vielleicht sein Leben lang unter den Folgen zu leiden hat? Es geht hier – das darf man keinesfalls verwechseln – nicht um Schadenersatz wegen Behandlungskosten oder um Verdienstausfall. Das sind materielle Schäden, deren Höhe meist relativ unstreitig und emotional her unspektakulär ist.
Es geht um Schmerzensgeld. Schmerzensgeld ist keine Entschädigung im wahrsten Sinne des Wortes, denn es wird kein Schaden ausgeglichen – Schmerzen und Verletzungen sind durch alles Geld der Welt nicht aufzuheben. Der Grundgedanke des Schmerzensgeldes ist, dass man durch die Verletzung Lebensfreude eingebüßt hat und nun eine Geldsumme bekommt, um sich später andere Lebensfreude eraufen zu können. Dies ist zwar kein vollständiger Ausgleich, aber in einer Gesamtsaldierung kommt man so vielleicht einigermaßen zu seinem Recht.
Durchsetzbarkeit der Forderung steht nicht im Mittelpunkt
Daneben steht auch ein Genugtuungseffekt. Dafür ist zwar eigentlich das Strafverfahren da, aber dort ist man als Geschädigter nicht Strafverfolger, sondern nur Zeuge, höchstens noch Nebenkläger – falls man sich das antun will. Im Zivilprozess dagegen ist man der Kläger, der das Verfahren einleitet, der es jederzeit beenden könnte und der für sich persönlich ein Urteil erstreitet. Mit dem Urteil, das eine erheblich Schmerzensgeldsumme zuspricht, erhält man schließlich auch eine staatliche Anerkennung für das Unrecht, das einem widerfahren ist.
Wie jedes Gericht ist auch das OLG hier zunächst einmal um eine gütliche Einigung durch Vergleich bemüht. N24 zitiert die Vorsitzende folgendermaßen:
„Was können Sie mit einem höheren Schmerzensgeld durch Urteilsspruch anfangen?“, fragte die Vorsitzende, die 200.000 Euro jedenfalls nach deutschen Maßstäben für überzogen hielt. Falls der Beklagte unterhalb der Pfändungsgrenze bleibe, „bekommen Sie Ihr Leben lang keinen Cent“.
Das ist juristisch gesehen natürlich sehr richtig. Ein Urteil kann ich mir zunächst einmal einrahmen und an die Wand hängen. Es ist eben, wie gerade ausgeführt, mit einem Genugtuungseffekt verbunden. Ob ich den zuerkannten Anspruch jemals vollstrecken kann, ist dagegen eine ganz andere Frage.
Urteil soll Anerkennung sein
Insofern geht der Appell an eine vernünftige Prozessführung hier möglicherweise ins Leere. Der Kläger wird wahrscheinlich (davon kann man aufgrund der Einschätzung des Gerichts und der Rechtsprechungspraxis in ähnlichen Fällen ausgehen) nicht die vollen 200.000 Euro bekommen. Er wird also zu einem Teil unterliegen und damit auch einen entsprechenden Teil der Gerichtskosten zahlen müssen.
Das wird ihm aber möglicherweise ziemlich egal sein. Der Beklagte, dieser brutale Schläger, soll für seine Tat büßen. Er soll dafür (finanziell) richtig bluten. Und das erreicht man eben, indem man eine möglichst hohe Summe fordert und dann schaut, wieviel davon das Gericht zuerkennt. Ob der Gerichtsvollzieher dann tatsächlich die Konten und Preziosen des Täters pfänden kann, steht auf einem anderen Blatt. Aber man hat die Genugtuung, dass dieser Mensch wohl nie wieder mehr als die Pfändungsfreigrenze zur Verfügung hat.
Hier hat sich wieder das Gericht mit rechtlicher Logik eingeschaltet:
Aber wenn der junge Mann hoffen könne, noch jemals „etwas aus seinem Leben zu machen“, werde er einen vernünftigen Vergleich erfüllen, ergänzte einer der beisitzenden Richter.
Auch das ist ganz richtig. Wenn ein Urteil über 200.000 Euro Zahlungspflicht rechtskräftig wird, muss er allein an Zinsen (derzeit um die 5 % p.a.) ca. 10.000 Euro pro Jahr zahlen. Er muss also schon deutlich über dem Existenzminimum verdienen, um diese Schuld irgendwann mal abtragen zu können – und hat erst einmal für Jahrzehnte kaum etwas von seinem Verdienst. Warum sollte er dann also arbeiten?
Opfer hat keinen Anlass für eine Einigung
Bei einer geringeren Forderung bleibt dem Schuldner dagegen die Aussicht, in überschaubarer Zeit wieder schuldenfrei zu sein und ein normales Leben führen zu können. Er kann sich also anstrengen, sich einen vernünftigen Arbeitsplatz suchen und sich wieder eine bürgerliche Existenz aufbauen. Quasi nebenbei kommt der Geschädigte zu seinem Geld. Das ist natürlich eine schöne Vorstellung – aber wie realistisch ist sie? Kann man davon ausgehen, dass ein erheblich Vorbestrafter einen lukrativen Job bekommt? Ist jemand nach vier Jahren Gefängnis motiviert genug, sein Leben neu in die Hand zu nehmen?
Und vor allem: Will der Kläger das überhaupt? Warum sollte er der Person, die ihn fast umgebracht hat, einen Neustart ermöglichen? Was geht ihn dessen Zukunft an? Wägt er kühl seine Chancen ab, dass seine Forderungen beglichen werden? Das ist keine Strafschadenersatzklage, wie wir sie aus dem US-Recht kennen, bei denen sich der Kläger für eine oft banale Schädigung durch eine überhöhte Geldforderung gesundstoßen will.
Es gibt hier keinen Grund, dass das Opfer dem Schläger durch Kulanz entgegenkommt. Die rechtlich gebotenen Abschläge an der Höhe seiner Forderung wird das Gericht vornehmen. Dafür ist es da.