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Hinterkaifeck: Die Strafvorschrift zum Inzest (§ 173 StGB)

Der Grabstein für Andreas Gruber, Viktoria Gabriel und die anderen Opfer.
Zum Fall Hinterkaifeck habe ich schon einmal etwas geschrieben. Dabei handelt es sich um einen unaufgeklärten Mordfall aus dem Jahr 1922 – sechs Menschen wurden auf einem oberbayerischen Bauernhof getötet. Als wäre das nicht schon schlimm genug, gibt es noch allerlei düstere Hintergründe rund um diese Vorkommnisse.

Ganz zentral dafür ist das vermutete inzestuöse Verhältnis zwischen zwei der Getöteten, nämlich Andreas Gruber und seiner Tochter Viktoria. Für besondere Verwunderung sorgt dabei, dass es deswegen einen Strafprozess gab, an dessen Ende beide verurteilt wurden und eine Freiheitsstrafe verbüßen mussten. Dass auch das Opfer Viktoria Gruber (verheiratete Gabriel) inhaftiert wurde, wird meist mit Unverständnis aufgenommen.

Wie kann das also sein?

Die Strafnorm zu Inzest lautete nach dem Reichs-Strafgesetzbuch von 1871, das auch in der Weimarer Republik noch ohne größere Änderungen galt:

§ 173

Der Beischlaf zwischen Verwandten auf- und absteigender Linie wird an den ersteren mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren, an den letzteren mit Gefängniß bis zu zwei Jahren bestraft.

Im ursprünglichen StGB war Inzest ein „Sittlichkeitsvergehen“.
Dabei handelte es sich also nicht um ein Missbrauchsdelikt, sondern um ein Moraldelikt. Dieser Abschnitt des StGB wurde daher auch mit „13. Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ überschrieben.

Unter diese Sittlichkeitsdelikt fiel aber auch echter Missbrauch bis hin zu Vergewaltigungen. Eine solche Eingruppierung ist uns heute sehr fremd. Niemand würde Kindesmissbrauch oder sexuelle Nötigung mehr als einfach nur „unsittlich“ bezeichnen. Aus diesem Grund heißt der 13. Abschnitt des StGB jetzt auch „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“.

Der Inzestparagraph im heutigen Strafgesetzbuch.
Dabei ist aber § 173, der weiterhin den Inzest behandelt, nach oben gerutscht: Dieser befindet sich jetzt im zwölften Abschnitt. Die Nummer des Paragraphen ist also die gleiche geblieben, man hat aber die Überschrift versetzt. Die Überschrift dieses zwölften Abschnitts heißt „Straftaten gegen den Personenstand, die Ehe und die Familie“. Von Sexualdelikten ist hier also auf den ersten Blick gar nicht die Rede.

Die in § 173 beschriebene Straftat trägt jetzt den Namen „Beischlaf zwischen Verwandten“. Inhaltlich ist die Norm praktisch noch identisch mit der früheren Fassung, wenngleich sich redaktionell einige Änderungen ergeben haben:

(1) Wer mit einem leiblichen Abkömmling den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Wer mit einem leiblichen Verwandten aufsteigender Linie den Beischlaf vollzieht, wird mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft

Bestraft wurde und wird also nicht, wer einen Verwandten zum Geschlechtsverkehr zwingt. Als strafbar gilt vielmehr, dass man überhaupt sexuelle Beziehungen innerhalb der Familie unterhält. Dies hat zum einen moralische Gründe, zum anderen sollen so Gendefekte beim Nachwuchs verhindert werden. Die Rechtfertigung dafür, einvernehmliche Sexualkontakte zu kriminalisieren wird aber immer wieder diskutiert. Trotzdem bleibt es aktuell dabei, dass die Beteiligten dafür bestraft werden können.

Unterschiede werden aber im Strafmaß gemacht: Die Verwandten der aufsteigenden Linie (also Eltern, Großeltern, theoretisch Urgroßeltern usw.) werden mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft, die der absteigenden Linie (Kinder, Enkel) nur mit Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren. Noch größer war der Unterschied nach der früheren Regelung, bei der für die älteren Verwandten Zuchthaus bis zu fünf Jahren (und von mindestens einem Jahr, das allgemeine Mindestmaß für diese Strafart) und für die jüngeren das „angenehmere“ Gefängnis von einem Tag bis zu zwei Jahren vorgesehen war.

Aus diesem Grunde wurden vor über 100 Jahren sowohl der Vater als auch seine Tochter verurteilt. Denn beide haben sich an dem gemeinsamen Geschlechtsverkehr beteiligt.

Andreas Gruber erhielt ein Jahr Zuchthaus, also die Mindeststrafe. Viktoria Gabriel musste für einen Monat ins Gefängnis, was zwar nicht die Mindeststrafe darstellte, aber innerhalb des Strafrahmens noch relativ weit unten angesiedelt war.

Zu beachten ist auch, dass das Gericht wahrscheinlich – genaueres weiß man mangels erhaltener Akten nicht mehr – ein über mehrere Jahre dauerndes Verhältnis verurteilte. Dabei wurde jedoch nicht jeder einzelne Sex als eigene Tat bestraft, sondern man ging damals noch von einer zusammenhängenden Handlung aus. Die gesamte inzestuöse Beziehung wurde als einmal getroffener Entschluss und damit als Einheit betrachtet. Angesichts dessen erscheinen die Strafen besonders moderat. Dies spricht auch dafür, dass dem Vater zumindest nicht nachweisbar war, Druck auf seine Tochter ausgeübt zu haben, damit sich diese dafür „hergibt“.

Wie würde man diese Geschehnisse nun heute juristisch aufarbeiten?

Grundsätzlich hat sich an der Rechtslage, siehe oben, nichts Wesentliches geändert. Vater und Tochter sind weiterhin wegen Beischlafs zwischen Verwandten gemäß § 173 strafbar.

Trotzdem ist es schwer vorstellbar, dass heute ein Gericht eine junge Frau Mitte 20 deswegen verurteilen würde, weil sie Geschlechtsverkehr mit ihrem Vater hat. Wahrscheinlich würde man hier einen Missbrauchscharakter annehmen, aufgrund dessen sie keine andere Wahl gehabt und deswegen nicht schuldhaft gehandelt habe. Dass eine Frau in diesem Alter aus eigenem Antrieb eine sexuelle Beziehung zu ihrem 57 Jahre alten Vater unterhalten wollte, würde man dagegen – zu einem gewissen Teil freilich unter Zugrundelegung sehr traditioneller Geschlechterrollen – für ausgeschlossen halten.

Im Endeffekt würde sich wohl kein Staatsanwalt finden, der die Tochter hier anklagen und sich den Protesten der Öffentlichkeit inkl. „Shitstorm“ aussetzen würde.

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