Ich gehe in den Supermarkt und kaufe eine Dose Ravioli. So weit, so spannend. Aber wie viele Verträge habe ich da nun geschlossen? Dieser Frage will ich heute auf den Grund gehen.
Zunächst könnte man mal meinen, dass ich hier keinen Vertrag geschlossen habe. Ich hab ja nichts unterschrieben. Das ist definitiv falsch. Ein Vertrag setzt nicht voraus, dass man etwas unterschreibt. Wir alle schließen fast jeden Tag Verträge in mündlicher Form oder auch nur konkludent, also durch schlüssiges Verhalten ohne ausdrückliche Erklärung. Zwar gibt es bestimmte Vertragsarten (z.B. den Verbraucherdarlehensvertrag), die schriftlich geschlossen werden müssen, das ist aber die absolute Ausnahme.
Schuldverhältnis mit Betreten des Supermarkts
Man darf also nicht nur auf schriftliche Unterlagen schauen, sondern muss jeden Schritt dieses Supermarkteinkaufs einzeln auf seinen rechtlichen Gehalt analysieren. Beginnen wir ganz am Anfang:
Wenn ich den Supermarkt betrete, liegt nach ganz herrschender Meinung kein Vertrag vor. Es gibt also keinen Betretungsvertrag oder ähnliches. Das Betreten erfolgt aber gerade, um einen späteren Vertrag, nämlich den Kaufvertrag, zu schließen. Eine derartige Vertragsanbahnung war früher gesetzlich nicht geregelt, wurde aber als das Rechtsinstitut der „culpa in contrahendo“ anerkannt. Demnach sei bereits ein Schuldverhältnis mit Rücksichtnahmepflichten, nicht aber ein Vertrag entstanden. Heute finden wir diese Regelung in § 311 Abs. 2 Nr. BGB:
Ein Schuldverhältnis mit Pflichten nach § 241 Abs. 2 entsteht auch durch die Anbahnung eines Vertrags, bei welcher der eine Teil im Hinblick auf eine etwaige rechtsgeschäftliche Beziehung dem anderen Teil die Möglichkeit zur Einwirkung auf seine Rechte, Rechtsgüter und Interessen gewährt oder ihm diese anvertraut.
Dieser § 241 Abs. 2 wiederum regelt allgemeine Rücksichtnahmepflichten:
Das Schuldverhältnis kann nach seinem Inhalt jeden Teil zur Rücksicht auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des anderen Teils verpflichten.
Auch Dritte sind geschützt
Das bedeutet also, dass ich nicht wie ein Berserker mit dem Einkaufswagen durch die Supermarktgänge fahren darf. Umgekehrt muss der Supermarktbetreiber darauf achten, dass sein Laden einigermaßen sicher ist und ich nicht von einer unsicher gelagerten Palette mit Ketchupflaschen erschlagen werde.
Habe ich übrigens auch noch meine kleine Tochter dabei, die natürlich selbst keinen Vertrag mit dem Supermarkt anbahnen will, ist sie genauso geschützt, da dann ein – gesetzlich nicht festgeschriebenes, aber in der Rechtsprechung anerkanntes – Schuldverhältnis mit Schutzwirkung für Dritte entstanden ist.
Kein Kaufvertragsschluss am Regal
Nun steuere ich aber zielsicher am Ketchup vorbei in Richtung Ravioli. Ich nehme die Raviolidose in die Hand. In diesem Moment ist noch kein Vertrag geschlossen worden. Ein Vertrag kommt immer nur durch Vertragsangebot und Vertragsannahme (§§ 145 und 147 BGB) zustande. Das bloße Anbieten von Ware ist aber kein Angebot, sondern nur eine Aufforderung, der Kunde möge selbst ein Angebot zum Kauf machen („invitatio ad offerendum“). Durch das bloße Herausnehmen der Dose kann ich also noch keinen Vertrag schließen.
Ich stelle jedoch die Dose auf das Kassenband. Dazu muss ich grundsätzlich nichts weiter erklären, denn diese Tätigkeit wird bereits als ausreichende Erklärung verstanden. Es bedeutet also „Sehr geehrte Kassenkraft, hiermit mache ich dem Betreiber des Supermarkts das Angebot, dass ich ihm diese Dose Ravioli zu dem Preis, der am Regal angegeben war, abkaufen möchte.“ Wenn die Kassiererin die Dose dann wortlos über den Scanner zieht, gibt auch sie eine rechtsgeschäftliche Erklärung ab, nämlich: „Geschätzter Kunde, gerne nehme ich stellvertretend im Namen des Supermarktbetreibers Ihr Angebot zum Abschluss des genannten Kaufvertrags an.“
Schuldrecht und Sachenrecht
Jetzt kann man aber noch richtig spitzfindig werden: Denn ich kaufe ja nicht nur die Blechdose, sondern auch und vor allem den Inhalt. Man könnte also durchaus vertreten, dass auch noch ein Kaufvertrag über die Ravioli abgeschlossen wurde. Und wenn man es ganz genau nimmt, sogar ein Kaufvertrag über jedes einzelne Raviolo und über jedes einzelne Molekül der Sauce.
Damit bin ich also endlich Eigentümer der gesamten Dose. Falsch! Denn mit dem Abschluss eines Kaufvertrags geht nach deutschem Recht das Eigentum noch nicht über. Das Abstraktionsprinzip trennt zwischen dem Schuldrecht (Wurde ein Kaufvertrag geschlossen?) und dem Sachenrecht (Wer ist Eigentümer der Dose?).
§ 929 BGB verrät, wie man das Eigentum von jemand anderem bekommt:
Zur Übertragung des Eigentums an einer beweglichen Sache ist erforderlich, dass der Eigentümer die Sache dem Erwerber übergibt und beide darüber einig sind, dass das Eigentum übergehen soll.
Eigentumswechsel als eigener Vertrag
Eigentumserwerb geschieht durch Einigung und Übergabe. Die Übergabe ist hier erfüllt, spätestens, nachdem die Dose die Kasse passiert hat und ich sie wieder an mich genommen habe. Die Einigung darüber stellt einen sachenrechtlichen Vertrag dar und wird gleichzeitig mit dem Abschluss des Kaufvertrags erklärt. Schon allein deswegen, weil der juristisch unverdorbene Normalbürger natürlich keinen Gedanken daran verschwendet, dass er die sachenrechtliche Seite des Geschäfts noch einmal separat abwickeln muss. Er will „den Kauf“ abwickeln, egal was das nun rechtlich alles umfasst.
Wenn übrigens, was gar nicht so selten ist, ein gültiger Kaufvertrag geschlossen worden ist, der Verkäufer aber auf einmal die Sache nicht mehr übereignen will, muss er darauf verklagt werden. Seine Zustimmung zum Übereignungsvertrag wird dann durch das rechtskräftige Urteil ersetzt, § 894 Satz 1 ZPO.
Teilweise wird auch die Erfüllung, also die vertragsgemäße Leistung an den Vertragspartner (§ 362 BGB), als eigener Vertrag verstanden. Diese heute kaum noch vertretene Ansicht geht davon aus, dass sich Gläubiger und Schuldner darauf einigen, dass eine bestimmte Leistung vertragserfüllend ist.
Jetzt geht’s ans Bezahlen
Nun haben wir in aller Länge das Schicksal der Dose durchdiskutiert. Was ist denn nun aber mit der Bezahlung? Geld hinzulegen sollte doch eigentlich ganz einfach sein. Das wäre für das Recht aber wieder allzu simpel.
Wenn ich die Raviolidose (99 Cent) bezahlen will, muss ich entsprechendes Geld übereignen – soviel wird Ihnen jetzt auch schon klar sein. Da es aber keine 99-Cent-Münze gibt, muss ich verschiedene Geldstücke verwenden. Dies sind zum Beispiel 50, 20, 20, 5 und viermal 1 Cent. Sie ahnen es schon, natürlich wird jede Münze einzeln übereignet. Das sind also acht einzelne Verträge. Das es sich – im Gegensatz zum Inhalt der Raviolidose – um lauter getrennte Münzen handelt, ist das hier auch ziemlich klar.
Wenn ich dagegen einen Fünf-Euro-Schein hinlege und spießigerweise Wechselgeld erwarte, streckt sich der Vorgang weiter. Denn auch das Rückgeld wird natürlich einzeln übereignet, nur eben durch den Verkäufer an den Käufer.
Kartenzahlung als Abtretung
Zahle ich dagegen (gemeinhin höhere Beträge als 99 Cent) per EC-Karte, ist das wieder etwas anderes. Ein Bankguthaben kann man nicht durch Übergabe übereignen, da es kein körperlicher Gegenstand ist. Ein Guthaben ist im Grunde nichts anderes als ein Anspruch des Kontoinhabers gegen die Bank auf Auszahlung. Wenn ich nun per Karte zahle und damit eine „Abbuchung“ von meinem Konto zulasse, bedeutet das im Ergebnis, dass die Bank nunmehr ihre Datenverarbeitung so verändert, dass ein Teil des Auszahlungsanspruchs nicht mehr mir, sondern dem Supermarkt zusteht.
Diese Überlassung eines Anspruchs bezeichnet man als Abtretung (§ 398 BGB):
Eine Forderung kann von dem Gläubiger durch Vertrag mit einem anderen auf diesen übertragen werden (Abtretung). Mit dem Abschluss des Vertrags tritt der neue Gläubiger an die Stelle des bisherigen Gläubigers.
Und wir lesen: Das ist wieder ein Vertrag.
Wozu das Ganze?
Nun stellt sich natürlich die Frage, was das alles bringt. Warum macht man es sich so kompliziert?
Tatsächlich macht es diese kleinteilige Betrachtung sehr viel einfacher, solche komplexen Sachverhalte zu erfassen. Man braucht keinen Supermarkt-mit-EC-Karte-Einkaufsvertrag, sondern man kann sich diese Vorgänge aus bekannten Rechtsinstituten zusammensetzen.
Umgekehrt muss man sich nicht groß fragen, was nun passiert, wenn irgendein Teil dieses Sachverhalts aus irgendeinem Grund ungültig ist. Ist also bspw. die Übereignung nichtig, besteht der Kaufvertrag trotzdem weiter und man muss „nur“ seinen vertraglichen Anspruch weiter verfolgen.
Das ist übrigens auch die Kunst des Juristen: Einen Lebenssachverhalt in die Kategorien des Rechts einordnen zu können. Und manchmal muss man dazu eben auch Ravioli einordnen.