Schon allein, weil jeder nach Karlsruhe (II) gehen möchte, fühlt sich auch jeder bemüßigt, über Grundrechte zu reden. Dabei ist das Unwissen auf diesem Feld oft leider besonders groß. Dieses Unwissen zieht sich aber leider bis tief ins Studium hinein und der eine oder andere kapitale Fehler kommt sicher auch im Staatsexamen noch vor. Wenn man ein Prinzip erst einmal begriffen hat, kann so viel nicht mehr schiefgehen: Grundrechte sind Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe.
Fangen wir mit dem einfacheren Teil an: Es geht um das Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat. Gegenüber anderen Menschen habe ich keine Grundrechte. Ich kann keiner anderen Person vorwerfen, dass Sie bspw. mein Grundrecht auf Religionsfreiheit verletzt habe. Denn ich habe gegenüber meinem Mitbürger kein Recht auf Religionsfreiheit. Wenn mein Nachbar also in ohrenbetäubender Lautstärke „Highway to Hell“ hört, während ich mich dem Studium der Bibel widmen will, dann mag das je nach den Umständen des Einzelfalls gegen zivil- oder strafrechtliche Gesetze verstoßen – aber mit meinem Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes hat das nichts zu tun. Anders ist es dagegen, wenn der Staat sich einmischt. Verbietet mir dagegen der Landkreis, nach den Vorschriften des Alten Testament in meinem Garten einen Hammel zu schlachten und anschließend auf einem prächtigen Scheiterhaufen zu opfern, dann kommt das Grundrecht ins Spiel; denn der Landkreis übt Staatsgewalt aus und ist damit an die Grundrechte gebunden.
Auf den ersten Blick weniger einleuchtend ist dagegen die Funktion des Abwehrrechts: Es klang oben schon an, dass es in Grundrechtsfällen in erster Linie um Verbote geht. Grundsätzlich ist es so, dass ein Bürger unverschämterweise macht, was er will. Der Staat hingegen setzt dem Grenzen und erlässt Gesetze, die bestimmte Handlungen verbieten. Dabei darf man dem Staat aber nicht völlig freie Hand lassen, sonst verbietet er nämlich alles. Darum gibt es die Grundrechte: Sie verbieten dem Staat, allzuviel zu verbieten. Er darf also – grundsätzlich, zu den Einschränkungen kommen wir später – nichts verbieten, was zur genannten Religionsfreiheit gehört, ebenso in Bezug auf die Meinungsfreiheit oder den Beruf.
Die Grundrechte schützen also die Freiheit des einzelnen – aber sie verbürgen keinen Anspruch auf irgendetwas. Bei Studentenprotesten wird immer gern ein Grundrecht auf Bildung bemüht. Ein solches Grundrecht kann aber keinesfalls bedeuten, dass jeder das Recht auf ein kostenloses Studium hätte. Wenn dem so wäre, dann würde das Grundrecht auf Eigentum (Art. 14) logischerweise bedeuten, dass jeder jedes Eigentum kostenlos für sich beanspruchen könnte. Also nochmal: Der Staat darf mir meine Freiheit, etwas im Rahmen meiner Grundrechte zu tun, nicht nehmen. Aber ich habe keinen Anspruch darauf, irgendeine Leistung vom Staat zu bekommen, um mein Grundrecht ausüben zu dürfen.
Ach ja, bevor es unter den Tisch fällt: Ein Bildungs-Grundrecht gibt es im Grundgesetz sowieso nicht. Offensichtlich befinden sich unter den üblicherweise demonstrierenden Studenten keine Jura-Studenten. Oder zumindest keine besonders guten.
Soweit wir und im sogenannten Schutzbereich von (real existierenden) Grundrechten befinden, ist dieser Schutz aber auch noch nicht absolut. Sonst könnte man zum Beispiel eine Religion gründen, die all das erlaubt, was im deutschen Recht eigentlich verboten ist. Unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit wäre dann jedes Verbot ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Und das kann ja nicht der Sinn der Sache sein, wenngleich es organisierter Religion sicher einen enormen Zulauf bescheren würde. Zulässig sind daher Eingriffe des Staates, die bestimmten formellen und inhaltlichen Maßstäben genügen.
Zunächst braucht man ein Gesetz. Und zwar ein Gesetz im engeren Sinne, das durch das Parlament verabschiedet wurde. Gesetze im weiteren Sinne, also zum Beispiel Verordnungen der Regierung, gemeindliche Satzungen, die Schulordnung oder andere Rechtsnormen genügen dafür nicht. Sie alle können zwar in Grundrechte eingreifen, aber nur quasi als „ausführendes Organ“, das sich auf eine entsprechende Erlaubnis durch Parlamentsgesetz stützt.
Aber auch ein solches formelles Gesetz darf nicht alles: Die Einschränkung eines Grundrechts darf nur aus einem vernünftigen Grund geschehen. Es ist verboten, den oben genannten Hammel unfachgemäß zu schlachten, weil der Tierschutz ein Ziel des Staates ist. Und ich darf in meinem Garten kein Feuerchen machen, weil das möglicherweise die Gesundheit und das Eigentum meiner Nachbarn beeinträchtigen würde. Der Staat darf es aber nicht einfach so verbieten, pinke Schuhe anzuziehen. Der modische Geschmack einer zivilisierten Gesellschaft reicht für diesen Freiheitseingriff als Grund leider nicht aus.
Nun mag mancher einwenden, wo es denn ein Grundrecht auf das Tragen pinker Schuhe gibt. Es ist richtig, ein solches Recht gibt es nicht. Aber es gibt Artikel 2 des Grundgesetzes. Dieses sieht ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit vor. Und darunter fällt jede denkbar menschliche Handlung. Man hätte das Grundrecht also auch mit den Worten „Jeder darf tun und lassen, was er will“ formulieren können. Das hat man aber nicht getan, weil das nicht so schön juristisch klingt. Immer, wenn der Staat uns irgendetwas vorschreiben will, greift er in die Entfaltung der Persönlichkeit ein und braucht daher ein Gesetz.
Haben Sie’s gemerkt? Nicht? Jetzt müsste Ihnen doch etwas komisch vorkommen. Wenn es im Artikel 2 ein wirklich allumfassendes Grundrecht gibt, wofür brauche ich dann noch spezielle Grundrechte? Wenn ich überhaupt schon alles tun darf, was meiner Persönlichkeit entspringt, warum darf ich darf religiöse oder wissenschaftliche Handlungen erst recht vornehmen? Der Grund ist, dass die allgemeine Handlungsfreiheit nach Artikel 2 einen deutlich geringeren Schutz bietet. Das Gesetz, das hierin eingreift, muss einfach nur irgendwie nachvollziehbar sein. Und es muss auch keine besonders exakte Festlegung des Eingriffs und seiner Voraussetzungen bieten.