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    Categories: Strafrecht

Festnahme durch Fesseln an einen Baum?

In Arnsdorf (Sachsen) sollen mehrere Männer eine andere Person an einen Baum vor einem Supermarkt gefesselt haben. Die genauen Geschehnisse und die Hintergründe sind noch immer ziemlich unklar – ein im Internet kursierendes Video von den Vorfällen hat einen eher geringen Informationswert. Ob er etwas gestohlen hat, die Angestellten eines Supermarkts bedroht oder sich nur über eine defekte Telefonkarte beschwert hat, wird sehr unterschiedlich berichtet. Hier einige Antworten zu den Fragen, die dieses Vorkommnis abstrakt aufgeworfen hat – zum konkreten Fall lässt sich freilich derzeit noch kaum etwas sagen.

Darf man einen Ladendieb in Notwehr festnehmen?

Nein, mit Notwehr (§ 32 StGB) hat das nicht viel zu tun. Notwehr ist die Verteidigung gegen einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff. Die Notwehr erlaubt es also, dem Dieb die gestohlene Sache wegzunehmen, ein Festhalten wäre also nur zu diesem Zweck erlaubt. Das Fesseln eines Diebes beendet dagegen den Angriff auf das fremde Eigentum nicht, ist also schon keine geeignete Abwehrmaßnahme.

An Notstand (§ 34 StGB) könnte man denken, wenn eine Person eine andere bedroht und man sie deshalb so fixiert, dass sie ihre Drohung nicht ausführen kann. Das könnte dann – wie das Gesetz es verlangt – ein angemessenes, verhältnismäßiges Mittel sein, um eine Gesundheitsgefahr vom Bedrohten abzuwenden. Ob das hier wirklich so war, ist aber äußerst zweifelhaft.

Denkbar wäre noch eine Festnahme aufgrund des zivilrechtlichen Selbsthilferechts (§ 229 BGB). Das steht jedem zu, der die Durchsetzbarkeit eines eigenen Anspruchs sichern will. Dies setzt aber voraus, dass man selbst der Geschädigte ist, einem Dritten darf man dabei nicht zu Hilfe kommen. Wenn ohnehin eine Straftat im Raum steht, dürfte es selten notwendig sein, auf § 229 BGB auszuweichen, da § 127 Abs. 1 StPO einen weiteren Anwendungsbereich hat und zum gleichen Ziel führt.

Was ist das Jedermanns-Festnahmerecht?

Das Festnahmerecht aus § 127 Abs. 1 StPO, auch als Jedermannsrecht bezeichnet, erlaubt es „jedermann“, einen Tatverdächtigen festzunehmen, wenn dessen Identität nicht festgestellt werden kann oder anzunehmen ist, dass er fliehen wird. Das Recht besteht also nur dann nicht, wenn der Verdächtige bereitwillig seine Personalien angibt, sich ausweist und offensichtlich ist, dass er auf das Eintreffen der Polizei warten wird.

„Jedermann“ bedeutet insbesondere auch, dass der Festnehmende selbst nicht der Geschädigte der Straftat sein muss und es auch nicht notwendig ist, dass der Geschädigte die Festnahme beauftragt oder duldet.

Ist das keine Selbstjustiz?

Ja und nein. Natürlich ist es Selbstjustiz im eigentlichen Sinne, weil ein Bürger selbst eine Kernaufgabe von Polizei und Justiz wahrnimmt, nämlich die Festnahme einer anderen Person. Andererseits stellt das Gesetz in § 127 StPO diese Festnahmemöglichkeiten auf eine Stufe, indem es in Abs. 1 das Jedermannsrecht, in Abs. 2 und 4 polizeiliche/staatsanwaltschaftliche Festnahmen und in Abs. 3 private, polizeiliche und staatsanwaltschaftliche Festnahmen gemeinsam regelt. Die private Festnahme ist also in keiner Weise moralisch verwerflicher als diejenige durch Staatsorgane. Wenn man dies trotzdem als Selbstjustiz ansieht, dann ist es jedenfalls eine erlaubte Selbstjustiz.

Aber Freiheitsberaubung ist doch strafbar.

Ja, allerdings – wie im gesamten Strafrecht – nur die rechtswidrige Freiheitsberaubung. § 127 Abs. 1 StPO legalisiert die Handlung, damit ist die Freiheitsberaubung gerechtfertigt, folglich nicht rechtswidrig und somit nicht strafbar.

Wie lange darf die Festnahme dauern?

Ziel des privaten Festnahmerechts ist die Einschaltung der Strafverfolgungsbehörden. Sie darf also nur so lange dauern, wie es notwendig ist, um den Täter der Polizei zu übergeben. Der Festnehmende muss sofort nach der Festnahme die Polizei rufen und den Festgenommenen bei deren Eintreffen wieder „freigeben“, also bspw. den Polizisten unverzüglich den Zugang zum Festgenommenen gewähren.

Ist das Fesseln an einen Baum denn noch eine „Festnahme“?

Das wird hier die entscheidende Frage sein.

Unter „Festnahme“ verstehen die meisten Menschen wohl die Situation, dass die Handschellen klicken und man ins Polizeiauto verfrachtet wird. Tatsächlich ist damit nur eine Verhinderung der Fortbewegung gemeint. Wie genau diese zu geschehen hat, regelt § 127 Abs. 1 nicht.

Unstreitig zulässig (und vom Gesetz wohl als Regelfall angesehen) ist das bloße Festhalten des Betroffenen. Ebenso darf man ihn bspw. im Büro des Filialleiters einsperren. Auch indirekte Einwirkungen auf die Fortbewegungsfreiheit wie das Versperren eines Wegs oder das Wegnehmen der Autoschlüssel sind gedeckt. Umschubsen, Anspringen und Fesseln sind prinzipiell zulässig, insoweit sind auch leichte Körperverletzungen gerechtfertigt. Nicht mehr unter § 127 Abs. 1 fallen dagegen ernste Angriffe wie Schüsse auf den Körper (bloße Warnschüsse sind allerdings erlaubt) oder Schläge mit schweren Gegenständen.

Demnach ist ein Fesseln auch an einen Baum zwar prinzipiell denkbar und von der Wirkung her nicht so weit von den anderen Optionen entfernt. Es stellt sich aber die Frage, ob das nun wirklich noch eine Festnahme im Sinne der StPO war. Wenn dieses Vorgehen weniger dem Festhalten zur Identitätsfeststellung, sondern vielmehr dem Zurschaustellen eines angeblichen Täters diente, dann war es wohl zumindest nicht mehr angemessen. Ob man den Betroffenen in anderer Weise ebenso effektiv hätte festhalten können, lässt sich ohne nähere Kenntnisse nicht beurteilen.

Was ist, wenn tatsächlich keine Straftat durch den Festgenommenen vorlag?

Das ist ein alter Streit, der vor allem im Studium gerne rauf und runter diskutiert wird.

Teilweise wird hier vertreten, dass ein bloßer Tatverdacht reicht, weil die gesamte StPO darauf zugeschnitten ist, dass erst einmal nur aufgrund von Verdachtsmomenten ermittelt wird und die tatsächliche Strafbarkeit erst vom Gericht feststellt wird. Damit wäre eine Festnahme aufgrund Verdachts rechtmäßig und der Festgenommene dürfte sich nicht einmal wehren.

Die Rechtsprechung sieht es so, dass nur eine wirklich begangene Tat die Rechtfertigung nach § 127 Abs. 1 StPO auslöst. Wer irrtümlich eine Straftat vermutet, unterliegt einem Erlaubnistatbestandsirrtum, was dazu führt, dass – ganz verkürzt gesagt, auch diese Frage ist hoch umstritten – seine Vorsatzschuld entfällt. Er kann dann nur wegen fahrlässiger Begehung verurteilt werden, eine fahrlässige Freiheitsberaubung ist aber nicht strafbar.

Wenn die Festnehmenden hier also wirklich der Meinung waren, dass sie einem Straftäter gegenüber standen, sind sie grundsätzlich vom Anwendungsbereich des § 127 Abs. 1 StPO umfasst. Wenn sie dies dagegen nur vorgeschoben haben, dann sicher nicht.

Wie sollte man sich selbst verhalten, wenn man einen vermeintlichen Straftäter vor sich sieht?

Hier sollte man große Vorsicht walten lassen. Im Gegensatz zur Notwehr, bei der man Schlimmeres verhütet, geht es hier ja „nur“ um das Strafverfolgungsinteresse. Dabei ist man nicht zum Einschreiten verpflichtet, auch nicht aus dem Gesichtspunkt einer unterlassenen Hilfeleistung (§ 323c StGB). Ob es einem das wert ist, in eine körperliche Konfrontation mit einem anderen zu gehen, von dem man nicht weiß, wie kräftig und womit er bewaffnet ist, muss man selbst wissen.

Juristisch mag § 127 Abs. 1 StPO zwar oft erfüllt sein, das Risiko einer Falschbewertung besteht aber immer. Es kann also durchaus sein, dass man sich strafbar macht. Auch leichteste Verletzungen wie ein robustes Festhalten des Täters werden regelmäßig zu einem Ermittlungsverfahren (und sei es nur wegen fahrlässiger Körperverletzung) führen. Von rechtswissenschaftlich ganz interessanten Experimenten wie dem Fesseln an einen Baum kann man sowieso nur dringend abraten.

Wie wird die Justiz über den Fall Arnstorf entscheiden?

Das weiß niemand.

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