Das deutsche Sexualstrafrecht blickt auf eine bewegte Geschichte zurück. Allein die ursprüngliche Überschrift des 13. StGB-Abschnitts „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ zeigt eine völlig andere Schwerpunktsetzung als die heutige Schutzrichtung der „sexuellen Selbstbestimmung“. Hinzu kommt, vor allem in den letzten Jahren, der Versuch, möglichst jede Handlung zu kriminalisiere, die in irgendeiner Form als „Missbrauch“ empfunden wird. Das Ergebnis dieser permanenten gesetzgeberischen Arbeit zur Umgestaltung und Erweiterung hat ein riesiges, unsystematisches Geflecht von Forderungen hervorgebracht. „Der Entwurf des Juristinnenbunds zum Sexualstrafrecht“ weiterlesen
Tag: Strafgesetzbuch
Die Einlassung des Angeklagten als Strafzumessungskriterium
Die Gretchenfrage des Strafprozesses war lange Zeit „Darf der Angeklagte lügen?“. Die Betonung liegt auf „war“, denn heute ist im Wesentlichen Ruhe in die Diskussion eingekehrt, wenngleich sie noch nicht wirklich beendet ist. Klar ist aber, dass es keine Norm gibt, die es dem Angeklagten verbieten würde, zu lügen. Die Strafvorschriften gegen Falschaussage (§ 153 StGB) und Meineid (§ 154 StGB) gelten nur für Zeugen und Sachverständige und eine Vorschrift wie § 138 Abs. 1 ZPO, die die Wahrheitspflicht der Parteien im Zivilprozess festlegt, gibt es in der Strafprozessordnung nicht.
Der Angeklagte kann sich also grundsätzlich keine neuen juristischen Probleme einhandeln, wenn er im Prozess gegen ihn selbst lügt. Das Lügen könnte aber eventuell ein Strafschärfungsgrund sein. „Die Einlassung des Angeklagten als Strafzumessungskriterium“ weiterlesen
Historische Gesetzestexte
Immer wieder interessant, Gesetze in ihrer ursprünglichen Form zu lesen und mit der heutigen Fassung zu vergleichen:
Strafprozessordnung (StPO, 1877)
Bürgerliches Gesetzbuch (BGB, 1900)
Gesamtstrafe
(Zum Verständnis der folgenden Ausführungen bietet es sich an, zunächst den Artikel über die Geldstrafe im StGB zu lesen.)
§ 53 Abs. 1 StGB:
Hat jemand mehrere Straftaten begangen, die gleichzeitig abgeurteilt werden, und dadurch mehrere Freiheitsstrafen oder mehrere Geldstrafen verwirkt, so wird auf eine Gesamtstrafe erkannt.
§ 54 Abs. 1 Satz 2 StGB:
Die Gesamtstrafe [wird] durch Erhöhung der verwirkten höchsten Strafe (…) gebildet.
§ 54 Abs. 2 Satz 1 StGB:
Die Gesamtstrafe darf die Summe der Einzelstrafen nicht erreichen.
Alles klar? An sich ist das Gesetz hier schon relativ gut verständlich. Wie immer wird aber einerseits eine gewisse Kenntnis vorausgesetzt und andererseits muss man gewisse Üblichkeiten der Praxis kennen.
Grundvoraussetzung ist, dass mehrere Einzelstraftaten vorliegen, die in derselben Verhandlung beurteilt werden sollen. Der Angeklagte hat also durch verschiedene Handlungen zwei Diebstähle, eine Körperverletzung und eine Sachbeschädigung begangen. Das nennt man Tatmehrheit und führt eben zu einer Gesamtstrafe. Anders wäre es, wenn jemand einem anderen ein Messer in den Arm gerammt und dabei auch noch das Hemd des Opfers beschädigt hätte; dann liegt nur eine Straftat (Tateinheit gemäß § 52 StGB) vor, die auch nur eine Strafe (aus dem Strafrahmen des schwereren Delikts, hier gefährliche Körperverletzung nach § 224 StGB) nach sich zieht.
Für die ganzen Einzelstraftaten wird nun zunächst jeweils eine Strafe verhängt. Nehmen wir, dass für die beiden Diebstähle jeweils 40 Tagessätze, für die Körperverletzung 60 Tagessätze und für die Sachbeschädigung 20 Tagessätze Geldstrafe vom Gericht festgesetzt wurden. Die „verwirkte höchste Strafe“ (auch „Einsatzstrafe“ genannt) sind also die 60 Tagessätze. Und diese müssen nun zu einer Gesamtgeldstrafe erhöht werden, um das Unrecht der anderen Straftaten ebenfalls zu sühnen.
Wie weit darf das Gericht die Strafe nun erhöhen? Das steht im Gesetz, nämlich nicht bis zur Summe der Einzelstrafe, hier also 40+40+60+20=160 Tagessätze. Das Maximum sind also 159 Tagessätze. Das Minimum sind 61 Tagessätze, auch, wenn dies nicht so deutlich im Gesetz steht. Aber die Rechtsprechung geht davon aus, dass es keine „Erhöhung um null“ gibt, also in jedem Fall wenigstens ein Tagessatz mehr herauskommen muss als die höchste Einzelstrafe.
Das Gericht muss also „die Person des Täters und die einzelnen Straftaten zusammenfassend“ würdigen (§ 54 Abs. 1 Satz 3 StGB) und sich dann auf einen Wert zwischen 61 und 159 festlegen.
Wenn es nur um zwei Straftaten geht, ist die Berechnung meistens ziemlich leicht: Man zählt zur höheren Strafe die Hälfte der niedrigeren hinzu und kommt so auf die Gesamtstrafe. 80 plus 60 Tagessätze ergeben 110, drei Jahre und zwei Jahre werden zu vier Jahren Gefängnis, acht Monate und vier Monate zu zehn. Geht es um mehr als zwei Taten, werden die weiteren Strafen mit absteigender Tendenz berücksichtigt. Im vorliegenden Beispiel werden wir also wohl in der Gegend von 90 bis 100 Tagessätzen landen. Eine feste Formel gibt es übrigens nicht und ein Richter darf in ein Urteil auch nichts davon hineinschreiben, dass er die weiteren Strafen in Bruchteilen hat einfließen lassen. Denn eine formelhafte Berechnung würde laut Rechtsprechung gegen das Gesetz verstoßen. Aber selbstverständlich werden solche Überlegungen – zumindest außerhalb des Urteilstextes – angestellt.
Zum Schluss stellt sich noch die Frage, warum es überhaupt eine Gesamtstrafe gibt. Schließlich wird die Gesamtsumme der einzelnen Strafen zwangsläufig (oft sogar ganz erheblich) gesenkt. Und jemand, der 1994 eine Körperverletzung, 1997 einen Diebstahl, 2001 eine Sachbeschädigung und 2008 noch einen Diebstahl begangen hat, hätte alle vier Einzelstrafen separat bezahlen müssen, also die vollen 160 Tagessätze.
Rechtspolitisch wird die Gesamtstrafe vor allem dadurch gerechtfertigt, dass der Täter noch nicht durch vorhergehende Verurteilungen gewarnt wurde und dadurch von seinem Tun ablassen konnte. Wer beispielsweise über Jahre hinweg kleine Betrügereien zulasten seines Arbeitgebers begangen hat, hörte eben nicht auf, solange alles „gut ging“. Das ist zwar immer noch illegal, strafbar und straferhöhend, aber in irgendeiner Form auch ein menschlicher Zug. Daher trifft den Täter hier nicht die volle Härte des Gesetzes.
Zum anderen muss man auch berücksichtigen, dass das deutsche Recht doch relativ schnell in Strafhöhen gelangt, die multipliziert geradezu erschlagend wären. Bei einem Betrug wird häufig ab einer Schadenshöhe von 5.000 Euro bereits eine sechsmonatige Freiheitsstrafe auf Bewährung verhängt. Wer also bspw. 25 Anleger um jeweils 6.000 Euro geprellt hat, müsste bei einer reinen Addition der Strafen mit ungefähr 12 bis 14 Jahren Gefängnis rechnen. Auch, wenn ein Betrug um 150.000 Euro natürlich nach einer empfindlichen Sanktion ruft, wäre das eine härtere Strafe als bei so manchem Tötungsdelikt und eine viel härtere Strafe als für die meisten Schwerverbrechen.
Die Gesamtstrafenbildung ist freilich nicht immer widerspruchsfrei und nicht zwangsläufig gerecht, aber sie ermöglicht eine angemessene Reaktion auf eine größere Zahl von Straftaten.
Übrigens kann die Gesamtstrafe auch nachträglich verhängt werden.
Die Geldstrafe im StGB
„Bezeichnung Bullenschwein kostet 3000 Euro.“ „8000 Euro für einen gebrochenen Kiefer.“ „Schwarzfahrer zu 600 Euro Geldstrafe verurteilt.“ Wenn in den Medien von Geldstrafen die Rede ist, dann wird in aller Regel ein bestimmter Betrag genannt. Und das ist natürlich auch für den Angeklagten das Entscheidende: Wie viel muss ich zahlen?
Tatsächlich ist dieser Betrag aber das Ergebnis eines zweistufigen Strafzumessungsmechanismus. Und die bloße Summe sagt über die Schwere der abgeurteilten Straftat nichts aus.
Wenn es um die Verhängung einer Geldstrafe geht, sieht sich das Gericht zunächst einmal das Einkommen des Täters an und rechnet so aus, wieviel er pro Tag verdient (§ 40 Abs. 2 StGB). Theoretisch kann auch noch das Vermögen zur Berechnung herangezogen werden (§ 40 Abs. 3), aber hier ist schon unklar, wie man ein vorhandenes Eigentum in eine täglich zur Verfügung stehende Summe umrechnen soll. In aller Regel wird also das Nettomonatseinkommen (verringert um Unterhaltspflichten, denn die Geldstrafe soll ja nur den Täter selbst treffen) einfach durch 30 geteilt. Das Ergebnis muss zwischen 1 und 30000 Euro liegen. Mit diesem ersten Schritt wird lediglich festgestellt, ob der Täter nun arm oder reich ist. Mit der Schwere der Tat hat das noch überhaupt nichts zu tun.
Diese wird erst im zweiten Schritt relevant, wenn es um die Zahl der Tagessätze geht. Diese Zahl kann gemäß § 40 Abs. 1 Satz 2 StGB theoretisch zwischen 5 und 360 liegen, die Geldstrafe beträgt also maximal ein Jahresgehalt. Wenn mehrere Straftaten zusammentreffen, können auch bis zu 720 Tagessätze verhängt werden. (§ 54 Abs. 2 Satz 2 StGB) Hier gilt, dass grundsätzlich gleich schwere Taten die gleiche Zahl an Tagessätzen nach sich ziehen sollten. Auch die Folgen der Tat, ob bspw. die Geldstrafe zur Bewährung ausgesetzt werden kann (§ 59 Abs. 1 StGB) und die Frage, ob man vorbestraft ist (§ 32 Abs. 2 Nr. 5 a) BZRG) bemisst sich nur nach der Zahl der Tagessätze.
Die Gesamtgeldstrafe wird dann logischerweise durch Multiplikation der Tagessatzzahl mit der -höhe errechnet: 50 Tagessätze zu je 40 Euro sind 2000 Euro, 90 Tagessätze à 30 Euro sind 2700 und 10 Tagessätze zu 2000 Euro ergeben 20.000 Euro. Wie man sieht, kann also eine nominal geringere Strafe zu einer viel höheren Gesamtsumme führen, wenn der Täter entsprechen wohlhabend ist.
In der Praxis muss man zur Zahl des Tagessätze (wie gesagt, mindestens 5 und höchstens 360 bzw. 720) folgendes sagen:
- 5 bis 15 TS: Eher selten. Bei derart leichten Vergehen wird eher das Verfahren gegen eine Geldbuße (die keine Verurteilung und damit keine Strafe ist) eingestellt als dass man einen langen Prozess anstrengt.
- 15 bis 90 TS: Die meisten Verurteilungen.
- 90 bis 180 TS: Kommt auch vor, ist aber schon deutlich seltener. Drei bis sechs Monatsgehälter sind schon eine ganz erhebliche Summe, sodass die Gerichte das nicht so häufig verhängen.
- 180 bis 360 TS: Sehr selten, da dies bereits der Bereich der mittleren Kriminalität ist, indem eher die Tendenz zu einer Freiheitsstrafe auf Bewährung besteht.
- 360 bis 720 TS: Kommt praktisch nicht vor. Einzige bedeutende Ausnahme sind Finanzstrafverfahren, bei denen man keine Freiheitsstrafe von mehr als zwei Jahren (die nicht mehr zur Bewährung ausgesetzt werden dürfte) verhängen will und daher z.B. zwei Jahre auf Bewährung gibt und zusätzlich noch 540 Tagessätze draufpackt.
Man sollte also immer im Hinterkopf haben, dass die Höhe der Geldstrafe nichts über die Schwere der Tat aussagt. Eine hohe Summe kann an einem erheblichen Vorwurf, aber auch an einem hohen Einkommen liegen. Und darum kostet nicht jede gleiche Straftat auch tatsächlich das gleiche. Würde jeder Kinnhaken 3000 Euro und Verleumdung 500 Euro kosten, könnte nämlich ein Einkommenmillionär recht billig „die Sau rauslassen“, während ein einziger Fehltritt einen Sozialhilfeempfänger in Existenznöte brächte.
Anrechnung der Untersuchungshaft
Zum letzten Beitrag („464 Tage sind ein Monat“) hat uns die Nachfrage erreicht, warum dieses lange Verfahren (15 Monate) nur als ein Monat auf die Freiheitsstrafe angerechnet wurde. Wenn er so lange in Untersuchungshaft war, dann müsse die Zeit dem Täter doch bereits als verbüßt angerechnet werden.
Dazu muss man eines wissen: Es geht hier nicht um die U-Haft. Der Täter war nicht in Haft. Also möglicherweise war es doch, aber das war nicht der Punkt für die Anrechnung. Dieser eine Monat Strafnachlass ist lediglich eine Entschädigung für die lange Dauer bis zur Entscheidung über die Revision. Falls er zusätzlich noch die ganzen 15 Monate (dann wahrscheinlich auch einige Monate vor dem erstinstanzlichen Urteil), wird ihm diese Zeit komplett auf die Strafe angerechnet.
§ 51 Abs. 1 StGB ist hier ganz deutlich:
Hat der Verurteilte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie (…) angerechnet.
Früher war dies übrigens etwas anders geregelt. § 60 des StGB von 1871 sah das im Grundsatz ähnlich vor, ließ dem Gericht aber viel mehr Spielraum:
Eine erlittene Untersuchungshaft kann bei Fällung des Urtheils auf die erkannte Strafe ganz oder theilweise angerechnet werden.
Dazu muss man wissen, dass es damals drei verschiedene Arten der regulären Freiheitsstrafe gab, die in einem Stufenverhältnis zueinander standen. Acht Monate Zuchthaus (die schwerste Freiheitsstrafe) entsprachen zwölf Monaten Gefängnis und acht Monate Gefängnis entsprachen zwölf Monaten Festungshaft (der leichtesten Verbüßungsart).
Nach diesem Maßstab hätte also auch die Untersuchungshaft umgerechnet werden müssen. Wer sechs Monate U-Haft hinter sich hatte, hätte damit nur vier Monate Gefängnis ausgleichen können. Wurde er gar zu Zuchthaus verurteilt, entsprach diese Haft nur gut zweieinhalb Monaten Freiheitsstrafe.
Eine derartige Umrechnung gestattete § 60 StGB a.F., sah es aber nicht verpflichtend vor. Anders dagegen ab Akzeptanz des Urteils durch den Angeklagten, also sobald er kein Rechtsmittel mehr einlegen kann. Gemäß § 482 StPO musste jede Freiheitsentziehung ab diesem Zeitpunkt „unverkürzt“, also voll angerechnet werden:
Auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe ist unverkürzt diejenige Untersuchungshaft anzurechnen, welche der Angeklagte erlitten hat, seit er auf Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet oder das eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen hat, oder seitdem die Einlegungsfrist abgelaufen ist, ohne daß er eine Erklärung abgegeben hat.
Diese Vorschrift ist heute praktisch überflüssig, da die Anrechnung ja über § 51 StGB sowieso ungeschmälert erfolgt.