Die Berufung im Strafverfahren

Jedes Urteil kann falsch sein. Darum kann man (fast) jedes Urteil mit einem Rechtsmittel angreifen. Das wohl bekannteste und umfassendste Rechtsmittel ist die Berufung.

Umfassend ist die Berufung deswegen, weil die Berufungsverhandlung eine völlig neue Hauptverhandlung darstellt. Die Beweise werden erneut erhoben, Zeugen noch einmal befragt, Gutachter tragen ein zweites Mal vor. Dabei wird das erstinstanzliche Urteil zwar verlesen (§ 324 Abs. 1 Satz 2 StPO), im Übrigen wird es aber praktisch als nichtexistent betrachtet. Es ist also nicht zulässig, einfach frühere Aussagen vor dem ersten Gericht zu verlesen (§§ 323 Abs. 2 Satz 1, 325 Satz 2).

Das Berufungsgericht bildet sich also eine komplett eigene Meinung, es kann die Beweise anders gewichten, es muss neu entscheiden, wem der Beteiligten es glaubt, es muss feststellen, welche Gesetzesvorschriften heranzuziehen sind und es muss aufgrund seiner Erkenntnisse zu einem Urteil kommen. Das Urteil kann selbstverständlich trotzdem mit dem der Vorinstanz identisch sein, wenn das Berufungsgericht zu denselben Schlussfolgerungen kommt wie das Ausgangsgericht.

Die Berufung kann dabei nur gegen Urteile des Amtsgerichts (Strafrichter oder Schöffengericht) eingelegt werden. Diese sind für kleine bis mittlere Kriminalität zuständig, also beispielsweise nicht für Tötungsverbrechen. Theoretisch kann das Amtsgericht Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren verhängen, die allermeisten Urteile bewegen sich aber im Bereich der Geld- oder Bewährungsstrafen (bis zu zwei Jahre Haft). Für „große Kriminalität“ ist das Landgericht (oder ganz selten: das Oberlandesgericht) im ersten Rechtszug zuständig zuständig. Gegen diese Urteile gibt es keine Berufung, sondern nur die Revision, um die es hier aber nicht geht.

Und es ist tatsächlich irritierend, dass ausgerechnet bei bedeutenden Tatvorwürfen, die regelmäßig eine lange bis lebenslange Freiheitsstrafe nach sich ziehen, keine Berufung möglich ist. Was das Landgericht als Tatsache feststellt, ist grundsätzlich in Stein gemeißelt. Die offizielle Begründung dafür ist, dass die Tatsachenaufklärung bei diesen Urteilen ohenhin besonders gründlich passiert ist. Das ist wenig überzeugend: Zum einen ist der damit einhergehende Vorwurf gegenüber Amtsrichtern, man könne ihnen weniger trauen, kaum nachzuvollziehen. Zum anderen wäre es für eine detaillierte Erforschung der Wahrheit sicher nicht verkehrt, wenn auch die höheren Gerichte eine Kontrollinstanz über sich hätten.

Der Rechtsgedanke, dass die Berufung bei weniger schweren Delikten nicht unbedingt notwendig ist, ist dem Gesetz dabei auch gar nicht fremd: So bedarf die Berufung bei Geldstrafen von höchstens 15 Tagessätzen (das entspricht einem halben Monatsgehalt) der besonderen Zulassung durch das Berufungsgericht, die relativ selten erfolgt. Die Berufung ist also bei ganz leichter und bei schwerer Kriminalität nicht vorgesehen, nur für den „eher leichten“ bis mittleren Bereich gibt es sie. Diese Logik verstehe, wer will.

Und ein weiteres Problem existiert: Angeklagter und Staatsanwaltschaft sind waffengleich. Beide können die Berufung gleichermaßen einlegen. (Eine kleine Einschränkung gibt es: Die Staatsanwaltschaft kann nicht gegen einen Freispruch vorgehen, wenn sie selbst nicht mehr als 30 Tagessätze Geldstrafe, also ein Monatsgehalt, gefordert hat.) Das bedeutet also, dass die Staatsanwalt aus einem Freispruch des Angeklagten durch die Berufung zum Landgericht eine Verurteilung machen kann. Kommt die Strafkammer beim Landgericht zu einer anderen Beurteilung der Angelegenheit, steht am Ende auf einmal ein Schuldspruch. Dieser Schuldspruch ist dann nur noch aus Rechtsgründen durch die Revision anfechtbar.

Der Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) wird dadurch erheblich eingeschränkt. Auch, wenn das Berufungsgericht gerade keinen Zweifel gesehen und darum verurteilt hat: Die erste Instanz war anderer Meinung. Und das allein sollte reichen, die Sicherheit des Urteil, die man von einem Rechtsstaat erwarten können sollte, verneinen.

Noch eine Sache wirft ein eher problematisches Licht auf diese Konstellation: Wäre der Angeklagten in erster Instanz verurteilt und in der zweiten freigesprochen worden, würde der Freispruch bestehenbleiben. Dabei ist auch diese Situation nichts wesentlich anderes. Von zwei Gerichten hat eines so und eines so entschieden. Dafür, dass sich das landgerichtliche Urteil durchsetzt, gibt es keinen durchschlagenden Grund. Ein Richter am Landgericht mag länger im Amt sein und über mehr Erfahrung verfügen. Bei der Feststellung von Tatsachen ist er kaum kompetenter als sein Kollege am Amtsgericht.

Sinnvoller wären daher folgende Änderungen:

Nur der Angeklagte kann Berufung einlegen. Hat eine von beiden Tatsacheninstanzen Zweifel an seiner Schuld, so reicht das. Die Staatsanwaltschaft bleibt auf eine Rechtskontrolle (Revision) beschränkt.

Berufung ist nur gegen Urteile mit erheblicher Strafzumessung möglich. Wo man die Grenze zieht, ist Sache des Gesetzgebers, aber gerade bei Schwerverbrechen muss Berufung möglich sein.

Kriegsverräter

Der Bundestag hat vor drei Jahren die Verurteilungen von Wehrmachtssoldaten wegen Kriegsverrats aufgehoben. Auch, wenn das formell erst so spät passiert ist, so kann man derartige Urteile doch mindestens seit vielen Jahrzehnten als gewohnheitsrechtlich nichtig betrachten. Ich kann mir jedenfalls nicht vorstellen, dass irgendjemand einem mittlerweile mindestens 80-Jährigen vorwirft, dass er im Zweiten Weltkrieg etwas verächtliches über den Führer gesagt hat…

Gar so selbstverständlich ist das freilich auch wieder nicht. In der Spielbankenaffäre hat der Innenminister Geiselhöringer von der mit der CSU konkurrierenden Bayernpartei wahrheitsgemäß ausgesagt, er habe nichts Negatives über einen anderen Beteiligten, Herrn Simon Gembicki, gewusst. Dabei konnten ihm nachgewiesen werden, daß er von einer wirklich schrecklichen Vorstrafe Gembickis wusste: Dieser war 1938 wegen ungesetzlicher Flucht aus dem Deutschen Reich verurteilt worden – Gembicki war übrigens Jude. Daß man eine derartige Vorstrafe auch 1959 noch als Makel empfinden konnte, lässt sich nur mit der Person des Richters erklären: Landgerichtsdirektor Paul Wonhas hat eineinhalb Jahrzehnte vorher als Feldkriegsgerichtsrat in Rußland zahlreiche Soldaten erschießen lassen – aber das waren wohl auch lauter Kriegsverräter…

Die Passauer Giftfalle (BGH, 12. August 1997, 1 StR 234/97)

Die „Passauer Giftfalle„, über die der BGH heute vor 15 Jahren entschieden hat, ist ein wahrhaft kurioser Fall, der aber auch juristisch einigen Gehalt hat. Das Urteil bedarf keiner großen Erklärungen, der Tatbestand spricht für sich:

Nach den Feststellungen waren Anfang März 1994 Unbekannte in das Einfamilienhaus des Angeklagten eingedrungen, hatten sich in der im Erdgeschoß gelegenen Küche warme Speisen zubereitet und auch dort vorhandene Flaschen mit verschiedenen Getränken ausgetrunken. Weiter waren Geräte der Unterhaltungselektronik in das Dachgeschoß des Hauses verbracht worden. Die vom Angeklagten am 6. März 1994 verständigte Polizei ging deshalb davon aus, die Täter könnten an den folgenden Tagen noch einmal zurückkehren, um die zum Abtransport bereitgestellte Diebesbeute abzuholen. In der Nacht vom 8. auf den 9. März 1994 hielten sich deshalb vier Polizeibeamte in dem Haus auf, um dort mögliche Einbrecher ergreifen zu können. „Die Passauer Giftfalle (BGH, 12. August 1997, 1 StR 234/97)“ weiterlesen

Deal or no deal?

In deutschen Strafprozessen gibt es seit einigen Jahren die Sitte, das Verfahren durch wechselseitige Entgegenkommen abzukürzen. In der Regel gesteht der Angeklagte seine Schuld und erhält dafür von Haus aus ein geringeres Strafmaß; teilweise werden auch einzelne, weniger bedeutende Anklagepunkte fallengelassen. Dieses Vorgehen hat sich in den Gerichten etabliert und bewährt, in der Strafprozeßordnung kommt es dagegen bisher nicht vor. Das ändert sich jetzt und folgerichtig wiederholt der Gesetzentwurf im wesentlichen das bisherige „Gewohnheitsrecht“; Änderungen ergeben sich nur dort, wo man mehr Transparenz schaffen wollte. Eigentlich sollte das alles kein Anlaß für große Aufgeregtheiten sein. „Deal or no deal?“ weiterlesen

Bemerkenswerte Urteile

Im wahren Leben kommen teilweise noch viel kuriosere Fälle vor Gericht, als sich Lehrbuchschreiber (oder die Drehbuchschreiber von Salesch und Co.) ausdenken können. Nachdem ich am Wochenende mit ein paar Bekannten darüber geredet habe, mal die Top 3, die mir spontan eingefallen sind: Obstmesser (begrenzt lustig, aber ziemlich blutig) Katzenkönig (völlig abwegig) Passauer Giftfalle (sehr seltsame Konstellation, aber mit niederbayerischem Charme…)

Der Gerichtsbarkeitserlass von 1941

Der sogenannte Gerichtsbarkeitserlass regelte die Verfolgung von Straftaten im Rahmen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Jahr 1941. Er gilt gemeinhin als Freibrief für Wehrmachtssoldaten, Kriegsverbrechen ungesühnt zu begehen. Heute analysieren wir den juristischen Gehalt dieses Befehls und seine Wirkungen.

Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht.
Führerhauptquartier, d. 13. Mai 1941.

Erlass
über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa“
und über besondere Massnahmen der Truppe.

„Der Gerichtsbarkeitserlass von 1941“ weiterlesen

Neues Projekt: Beschuldigten-Notruf

Unter www.beschuldigten-notruf.de stellen wir ab sofort Fragen und Antworten zum Ablauf eines Strafverfahrens zusammen. Dieses Angebot soll sowohl Beschuldigten helfen, ihre Rechte effektiv wahrnehmen zu können, als auch interessierten Bürgern Informationen zum Strafrecht geben.

Wir wünschen viele Einsichten und Erkenntnisse!

Der bayerische BGH-Senat

Die Strafsenate des Bundesgerichtshofs sind geographisch gegliedert. Für Bayern (und Baden-Württemberg) ist der erste Senat unter Armin Nack zuständig. Und gerade dieser Senat ist es, der – unstreitig – die mit Abstand niedrigste Erfolgsquote bei Revisionen gegen die Urteile der Strafkammern bei den Landgerichten aufweist.

Das ist aber mehr als ein statistisches Ergebnis. Jede zurückgewiesene Revision bedeutet, dass Urteil (meistens ein solches zum Nachteil des Angeklagten, das häufig auf eine mehrjährige Freiheitsstrafe lautet) bestehen bleibt. Oliver Garcia vom hervorragenden De-Legibus-Blog kommt zu einer Bewertung, die einen noch nachdenklicher stimmen sollte:

Es wäre nur geringfügig übertrieben, die beiden Auswertungsergebnisse dahingehend zu kommentieren, daß die Rechtsprechungspraxis des 1. Strafsenats einem Stillstand der (Revisions-)Rechtspflege nahekommt.

(…)

Die dortige Justiz hat verinnerlicht, daß sie mit einer Rückendeckung durch den BGH immer rechnen kann und geht damit selbstbewußt um wie mit einer Blankovollmacht

Zum ganzen Text: http://blog.delegibus.com/2011/12/04/bundesgerichtshof-die-schiere-freude-am-strafen/