Die nachträgliche Gesamtstrafe (II)

Fortsetzung zu: Die nachträgliche Gesamtstrafe (I)

Schwer erträglich sind aber auch die Rahmenbedingungen für die Bildung der Gesamtstrafe. Dass die Zahl der Tagessätze der Gesamtstrafe die höchste Einzelstrafe überschreiten muss, haben wir bereits festgestellt. Nach der Rechtsprechung muss aber auch die Summe der Einsatzstrafe erhöht werden. Und dies kann zu Problemen führen, wenn sich das Einkommen des Angeklagten verändert.

Beispiel:

(Zum besseren Verständnis sollte zunächst der Artikel über die Festsetzung einer Geldstrafe nach deutschem Strafrecht gelesen werden, ansonsten sind die Überlegungen bzgl. der Tagessätze und ihrer Berechnung möglicherweise schwer verständlich.)

Jemand wird zunächst zu 80 Tagessätzen zu je 45 Euro verurteilt. Danach bekommt er in einem weiteren Verfahren 60 Tagessätze zu je 20 Euro, weil er mittlerweile weniger verdient. Das Gericht stellt fest, dass die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vorliegen. Weil er jetzt wieder etwas mehr verdient, liegt der Tagessatz nun bei 30 Euro. Normalerweise würde das Gericht also aus 80 und 60 Tagessätzen 110 machen, das sind dann, multipliziert mit 30 Euro, 3300 Euro Geldstrafe. Jetzt stellt sich das Problem, dass das weniger ist als die 80×45=3600 Euro der ersten Verurteilung. Und das darf laut BGH nicht sein.

Was kann das Gericht nun machen? Entweder es erhöht die Höhe des Tagessatzes. Das widerspricht aber dem Sinn des Tagessatzes und damit dem Gesetz (§ 40 Abs. 2 StGB). Also muss die Mindestsumme (wir brauchen mehr als 3600 Euro) über die Anzahl der Tagessätze erreicht werden. Es müssen also mindestens 11 weitere Tagessätze zur Gesamtstrafe addiert werden, denn 121×30 ergibt 3630 Euro und damit zumindest etwas mehr als die Einsatzstrafe.

Wir erinnern uns: Die Anzahl der Tagessätze sagt etwas über die Schwere der Straftat(en) aus, nicht die Gesamtsumme der Geldstrafe. Die Gesamtsumme ist nur das Ergebnis aus Tatschwere und Einkommen des Täters. Hier wird aber von der Rechtsprechung vorgegeben, dass ein bestimmtes Ergebnis herauskommen muss. Es wird also aus mathematischen Gründen eine Tatschwere fingiert, die gar nicht vorliegt. Das Gericht muss hier 11 weitere Tagessätze festlegen, die der Täter eigentlich gar nicht verdient hat. Das ist aberwitzig.

Ein weiteres, noch aberwitzigeres Beispiel:

Jemand wird zunächst zu 80 Tagessätzen zu je 45 Euro verurteilt. Danach bekommt er in einem weiteren Verfahren 60 Tagessätze zu je 20 Euro, weil er mittlerweile weniger verdient. Das Gericht stellt fest, dass die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vorliegen. Weil sich seine finanziellen Verhältnisse nicht gebessert haben, liegt der Tagessatz immer noch bei 20 Euro.

Bisher betrugen die Geldstrafen 140 Tagessätze, teils zu 45 und teils zu 20 Euro. Nun muss eine Geldstrafe mit weniger als 140 Tagessätzen, alle zu 20 Euro, gebildet werden, die höher ist als die bisher höhere Strafe. Das ist mathematisch gar nicht möglich, da das Maximum von 139 Tagessätzen á 20 Euro nur 2780 Euro beträgt, also weniger als die bisher höhere Strafe. Das Gericht muss dann also doch wieder den Tagessatz anheben.

Wie könnte man das Dilemma nun lösen?

Die erste Variante würde nur auf die Summen abstellen und eine Mittelstrafe aus diesen bilden: Im Beispiel müsste also eine Gesamtstrafe zwischen 3600 und 4800 Euro festgelegt werden. Hier bietet sich eine Summe „in der Mitte“ an, also nehmen wir einmal 4200 Euro. Parallel dazu müsste man auch die Zahl der Tagessätze dergestalt ausurteilen, also landet man bei 110. Aus diesen beiden Daten kann man dann die Höhe des Tagessatzes ausrechnen, also 4200 geteilt durch 110 = ca. 38 Euro. (Damit verlässt man zwar die Linie der allgemeinen Strafzumessung, befindet sich aber auf einer Linie mit dem BGH.)

Mit diesem Ergebnis liegt sowohl die Summe als auch die Zahl der Tagessätze im üblichen Rahmen. Und die Höhe der Tagessätze würde damit auch gemittelt. Das entspricht zwar nicht den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters zum Zeitpunkt der neuen Entscheidung, aber es berücksichtigt die Tatsache, dass er ja (zum Zeitpunkt der ersten Entscheidung) mehr verdient hat als jetzt und sich damit auch eine höhere Geldstrafe „leisten“ konnte.

Die Alternative wäre freilich, das Summenerfordernis fallenzulassen. Dann kann die Gesamtstrafe geringer sein als die höhere Einzelstrafe. Das mag zwar dem Rechtsempfinden so manchen Bürgers widersprechen, wäre aber systematischer. Und man muss auch keine Angst haben, dass damit so mancher sich durch eine neue Straftat eine geringere Strafe „ergaunert“. Denn die neue Straftat müsste er vor Rechtskraft der alten begangen haben. Also zu einem Zeitpunkt, wo er eine Verschlechterung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse noch vor Gericht geltend machen könnte.

Die nachträgliche Gesamtstrafe (I)

Über Sinn, Berechnung und Verhängung der Gesamtstrafe haben wir bereits geschrieben. Diese kommt zur Anwendung, wenn mehrere Straftaten desselben Angeklagten vor demselben Gericht verhandelt werden. Daneben gibt es aber noch die Möglichkeit der nachträglichen Gesamtstrafe, § 55 StGB. Diese ist zwar sehr viel seltener, wirft aber ganz eigene Probleme auf.

§ 55 StGB sagt:

Die [Vorschriften über die Bildung der Gesamtstrafe] sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat.

Es geht also um die Situation, dass mehrere Straftaten zusammentreffen, die eigentlich in einem Verfahren und damit mit einer Gesamtstrafe hätten abgeurteilt werden müssen. Dies ist aber nicht geschehen – warum auch immer; häufig wohl deswegen, weil das Gericht nicht wusste, dass noch ein anderes Verfahren anhängig ist, oder, weil die Straftat noch nicht einmal entdeckt war. Allein dieser Aspekt macht das Urteil, das wegen „nur“ eines Teils der Taten erfolgt ist, aber keineswegs ungültig.

Vielmehr versucht man, die Situation herzustellen, die bei Berücksichtigung aller Straftaten erfolgt wäre. Daher wird eine sogenannte nachträgliche Gesamtstrafe gebildet. Der Verurteilte soll also weder besser noch schlechter dastehen als wenn er „im normalen Verfahren“ verurteilt worden wäre.

Prozessual erfolgt dies durch Beschluss des zuständigen Gerichts ohne mündliche Verhandlung, § 462 Abs. 1 Satz 1. Der Verurteilte hat ein Recht darauf, angehört zu werden (schriftlich oder auf Anordnung des Gerichts auch mündlich), mehr aber auch nicht. Ein Austausch von Argumenten wie in der Hauptverhandlung findet nicht statt. Dies ist schon deswegen ungewöhnlich, weil der Grundsatz der mündlichen Verhandlung ein eherner Pfeiler des Strafrechts ist und davon nur abgewichen werden kann, wenn der Angeklagte zumindest schlüssig zustimmt, z.B. durch Verlassen der Hauptverhandlung oder durch Annahme eines Strafbefehls. Dass er hier zwingend auf den Beschlussweg verwiesen wird, ist nicht unproblematisch.

Die Sache wird dadurch etwas abgemildert, dass es ja bereits mindestens zwei in ordentlicher Verhandlung gefällte Urteile gibt, gegen die er alle für ihn sprechenden Gesichtspunkte einwenden konnte. Auch wird die Gesamtstrafe zwangsläufig niedriger als die Einzelstrafen, sodass der Verurteilte davon in jedem Fall profitiert. Trotzdem ist die Höhe der Gesamtstrafe ein rechtlicher Gesichtspunkt, zudem der Verurteilte auch entsprechendes Gehör verdient hätte.

Schwer erträglich sind aber auch die Rahmenbedingungen für die Bildung der Gesamtstrafe. Dass die Zahl der Tagessätze der Gesamtstrafe die höchste Einzelstrafe überschreiten muss, haben wir bereits festgestellt. Nach der Rechtsprechung muss aber auch die Summe der Einsatzstrafe erhöht werden. Und dies kann zu Problemen führen, wenn sich das Einkommen des Angeklagten verändert.

Gesamtstrafe

(Zum Verständnis der folgenden Ausführungen bietet es sich an, zunächst den Artikel über die Geldstrafe im StGB zu lesen.)

§ 53 Abs. 1 StGB:

Hat jemand mehrere Straftaten begangen, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verwirkt, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt.

§ 54 Abs. 1 Satz 2 StGB:

Die Gesamtstrafe [wird] durch Erhöhung der verwirkten höchsten Strafe (…) gebildet.

§ 54 Abs. 2 Satz 1 StGB:

Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen.

Alles klar? An sich ist das Gesetz hier schon relativ gut verständlich. Wie immer wird aber einerseits eine gewisse Kenntnis vorausgesetzt und andererseits muss man gewisse Üblichkeiten der Praxis kennen.

Grundvoraussetzung ist, dass mehrere Einzelstraftaten vorliegen, die in derselben Verhandlung beurteilt werden sollen. Der Angeklagte hat also durch verschiedene Handlungen zwei Diebstähle, eine Körperverletzung und eine Sachbeschädigung begangen. Das nennt man Tatmehrheit und führt eben zu einer Gesamtstrafe. Anders wäre es, wenn jemand einem anderen ein Messer in den Arm gerammt und dabei auch noch das Hemd des Opfers beschädigt hätte; dann liegt nur eine Straftat (Tateinheit gemäß § 52 StGB) vor, die auch nur eine Strafe (aus dem Strafrahmen des schwereren Delikts, hier gefährliche Körperverletzung nach § 224 StGB) nach sich zieht.

Für die ganzen Einzelstraftaten wird nun zunächst jeweils eine Strafe verhängt. Nehmen wir, dass für die beiden Diebstähle jeweils 40 Tagessätze, für die Körperverletzung 60 Tagessätze und für die Sachbeschädigung 20 Tagessätze Geldstrafe vom Gericht festgesetzt wurden. Die „verwirkte höchste Strafe“ (auch „Einsatzstrafe“ genannt) sind also die 60 Tagessätze. Und diese müssen nun zu einer Gesamtgeldstrafe erhöht werden, um das Unrecht der anderen Straftaten ebenfalls zu sühnen.

Wie weit darf das Gericht die Strafe nun erhöhen? Das steht im Gesetz, nämlich nicht bis zur Summe der Einzelstrafe, hier also 40+40+60+20=160 Tagessätze. Das Maximum sind also 159 Tagessätze. Das Minimum sind 61 Tagessätze, auch, wenn dies nicht so deutlich im Gesetz steht. Aber die Rechtsprechung geht davon aus, dass es keine „Erhöhung um null“ gibt, also in jedem Fall wenigstens ein Tagessatz mehr herauskommen muss als die höchste Einzelstrafe.

Das Gericht muss also „die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend“ würdigen (§ 54 Abs. 1 Satz 3 StGB) und sich dann auf einen Wert zwischen 61 und 159 festlegen.

Wenn es nur um zwei Straftaten geht, ist die Berechnung meistens ziemlich leicht: Man zählt zur höheren Strafe die Hälfte der niedrigeren hinzu und kommt so auf die Gesamtstrafe. 80 plus 60 Tagessätze ergeben 110, drei Jahre und zwei Jahre werden zu vier Jahren Gefängnis, acht Monate und vier Monate zu zehn. Geht es um mehr als zwei Taten, werden die weiteren Strafen mit absteigender Tendenz berücksichtigt. Im vorliegenden Beispiel werden wir also wohl in der Gegend von 90 bis 100 Tagessätzen landen. Eine feste Formel gibt es übrigens nicht und ein Richter darf in ein Urteil auch nichts davon hineinschreiben, dass er die weiteren Strafen in Bruchteilen hat einfließen lassen. Denn eine formelhafte Berechnung würde laut Rechtsprechung gegen das Gesetz verstoßen. Aber selbstverständlich werden solche Überlegungen – zumindest außerhalb des Urteilstextes – angestellt.

Zum Schluss stellt sich noch die Frage, warum es überhaupt eine Gesamtstrafe gibt. Schließlich wird die Gesamtsumme der einzelnen Strafen zwangsläufig (oft sogar ganz erheblich) gesenkt. Und jemand, der 1994 eine Körperverletzung, 1997 einen Diebstahl, 2001 eine Sachbeschädigung und 2008 noch einen Diebstahl begangen hat, hätte alle vier Einzelstrafen separat bezahlen müssen, also die vollen 160 Tagessätze.

Rechtspolitisch wird die Gesamtstrafe vor allem dadurch gerechtfertigt, dass der Täter noch nicht durch vorhergehende Verurteilungen gewarnt wurde und dadurch von seinem Tun ablassen konnte. Wer beispielsweise über Jahre hinweg kleine Betrügereien zulasten seines Arbeitgebers begangen hat, hörte eben nicht auf, solange alles „gut ging“. Das ist zwar immer noch illegal, strafbar und straferhöhend, aber in irgendeiner Form auch ein menschlicher Zug. Daher trifft den Täter hier nicht die volle Härte des Gesetzes.

Zum anderen muss man auch berücksichtigen, dass das deutsche Recht doch relativ schnell in Strafhöhen gelangt, die multipliziert geradezu erschlagend wären. Bei einem Betrug wird häufig ab einer Schadenshöhe von 5.000 Euro bereits eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung verhängt. Wer also bspw. 25 Anleger um jeweils 6.000 Euro geprellt hat, müsste bei einer reinen Addition der Strafen mit ungefähr 12 bis 14 Jahren Gefängnis rechnen. Auch, wenn ein Betrug um 150.000 Euro natürlich nach einer empfindlichen Sanktion ruft, wäre das eine härtere Strafe als bei so manchem Tötungsdelikt und eine viel härtere Strafe als für die meisten Schwerverbrechen.

Die Gesamtstrafenbildung ist freilich nicht immer widerspruchsfrei und nicht zwangsläufig gerecht, aber sie ermöglicht eine angemessene Reaktion auf eine größere Zahl von Straftaten.

Übrigens kann die Gesamtstrafe auch nachträglich verhängt werden.