Im Herbstloch und/oder Wahlkampf ist wieder einmal die Debatte aufgetaucht, ob die DDR denn ein Unrechtsstaat war. Zwei sozialistisch orientierte Regierungschefs aus dem Osten haben sich dagegen verwehrt, weil dies angeblich die DDR-Bürger herabsetze.
Nun sind juristische Wertungen glücklicherweise von persönlichen Befindlichkeiten weitgehend frei. Und es stellt sich im Zusammenhang mit dieser Diskussion über Unrechtsstaaten automatisch die Frage: Was ist eigentlich ein Rechtsstaat?
Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 GG
Im Grundgesetz wird gemeinhin Art. 20 Abs. 3 GG als das Rechtsstaatsprinzip bezeichnet:
Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung sind an Gesetz und Recht gebunden.
Dieser statuiert also eine umfassende Bindung an das Recht. Der Gesetzgeber muss die Verfassung beachten, die übrigen Staatsgewalten müssen die Verfassung und die Gesetze beachten. Insoweit ist der Rechtsstaat also ein Staat, der das Recht beachtet, in dem also Recht herrscht.
Da der Staat es aber ist, der das Recht setzt, ist das noch keine besondere Kunst. Viele Diktaturen wären nach dieser Definition ebenfalls Rechtsstaaten, da sie sich ihr Recht einfach so zurechtbiegen können, wie es ihnen passt. Nur müssen sich die Staatsorgane dann an eben dieses Recht halten. Keine Rechtsstaaten sind demnach nur Staaten, sie sich formal eine rechtliche Gestalt geben, in denen Recht und Gesetz aber nur Staffage sind, während tatsächlich die Willkür herrscht.
Darüber hinaus muss man den Rechtsstaat aber als allgemeines Prinzip ansehen, der gerade nicht der Definition durch eine einzelne Verfassung unterliegt. Überhaupt gibt es keinen allgemein anerkannten Kanon von Prinzipien, die den Rechtsstaat ausmachen. Wer sollte auch eine solche Definitionsmacht besitzen?
Formaler Rechtsstaatsbegriff
Was ein Rechtsstaat ist, wird in der Rechtswissenschaft diskutiert. Diese kennt zunächst einen formalen Rechtsstaatsbegriff. Hierzu gehören neben der Bindung an das Recht noch – je nach Ansicht – folgende Punkte:
- eine wenigstens grundlegende Gewaltenteilung (zumindest Unterscheidung zwischen Gerichten und Verwaltungsbehörden)
- die Möglichkeit des gerichtlichen Rechtsschutzes gegen behördliche Entscheidungen
- rechtliches Gehör zur Durchsetzung dieses Rechtsschutzes
Diese „Formalitäten“ stellen sicher, dass der Staat jedenfalls strukturell ein Rechtsstaat ist. Sie ermöglichen es dem Einzelnen, wenigstens für sein eigenes Recht gegen den Staat zu sorgen, indem Institutionen und Klagemöglichkeiten bereitgestellt werden.
DDR genügte dem sicher nicht
Schon nach diesen Kriterien war die DDR übrigens kein Rechtsstaat. Denn es gab keine gesonderte Verwaltungsgerichtsbarkeit, sondern lediglich ein Eingabewesen, über das sich Bürger gegen behördliche Entscheidungen beschweren konnten. In diesem Zusammenhang hatte der Bürger aber keine subjektiven durchsetzbaren Rechte, sondern musste sich darauf verlassen, dass die Verwaltung selbst ihm hilft.
Davon abgesehen hielt sich der Staat auch in vielerlei Hinsicht nicht an das eigene Recht. Plakativstes Beispiel ist das Wahlrecht. Laut Art. 54 der DDR-Verfassung von 1974 sollte die Volkskammer „in freier, allgemeiner, gleicher und geheimer Wahl gewählt werden“. Tatsächlich gab es eine Einheitsliste der „Nationalen Front“, dominiert von der SED und unter Beteiligung anderer Parteien wie – was man dort nicht mehr gar so gern hört – der CDU. Eine Möglichkeit, Alternativlisten aufzustellen, bestand dagegen nicht. Die Wahl war also in keiner Weise frei.
Materieller Rechtsstaatsbegriff
Zur materiellen Rechtsstaatlichkeit werden noch andere, inhaltliche Anforderungen gezählt:
- das Bestehen umfassender Grundrechte
- Eingriffe in Grundrechte nur aufgrund von Gesetzen, nicht durch bloßes Verwaltungshandeln
- Verhältnismäßigkeit beim Eingriff in Grundrechte
- Rechtssicherheit und Rechtsklarheit in der Formulierung von Gesetzen
- Vertrauensschutz und Rückwirkungsverbot
- das Bestehen einer prinzipiellen Haftung für staatliches Unrecht
- Gerechtigkeit als Leitlinie für jede Rechtssetzung
Diese Kriterien werden aber häufig höchst unterschiedlich gehandhabt. Wendet man sie aber sehr stringent an, gibt es insgesamt relativ wenige Rechtsstaaten auf der Welt. Allgemein muss man wohl sagen, dass es das Wesen eines Staates ist, seine Macht ständig zu erweitern und Hinderungsgründe dagegen (die nicht nur mit dem Rechtsstaatsprinzip zu tun haben) möglichst restriktiv auszulegen.
Auch hinsichtlich der Bundesrepublik kann man hier durchaus Bedenken anmelden, was die tatsächliche Wirksamkeit der Grundrechte, die nachvollziehbare Formulierung der Gesetze, den Vertrauensschutz und die Staatshaftung angeht.