Der Gerichtsbarkeitserlass von 1941

Der sogenannte Gerichtsbarkeitserlass regelte die Verfolgung von Straftaten im Rahmen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Jahr 1941. Er gilt gemeinhin als Freibrief für Wehrmachtssoldaten, Kriegsverbrechen ungesühnt zu begehen. Heute analysieren wir den juristischen Gehalt dieses Befehls und seine Wirkungen.

Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht.
Führerhauptquartier, d. 13. Mai 1941.

Erlass
über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa“
und über besondere Massnahmen der Truppe.


Es handelte sich hier also lediglich um einen Erlass, also eine Verwaltungsrichtlinie. Der Kriegsgerichtsbarkeitserlass war kein Gesetz im formellen Sinne: Sogar, wenn man annimmt, dass das Ermächtigungsgesetz rechtswirksam war, ermächtigte es lediglich die Reichsregierung als Ganzes zur Verabschiedung von Gesetzen, nicht den Reichskanzler alleine. Ein Erlass des „Führers und Obersten Befehlshabers der Wehrmacht“ stand also nicht im Rang eines Gesetzes – dies wird nachher noch relevant werden.

Die Wehrmachtgerichtsbarkeit dient in erster Linie der Erhaltung der Mannszucht.
Die weite Ausdehnung der Operationsräume im Osten, die Form der dadurch gebotenen Kampfesführung und die Besonderheit des Gegners stellen die Wehrmachtgerichte vor Aufgaben, die sie während des Verlaufs der Kampfhandlungen und bis zur ersten Befriedung des eroberten Gebietes bei ihrem geringen Personalbestand nur zu lösen vermögen, wenn sich die Gerichtsbarkeit zunächst auf ihre Hauptaufgabe beschränkt.

Die Strafgerichtsbarkeit innerhalb der Truppe diente also nicht mehr der Wahrung der Rechte der Opfer, sondern der Aufrechterhaltung der soldatischen Disziplin.

Das ist nur möglich, wenn die Truppe selbst sich gegen jede Bedrohung durch die feindliche Zivilbevölkerung schonungslos zur Wehr setzt.
Demgemäss wird für den Raum „Barbarossa“ (Operationsgebiet, rückwärtiges Heeresgebiet und Gebiet der politischen Verwaltung) folgendes bestimmt:

I.
Behandlung von Straftaten feindlicher Zivilpersonen.
1. Straftaten feindlicher Zivilpersonen sind der Zuständigkeit der Kriegsgerichte und der Standgerichte bis auf weiteres entzogen.

Die Praxis, Zivilisten vor Kriegsgerichte zu stellen, ist bereits sehr problematisch. Diese Gerichte dann auch noch durch Standgerichte zu ersetzen, die praktisch keinerlei ordentliches Verfahren mehr durchführen, verlässt die Prinzipien des Rechtsstaats vollständig. Aber nicht einmal dieses Pro-forma-Verfahren wurde noch garantiert:

2. Freischärler sind durch die Truppe im Kampf oder auf der Flucht schonungslos zu erledigen.
3. Auch alle anderen Angriffe feindlicher Zivilpersonen gegen die Wehrmacht, ihre Angehörigen und das Gefolge sind von der Truppe auf der Stelle mit den äussersten Mitteln bis zur Vernichtung des Angreifers niederzukämpfen.
4. Wo Massnahmen dieser Art versäumt wurden oder zunächst nicht möglich waren, werden tatverdächtige Elemente sogleich einem Offizier vorgeführt. Dieser entscheidet, ob sie zu erschiessen sind.

Das Erschießen von Gefangenen ist ohne Zweifel ein Kriegsverbrechen.

Gegen Ortschaften, aus denen die Wehrmacht hinterlistig oder heimtückisch angegriffen wurde, werden unverzüglich auf Anordnung eines Offiziers in der Dienststellung mindestens eines Bataillons-usw.-Kommandeurs kollektive Gewaltmassnahmen durchgeführt, wenn die Umstände eine rasche Feststellung einzelner Täter nicht gestatten.

Die bekannten Massaker („Vergeltungsmaßnahmen“), die z.B. in Oradour, Babyn Jar, Distomo usw. verübt wurden.

5. Es wird ausdrücklich verboten, verdächtige Täter zu verwahren, um sie bei Wiedereinführung der Gerichtsbarkeit über Landeseinwohner an die Gerichte abzugeben.
6. Die Oberbefehlshaber der Heeresgruppen können im Einvernehmen mit den zuständigen Befehlshabern der Luftwaffe und der Kriegsmarine die Wehrmachtgerichtsbarkeit über Zivilpersonen dort wieder einführen, wo das Gebiet ausreichend befriedet ist.
Für das Gebiet der politischen Verwaltung ergeht diese Anordnung durch den Chef des Oberkommandos der Wehrmacht.

Es war also nicht einmal möglich, Verdächtige in Haft zu nehmen, um ein Verfahren durchzuführen, sobald Ermittlungen und ordentliche Prozesse wieder möglich sein würden.

II.
Behandlung der Straftaten von Angehörigen der Wehrmacht und des Gefolges gegen Landeseinwohner.
1. Für Handlungen, die Angehörige der Wehrmacht und des Gefolges gegen feindliche Zivilpersonen begehen, besteht kein Verfolgungszwang, auch dann nicht, wenn die Tat zugleich ein militärisches Verbrechen oder Vergehen ist.

Im Strafrecht herrscht das sogenannte Legalitätsprinzip: Die Staatsanwaltschaft muss ein Verfahren einleiten, wenn es den Verdacht einer Straftat gibt (Verfolgungszwang, § 152 Abs. 2 StPO). Noch weitergehend ist die grundsätzliche Pflicht, dann auch Anklage zu erheben, wenn sich der Verdacht durch die Ermittlungen erhärtet hat. (§ 170, früher § 168 StPO)

Diesen Verfolgungszwang hat der Gerichtsbarkeitserlass aufgehoben. Damit wurde zwar das Strafrecht an sich nicht außer Kraft gesetzt. Die staatlichen Verfolgungsbehörden waren aber nicht mehr verpflichtet, es anzuwenden. Um die an sich einschlägigen §§ 152 und 168 der damaligen Strafprozessordnung aufzuheben, hätte es eigentlich eines Gesetzes bedurft. Da ein einfacher Erlass (siehe oben) aber rechtshierarchisch unter dem Gesetz steht, konnte er dieses weder aufheben noch innerhalb seines Anwendungsbereichs verdrängen. In einem normalen Rechtsstaat wäre die Regelung also schon aus formalen Gründen unwirksam gewesen.

2. Bei der Beurteilung solcher Taten ist in jeder Verfahrenslage zu berücksichtigen, dass der Zusammenbruch im Jahre 1918, die spätere Leidenszeit des deutschen Volkes und der Kampf gegen den Nationalsozialismus mit den zahllosen Blutopfern der Bewegung entscheidend auf bolschewistischen Einfluss zurückzuführen war und dass kein Deutscher dies vergessen hat.

Soweit es aus anderen Gründen (siehe folgende Absätze) ausnahmsweise doch zu einem Verfahren kommt, wird sogleich ein allgemeiner Strafmilderungsgrund kreiert, weil Deutschland den Ersten Weltkrieg verloren hat.

3. Der Gerichtsherr prüft daher, ob in solchen Fällen eine disziplinare Ahndung angezeigt oder ob ein gerichtliches Einschreiten notwendig ist. Der Gerichtsherr ordnet die Verfolgung von Taten gegen Landeseinwohner im kriegsgerichtlichen Verfahren nur dann an, wenn es die Aufrechterhaltung der Mannszucht oder die Sicherung der Truppe erfordert. Das gilt z.B. für schwere Taten, die auf geschlechtlicher Hemmungslosigkeit beruhen, einer verbrecherischen Veranlagung entspringen oder ein Anzeichen dafür sind, dass die Truppe zu verwildern droht.

Strafverfahren soll es also nur noch geben, wenn dies aus disziplinarischen Gründen sinnvoll ist. Damit werden die Prämissen des Strafrechts völlig verschoben: Nicht die rechtswidrige Tat ist Anknüpfungspunkt der Sanktion, sondern davon völlig unabhängige Nützlichkeitserwägungen.

Nicht milder sind in der Regel zu beurteilen Straftaten, durch die sinnlos Unterkünfte sowie Vorräte oder anderes Beutegut zum Nachteil der eigenen Truppe vernichtet wurden.

Ein weiterer Strafgrund: Zerstörung von Gegenständen, die geplündert oder beschlagnahmt werden können.

Die Anordnung des Ermittlungsverfahrens bedarf in jedem einzelnen Fall der Unterschrift des Gerichtsherrn.

Gerichtsherr war in der Regel der Divisionskommandant, also keineswegs eine unabhängige Instanz.

4. Bei der Beurteilung der Glaubwürdigkeit von Aussagen feindlicher Zivilpersonen ist äusserste Vorsicht geboten.

III.
Verantwortung der Tuppenbefehlshaber.
Die Truppenbefehlshaber sind im Rahmen ihrer Zuständigkeit persönlich dafür verantwortlich,
1. dass sämtliche Offiziere der ihnen unterstellten Einheiten über die Grundsätze zu I rechtzeitig in der eindringlichsten Form belehrt werden,
2. dass ihre Rechtsberater von diesen Weisungen und von den mündlichen Mitteilungen, in denen den Oberbefehlshabern die politischen Absichten der Führung erläutert worden sind, rechtzeitig Kenntnis erhalten,

Die Weitergabe des Erlasses wurde von einigen Befehlshabern abgelehnt, da er verbrecherisch und kriegsrechtswidrig war. Nähere Informationen bei Wikipedia.

3. dass nur solche Urteile bestätigt werden, die den politischen Absichten der Führung entsprechen.

Wieder das Verständnis des Strafrechts nicht als Mittel zur Herstellung von Gerechtigkeit, sondern als staatliches Werkzeug zur Durchsetzung politischer Ziele.

IV.
Geheimschutz.
Mit der Enttarnung geniesst dieser Erlass nur noch Geheimschutz als Geheime Kommandosache.

Im Auftrage
Der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht
gez. Keitel

Diese Unterschriften, mit denen Wilhelm Keitel die Führerbefehle an die Wehrmacht weitergab, brachen ihm schließlich – wortwörtlich – das Genick. Das gegen ihn im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess verhängte Todesurteil war darauf zurückzuführen, dass er in den Krieg verbrecherische Handlungsanweisungen einführte, von denen der Kriegsgerichtsbarkeitserlass nur einer war. An der Formulierung dieser Anweisungen wie an der gesamten Kriegsplanung war Keitel praktisch nie an vorderster Stelle beteiligt und darum trug er auch den verächtlichen Spitznamen „Lakaitel„. Trotzdem war er der verantwortliche Transmissionsriemen zwischen dem Führerwillen und der schmutzigen Realität auf den Schlachtfeldern.

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