Bemerkungen zu BayVerfGH, 12.03.1986, Vf 23-VII-84

BayernIn seinem Urteil unter dem Aktenzeichen Vf 23-VII-84 hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof zur Frage Stellung genommen, welche rechtliche Bedeutung die bayerische Staatsangehörigkeit heute noch hat, insbesondere im Verhältnis zur deutschen Staatsbürgerschaft nach dem Grundgesetz. Heute möchten wir uns kritisch mit dieser Entscheidung auseinandersetzen:

Zunächst muss man konstatieren, dass dieses Urteil keine Sternstunde der bayerischen Verfassungsgerichtsbarkeit ist. Der Verfassungsgerichtshof hat das Vorbringen der Antragsteller (eine politische Jugendorganisation) erkennbar eher wenig ernst genommen. Durch das gesamte Urteil ziehen sich Ausführungen, die wenig juristische Argumentation oder gar Subsumtion erkennen lassen und sich stattdessen hauptsächlich mit Nützlichkeitserwägungen auseinandersetzen.

Schon der gewählte Weg, zum antragsabweisenden Urteil zu kommen, erscheint fragwürdig. Nicht die Begründetheit wurde untersucht, sondern es wurde bereits auf Zulässigkeitsebene konstatiert, dass „eine Verletzung dieser Verfassungsnormen von vornherein nicht möglich erscheint“, Absatz b). Zwar findet daran anschließend auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumenten statt, diese bleibt aber in vielerlei Hinsicht an der Oberfläche.

In Absatz bb) heißt es:

Durch Art. 6 BV ist die bayerische Staatsangehörigkeit als Institution wieder eingeführt worden. Unmittelbare Rechtsfolgen für den einzelnen Bürger ergeben sich daraus aber noch nicht. Art. 6 Abs. 1 BV nennt nur ganz allgemeine Voraussetzungen für den Erwerb der bayerischen Staatsangehörigkeit, wobei an herkömmliche Tatbestände des Staatsagehörigkeitsrechts angeknüpft wird (…). Eine konkrete Zuerkennung der bayerischen Staatsangehörigkeit an bestimmte Personen ist aber nicht möglich, solange das in Art. 6 Abs. 3 BV vorgesehene Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit nicht erlassen ist.

Damit wird zum einen – was nach wie vor absolut herrschende Meinung in der Rechtsprechung ist – die Existenz der bayerischen Staatsangehörigkeit bestätigt. Die weiteren Ausführungen sind aber nur verständlich, wenn man zunächst klärt, was mit einer „konkreten Zuerkennung“ gemeint ist, die derzeit nicht möglich sei. Fasst man dies als Verleihung der Staatsbürgerschaft an bisherige Nichtbürger auf, wäre dem durchaus zuzustimmen: Niemand kann eingebürgert werden, solange nicht gesetzlich geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen dies geschieht. Aber das meint das Urteil nicht – was allerdings erst später klar wird. Das Gericht ist vielmehr der Meinung, dass Artikel 6 insgesamt bedeutungslos ist, solange es kein Ausführungsgesetz gibt.

Die Erwerbstatbestände in Art. 6 Abs. 1 der Bayerischen Verfassung als „ganz allgemein“ bezeichnet und damit faktisch weggewischt. Nur über ein Ausführungsgesetz (nach Abs. 3) könnten sie zum Leben erweckt werden. Das wird dem Regelungsgehalt der Verfassung aber nicht gerecht. Zumindest die Kriterien Geburt, Legitimation (im heutigen Sprachgebrauch: Anerkennung der Vaterschaft) und Eheschließung sind aus sich selbst heraus verständlich, auch ohne erläuterndes Ausführungsgesetz. Diese Voraussetzungen mögen allgemein sein, sie sind aber eben auch – wie der BayVerfGH selbst feststellt – „herkömmlich“. Es sind also ganz übliche Gründe für das Erlangen einer Staatsangehörigkeit, die ganz übliche Rechtsbegriffe verwenden, die ohne Weiteres verständlich sind bzw. – soweit notwendig – nach ganz üblichen Gesichtspunkten interpretiert werden können. Die Vorstellung, dieser Absatz sei so unverständlich, dass man ihn nur mit Hilfe eines nähere Bestimmungen treffenden Gesetzes auslegen könne, ist jedenfalls nicht nachzuvollziehen.

Zwar geht auch das Grundgesetz in Art. 74 Nr. 8 davon aus, daß es besondere Regelungen über die Staatsangehörigkeit in den Ländern geben darf und daß diese, da der Bund auf diesem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung noch nicht tätig geworden ist, von den Ländern erlassen werden können

Diese Grundgesetzbestimmung wurde zwischenzeitlich gestrichen. Nach der alten Rechtslage konnten die Länder die Länder-Staatsangehörigkeit selbst regeln, soweit es noch kein Bundesgesetz, welches auch tatsächlich nie erlassen wurde, gab (sog. konkurrierende Gesetzgebung). Mittlerweile wurde die Thematik aus dem GG ganz gestrichen, die Zuständigkeit liegt also ausschließlich bei den Ländern. Die Tatsache, dass das Grundgesetz eine Länder-Staatsangehörigkeit aber ursprünglich vorgesehen hat, zeigt, dass es sie offensichtlich geben muss.

Umso mehr verstört die Aussage des Verfassungsgerichtshofs:

Das Grundgesetz schließt es aber aus, daß der Kreis der Landesangehörigen insgesamt größer sein könnte als der Kreis der Deutschen (…). Es widerspräche dem Wesen des im Grundgesetz verankerten und ausgestalteten Bundesstaats, wenn es in den einzelnen Ländern Staatsbürger mit unterschiedlicher Rechtsstellung in bezug auf den Bundesstaat einerseits und auf das betreffende Land andererseits gäbe. Die staatsrechtliche Einordnung in den Bundesstaat ist für ein Land so umfassend, daß ihm eine Zweiteilung seiner Staatsbürger in solche, die zugleich Deutsche sind, und in andere, die nicht Deutsche sind, durch das Grundgesetz versagt ist.

Also darf der Freistaat zwar seine Staatsangehörigkeit regeln, er darf aber keine Bayern schaffen, die nicht zugleich Deutsche sind. Welchen Sinn dieses (einst ausdrücklich normierte, mittlerweile implizit zugestandene) Recht dann noch haben soll, beantwortet der VerfGH aber auch sogleich:

Ein Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit dürfte nach alledem kraft höherrangiger Gebote des Grundgesetzes keine Nicht-Deutschen zu Bayern machen, sondern könnte nur eingrenzende Regelungen darüber enthalten, welche Deutschen im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG zugleich bayerische Staatsangehörige im Sinn von Art. 6 Abs. 1 BV sind und welche nicht.

Bayern dürfte damit nur Deutsche einbürgern, nicht aber bspw. Österreicher. Man muss den Richtern aber fast dankbar sein, dass sie schon in den nächsten Worten ihre eigene Rechtsauffassung in der Realität einordnen:

Rechtliche Auswirkungen eines solchen Gesetzes wären kaum denkbar, weil alle Rechte, die den bayerischen Staatsangehörigen zuerkannt würden – z.B. das Wahlrecht -, wegen Art. 8 BV, Art. 33 Abs. 1 GG allen anderen Deutschen unter den gleichen Voraussetzungen zustehen müßten.

Um das zu verstehen, muss man sich die drei Anwendungsfälle der bayerischen Staatsbürgerschaft und deren Auswirkungen ansehen:

  • Bayern, die auch Deutsche sind: Unproblematisch.
  • Deutsche, die keine Bayern sind, aber in Bayern leben: Unproblematisch, da sie über die genannten Verfassungsnormen den Bayerns gleichgestellt werden.
  • Bayern, die keine Deutschen sind: Darf es nicht geben.

Damit ist Artikel 6 der Bayerischen Verfassung praktisch vollständig ausgehebelt. In den ersten beiden Fällen hat sie deswegen keine Bedeutung, weil sich alle Rechte und Pflichten aus der deutschen Staatsbürgerschaft ergeben. Und im letzten Fall erlangt sie erst recht keine Bedeutung, weil Nicht-Deutsche keine Bayern werden dürfen. Damit hat der Verfassungsgerichtshof der Regierung und dem Landtag praktisch einen Freibrief ausgestellt, über die Verfassung hinwegzusehen, indem sie der bayerischen Staatsbürgerschaft jeden Anwendungsbereich entzogen hat. Der Staatsangehörigkeit in den Ländern ist damit der Boden entzogen.

Dass die Staatsangehörigkeit in den Ländern zu dieser Zeit sogar noch ausdrücklich im Grundgesetz geregelt war, hinderte den VerfGH nicht daran, sich auf eine ungeschriebene Einschränkung durch das Grundgesetz zu berufen:

Die staatsrechtliche Einordnung in den Bundesstaat ist für ein Land so umfassend, daß ihm eine Zweiteilung seiner Staatsbürger in solche, die zugleich Deutsche sind, und in andere, die nicht Deutsche sind, durch das Grundgesetz versagt ist.

Zu dieser Aussage müsste man konsequenterweise fragen: Wieso? Woraus soll sich das ergeben? Und mehr noch, warum geht das GG dann überhaupt von einer Staatsbürgerschaft der Länder aus? Auch der folgende Satz erhellt dies kaum bzw. macht einen noch ratloser:

Das bundesstaatliche Prinzip läßt es nicht zu, daß die Länder, deren Staatsgebiete insgesamt das Bundesstaatsgebiet bilden, in das Bundesvolk nur einen Teil ihres eigenen Staatsvolks einbringen.

Haben die Länder ihr Volk wirklich „in den Bund eingebracht“? Sind die Bürger Verfügungsmasse ihrer Heimatländer? Und warum kann jemand nicht Staatsbürger des Landes, aber nicht Staatsbürger des Bundes sein? Er kann ja auch Bewohner eines Landes (und des Bundes) sein, aber weder Staatsbürger des einen noch des anderen.

Es könnte also z.B. bayerische Staatsangehörige geben, die – weil sie nicht zugleich Deutsche wären – etwa von den bundesrechtlichen Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Artl. 8 Abs. 1 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ausgeschlossen wären oder an das Ausland ausgeliefert werden dürften (Art. 16 Abs. 2 GG).

Und weil sie sich nicht versammeln dürften, darf es keine nicht-deutschen Bayern geben…?

Denn die Landesregierungen, die den Bundesrat bilden (Art. 50 und 51 Abs. 1 GG), die Mitglieder der Bundesversammlung, die den Landesparlamenten angehören (Art. 54 Abs. 3 GG) und die Landesminister, die an der Richterwahl mitwirken (Art. 95 Abs. 1 und Abs. 2 GG), sind nach Landesverfassungsrecht bestellte Organe. Im Gesetzgebungsverfahren des Bundes könnten dann Ausländer im Sinn des Bundesrechts, die aber zugleich Staatsangehörige eines Bundeslandes wären, mittelbar beim Erlaß bundesrechtlicher Regelungen mitwirken

Das Beispiel der Bundesversammlung ist schon falsch, da die von den Landtagen bestellten Mitglieder nicht auch Mitglied des Landtags sein müssen (so werden häufig Prominente entsendet) und im Übrigen das Bundespräsidentenwahlgesetz festlegt, dass sie Deutsche sein müssen.

Aber richtig, das wäre dann denkbar, dass Bayern, die keine Deutschen sind, bis zum Staatsminister aufsteigen können. Will der Bundesgesetzgeber diese von der Mitgliedschaft im Bundesrat ausschließen, muss er dies eben entsprechend regeln. Oder man schwenkt auf eine derivative Bundesbürgerschaft um, wie sie vor 1934 galt: Wer Landesbürger ist, ist automatisch Bundesbürger (bzw. war früher Reichsbürger). Dann ergäben sich die ganzen angeblichen Probleme nicht, aber die Staatsangehörigkeit wäre vollends in die Hände der Länder gelegt.

Man fragt sich aber auch, warum der Bundesgesetzgeber sein früheres Recht gemäß Art. 74 Nr. 8 GG (siehe oben), die Länderstaatsangehörigkeiten zu regeln, nie wahrgenommen hat, wenn doch derart gewichtige Nachteile drohen. Offensichtlich wurden diese Probleme nie als solche erkannt – da musste schon ausgerechnet der Bayerische Verfassungsgerichtshof in die Bresche springen und die Bundesrepublik vor schlimmstem Ungemach aus dem Freistaat bewahren.

Und auch, wenn man zu dem Schluss kommt, dass das Urteil vertretbar ist, stellt sich schon die Frage, ob es die Aufgabe eines bayerischen Verfassungsorgans ist, hier in vorauseilendem Gehorsam ein wesentliches und in der Verfassung festgelegtes Merkmal bayerischer Staatlichkeit derart gründlich zu eliminieren. Man könnte auch von einem Gericht erwarten, dass es sich hier eher auf die Seite des eigenen Staates schlägt und es dem Bund überlässt, gegen unerwünscht empfundene Auswirkungen vorzugehen. Stattdessen hat der BayVerfGH auf Interpretationsebene einen ganzen Artikel praktisch aus der Verfassung raus geurteilt.

Für die dafür verwendete juristische Technik ist das Textkonvolut unter cc) geradezu beispielhaft. Mit richtiggehendem Furor, ohne Absätze und ohne sauber getrennte juristische Argumente reiht das Gericht Befürchtungen, Warnungen und schwer nachvollziehbare Beispiele aneinander, die wirken, als wollten sie den Bund gegen innere Auflösung verteidigen. An vielen Stellen hat man das Gefühl, dass das Ergebnis einfach gar kein anderes sein konnte und die Richter die Worte gesucht haben, mit denen sie das in juristische Formen gießen konnten. Diese Worte haben sie aber, das darf man recht nüchtern konstatieren, nicht gefunden.

Insgesamt wird man also kaum annehmen können, dass dieses Urteil das letzte Wort in der Sache ist. Die Entscheidung lässt zu viele Fragen offen und es erscheint äußerst zweifelhaft, ob sie heute noch einmal so ergehen würde. Eine neue Klage mit denselben Argumenten, vielleicht etwas zielgenauer formuliert, unterfüttert mit neuen Gesichtspunkten angesichts der veränderten Verfassungs- und Europarechtslage und unmittelbar auf die Argumente der vorliegenden Entscheidung gerichtet, könnte durchaus Erfolg haben.

Bayerischer Verfassungsgerichtshof, 12.03.1986, Vf 23-VII-84

hammer-719062_640Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 12.03.1986

Aktenzeichen: BayVerfGH, Vf 23-VII-84

Fundstellen: VerfGH 39, 30; BayVBl 1986, 396; JZ 1986, 101; NJW 1986, 2820

Eine kritische Rezension dieses Urteils finden Sie ebenfalls auf dieser Homepage.


1. Art. 1 Abs. 1 des Landeswahlgesetzes und Art. 1 Abs. 1 des Gemeindewahlgesetzes verstoßen nicht dadurch gegen Art. 7 Abs. 2 und Art. 118 Abs. 1 BV, daß sie bei der Regelung der Wahlberechtigung nicht an eine besondere bayerische Staatsangehörigkeit, sondern an die Eigenschaft als Deutscher im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG anknüpfen.

2. Durch Art. 6 BV ist die Bayerische Staatsangehörigkeit als Institution wieder eingeführt worden. Eine konkrete Zuerkennung der bayerischen Staatsangehörigkeit an bestimmte Personen ist aber nicht möglich, solange das in Art. 6 Abs. 3 BV vorgesehene Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit nicht erlassen ist.

3. Ein bayerisches Gesetz dürfte die bayerische Staatsangehörigkeit nicht Personen zuerkennen, die nicht zugleich Deutsche im Sinn des Grundgesetzes sind. Das im Grundgesetz verankerte bundesstaatliche Prinzip schließt es aus, daß der Kreis der Landesangehörigen insgesamt größer sein könnte als der Kreis der Deutschen.

4. Ein Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit könnte nur eingrenzende Regelungen darüber enthalten, welche Deutschen im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG zugleich bayerische Staatsangehörige im Sinn des Art. 6 Abs. 1 BV sind und welche nicht.

Aus den Gründen:

(…)

IV. Die Popularklagen sind unzulässig.

(…)

3. Auch die von der Antragstellerin zu 2. erhobene Popularklage ist unzulässig.

a) Zu den prozessualen Voraussetzungen einer Popularklage gehört, daß der Antragsteller substantiiert angeben muß, inwiefern die angefochtene Rechtsvorschrift nach seiner Meinung in Widerspruch zu einer Grundrechtsnorm der Bayerischen Verfassung steht. Die Popularklage ist unzulässig, wenn die geltend gemachte Verletzung einer Grundrechtsnorm nach Sachlage von vornherein nicht möglich ist, weil der Schutzbereich des angeblich verletzten Grundrechts durch die angefochtene Rechtsvorschrift nicht berührt wird (ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs; vgl. Meder, RdNrn. 19 und 21 zu Art. 98 m.w.N.).

Eine substantiierte Grundrechtsrüge liegt schon dann nicht vor, wenn ein Antragsteller lediglich behauptet, daß die angefochtene Rechtsvorschrift nach seiner Auffassung gegen Grundrechtsnormen der Bayerischen Verfassung verstößt. Der Verfassungsgerichtshof muß anhand von substantiiert bezeichneten Tatsachen und Vorgängen beurteilen können, ob der Schutzbereich der bezeichneten Grundrechtsnormen berührt ist (vgl. VerfGH vom 10.12.1985, Vf. 24-VII-83, S. 16, und vom 21.2.1986, BayVBl. 1986, 298/299).

b) Die von der Antragstellerin als verletzt bezeichneten Verfassungsnormen (Art. 7 Abs. 2 und Art 118 Abs. 1 BV) verbürgen Grundrechte. Eine Verletzung dieser Verfassungsnormen erscheint jedoch von vornherein nicht möglich.

aa) Die angefochtenen Bestimmungen des Landeswahlgesetzes und des Gemeindewahlgesetzes knüpfen bei der Regelung der Wahlberechtigten an den Begriff des Deutschen im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG an. Die Antragstellerin zu 2. sieht darin einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 und Art. 118 Abs. 1 BV, weil sie davon ausgeht, daß mit den angefochtenen Regelungen ein Teil der bayerischen Staatsangehörigen vom Wahlrecht ausgeschlossen werde oder zumindest ausgeschlossen werden könnte. Sie hält es für denkbar, daß es bayerische Staatsangehörige und damit gemäß Art. 7 Abs. 2 BV wahlberechtigte bayerische Staatsbürger gebe oder auf Grund eines zu erlassenden Staatsangehörigkeitsgesetzes geben könnte, die nicht zugleich Deutsche im Sinn des Grundgesetzes sind. Diese Auffassung trifft nicht zu.

bb) Durch Art. 6 BV ist die bayerische Staatsangehörigkeit als Institution wieder eingeführt worden. Unmittelbare Rechtsfolgen für den einzelnen Bürger ergeben sich daraus aber noch nicht. Art. 6 Abs. 1 BV nennt nur ganz allgemeine Voraussetzungen für den Erwerb der bayerischen Staatsangehörigkeit, wobei an herkömmliche Tatbestände des Staatsagehörigkeitsrechts angeknüpft wird (vgl. Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher, Die Verfassung des Freistaats Bayern, RdNr. 2 zu Art. 6). Eine konkrete Zuerkennung der bayerischen Staatsangehörigkeit an bestimmte Personen ist aber nicht möglich, solange das in Art. 6 Abs. 3 BV vorgesehene Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit nicht erlassen ist. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach entschieden hat, ist Art. 6 BV ohne ein solches Staatsangehörigkeitsgesetz nicht vollziehbar (VerfGH 12, 171/176 f. = BayVBl. 1960, 84/85; VerfGH vom 8.4.1970, Vf. 132-VI-69, S. 7; vgl. auch BayVGH, BayVBl. 1959, 59/60; Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher, RdNr. 4 zu Art. 6; Tschira, BayVBl. 1955, 261 ff.; Schlund, Das Standesamt 1962, 314/316). Schon deshalb ist es nicht möglich, daß durch die angefochtenen Vorschriften bayerische Staatsangehörige vom Wahlrecht zum Landtag und zu den Gemeinderäten ausgeschlossen werden könnten.

cc) Aber auch mit der Argumentation, daß der Gesetzgeber zum Erlaß eines Gesetzes über die bayerische Staatsangehörigkeit verpflichtet sei und daß er bei Erlaß eines solches Gesetzes den Kreis der bayerischen Staatsangehörigen über den Kreis der Deutschen hinaus erweitern dürfte, kann ein möglicher Verstoß von Art. 1 Abs. 1 LWG und Art. 1 Abs. 1 GWG gegen Art, 7 ABs. 2 und Art, 118 Abs. 1 BV nicht dargetan werden.

Der Verfassungsgerichtshof hat in früheren Entscheidungen offengelassen, ob Art. 6 Abs. 3 BV eine Verpflichtung des Gesetzgebers zum Erlaß eines Staatsangehörigkeitsgesetzes begründet (vgl. vor allem VerfGH 18,79/82 m.w.N. = BayVBl. 1965, 378). Die Frage bedarf auch im vorliegenden Popularklageverfahren keiner abschließenden Entscheidung. Denn selbst wenn der Gesetzgeber zum Erlaß eines Gesetzes über die bayerische Staatsangehörigkeit verpflichtet wäre, dürfte er sie doch nicht Personen zuerkennen, die nicht zugleich Deutsche im Sinn des Grundgesetzes sind. Zwar geht auch das Grundgesetz in Art. 74 Nr. 8 davon aus, daß es besondere Regelungen über die Staatsangehörigkeit in den Ländern geben darf und daß diese, da der Bund auf diesem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung noch nicht tätig geworden ist, von den Ländern erlassen werden können (Art. 70, 72 Abs. 1 GG; vgl. Maunz/Dürig, RdNrn. 119 ff. zu Art. 74; Tschria, BayVBl. 1955, 261/263). Das Grundgesetz schließt es aber aus, daß der Kreis der Landesangehörigen insgesamt größer sein könnte als der Kreis der Deutschen (vgl. Maunz in Maunz/Dürig, GG, RdNr. 121 zu Art. 74, Schätzel, Staatsangehörigkeit, in Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, 1954, 2. Band, S. 535/539; Hoffmann, Die Staatsangehörigkeit in den deutschen Bundesländern, AÖR Bd. 81 – 1956 -, S. 300/332/341, Schmellenkamp, Das Ausländerwahlrecht in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage nach den Länderverfassungen, Diss. Köln, 1985, S. 58 ff.; Tschira, BayVBl. 1955, 261/263). Es widerspräche dem Wesen des im Grundgesetz verankerten und ausgestalteten Bundesstaats, wenn es in den einzelnen Ländern Staatsbürger mit unterschiedlicher Rechtsstellung in bezug auf den Bundesstaat einerseits und auf das betreffende Land andererseits gäbe. Die staatsrechtliche Einordnung in den Bundesstaat ist für ein Land so umfassend, daß ihm eine Zweiteilung seiner Staatsbürger in solche, die zugleich Deutsche sind, und in andere, die nicht Deutsche sind, durch das Grundgesetz versagt ist. Das bundesstaatliche Prinzip läßt es nicht zu, daß die Länder, deren Staatsgebiete insgesamt das Bundesstaatsgebiet bilden, in das Bundesvolk nur einen Teil ihres eigenen Staatsvolks einbringen. Wäre es anders, so führte das im Bundesstaat zu Konsequenzen, die bundesverfassungsrechtlich nicht hinnehmbar wären. Die Rechte und Pflichten, die nach dem Grundgesetz den Deutschen zustehen oder auferlegt sind, würden dann jeweils nur einen Teil der Staatsangehörigen eines Bundeslands erfassen. Es könnte also z.B. bayerische Staatsangehörige geben, die – weil sie nicht zugleich Deutsche wären – etwa von den bundesrechtlichen Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Artl. 8 Abs. 1 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ausgeschlossen wären oder an das Ausland ausgeliefert werden dürften (Art. 16 Abs. 2 GG). Gleichzeitig hätten solche Landesangehörige, obwohl sie nicht zugleich Deutsche sind, dennoch das Recht, kraft ihrer Wahlberechtigung im Lande mittelbar an der Ausübung der Staatsgewalt im Bunde mitzuwirken. Das gälte etwa für den Bundesrat, für die Wahl des Bundespräsidenten durch di Bundesversammlung oder für die Wahl der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes. Denn die Landesregierungen, die den Bundesrat bilden (Art. 50 und 51 Abs. 1 GG), die Mitglieder der Bundesversammlung, die den Landesparlamenten angehören (Art. 54 Abs. 3 GG) und die Landesminister, die an der Richterwahl mitwirken (Art. 95 Abs. 1 und Abs. 2 GG), sind nach Landesverfassungsrecht bestellte Organe. Im Gesetzgebungsverfahren des Bundes könnten dann Ausländer im Sinn des Bundesrechts, die aber zugleich Staatsangehörige eines Bundeslandes wären, mittelbar beim Erlaß bundesrechtlicher Regelungen mitwirken, die z.B. nur Rechte und Pflichten für Deutsche begründen. Die Zahl der Beispiele solcher bundesstaatlich unauflösbarer Widersprüche ließe sich vermehren. Es wäre auch nicht zulässig, diese Widersprüche dadurch auszuräumen, daß nach Landesrecht die Zuerkennung der Staatsangehörigkeit im Lande gleichzeitig den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit mit sich brächte; denn die Staatsangehörigkeit im Bunde unterliegt der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 73 Nr. 2 GG).

dd) Ein Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit dürfte nach alledem kraft höherrangiger Gebote des Grundgesetzes keine Nicht-Deutschen zu Bayern machen, sondern könnte nur eingrenzende Regelungen darüber enthalten, welche Deutschen im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG zugleich bayerische Staatsangehörige im Sinn von Art. 6 Abs. 1 BV sind und welche nicht. Rechtliche Auswirkungen eines solchen Gesetzes wären kaum denkbar, weil alle Rechte, die den bayerischen Staatsangehörigen zuerkannt würden – z.B. das Wahlrecht -, wegen Art. 8 BV, Art. 33 Abs. 1 GG allen anderen Deutschen unter den gleichen Voraussetzungen zustehen müßten (vgl. Maunz/in Maunz/Dürig, GG, RdNr. 121 zu Art, 74). Die Regelungen der Bayerischen Verfassung von 1946 über die bayerische Staatsangehörigkeit haben mit der Einbeziehung Bayerns in die Bundesrepublik Deutschland an Bedeutung verloren.

c) Da keine zulässige Regelung der bayerischen Staatsangehörigkeit in der Weise denkbar ist, daß davon auch Personen erfaßt werden dürften, die nicht zugleich Deutsche im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG wären, können die angefochtenen Vorschriften nicht wegen der Anknüpfung an die Eigenschaft des Deutschen gegen Art. 7 Abs. 2 und Art. 118 Abs. 1 BV verstoßen. Das Fehlen eines Gesetzes über die bayerische Staatsangehörigkeit ist bei dieser Rechtslage keine entscheidungserhebliche Vorfrage im vorliegenden Verfahren. Daß der einzelne Bürger keinen Anspruch auf Erlaß eines solchen Gesetzes hat, hat der Verfassungsgerichtshof bereits entschieden (VerfGH 18, 79782 f. = BayVBl. 1965, 378).

Anti-Terror-Datei teilweise grundgesetzwidrig

Urteil des BVerfG vom 24. April 2013, 1 BvR 1215/07:

Die Errichtung der Antiterrordatei als Verbunddatei verschiedener Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, die im Kern auf die Informationsanbahnung beschränkt ist und eine Nutzung der Daten zur operativen Aufgabenwahrnehmung nur in dringenden Ausnahmefällen vorsieht, ist in ihren Grundstrukturen mit der Verfassung vereinbar.

Regelungen, die den Austausch von Daten der Polizeibehörden und Nachrichtendienste ermöglichen, unterliegen hinsichtlich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Aus den Grundrechten folgt ein informationelles Trennungsprinzip, das diesen Austausch nur ausnahmsweise zulässt.

Eine Verbunddatei zwischen Sicherheitsbehörden wie die Antiterrordatei bedarf hinsichtlich der zu erfassenden Daten und ihrer Nutzungsmöglichkeiten einer hinreichend bestimmten und dem Übermaßverbot entsprechenden gesetzlichen Ausgestaltung. Das Antiterrordateigesetz genügt dem nicht vollständig, nämlich hinsichtlich der Bestimmung der beteiligten Behörden, der Reichweite der als terrorismusnah erfassten Personen, der Einbeziehung von Kontaktpersonen, der Nutzung von verdeckt bereitgestellten erweiterten Grunddaten, der Konkretisierungsbefugnis der Sicherheitsbehörden für die zu speichernden Daten und der Gewährleistung einer wirksamen Aufsicht.

Die uneingeschränkte Einbeziehung von Daten in die Antiterrordatei, die durch Eingriffe in das Brief- und Fernmeldegeheimnis und das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung erhoben wurden, verletzt Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG.

Es bleibt abzuwarten, wie es in dieser brisanten Materie weitergeht…

Bayerische Staatsangehörigkeit: Wahlberechtigt oder nicht?

In einem halben Jahr wählt Bayern einen neuen Landtag. Da stellt sich die Frage, ob unser hypothetischer nur-bayerischer Staatsbürger eigentlich wählen darf.

Stimmberechtigt sind laut bayerischem Landeswahlgesetz grundsätzlich alle volljährigen Deutschen, die seit mindestens einem Vierteljahr in Bayern wohnen (Art. 1 Abs. 1 LWG). Nun ist der Beispielbürger aber ja gerade kein Deutscher mehr, sondern nur noch Bayer. (Zur Erinnerung: Auf die deutsche Staatsangehörigkeit wurde verzichtet, auf die bayerische nicht.) Damit wäre er also kein Deutscher und somit die erste Voraussetzung des Wahlgesetzes nicht erfüllt.

Nun stellt sich die Frage, wie diese Vorschrift zu lesen ist. (Übrigens heißt es „Deutscher im Sinn des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes“, damit sind auch Flüchtlinge aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg inbegriffen, die formell keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, aber trotzdem wie Deutsche behandelt werden müssen. Das spielt heute praktisch keine Rolle mehr.) Mit „Deutsche“ ist zunächst gemeint, dass nur Staatsbürger wählen dürfen. Ausländer sind nicht wahlberechtigt, auch keine EU-Bürger. Die Trennung zwischen Bayern und Nichtbayern geschieht nicht auf der Ebene der Staatsangehörigkeit, sondern erst auf derjenigen des Wohnsitzes. Dieser muss sich seit drei Monaten auf bayerischem Staatsgebiet befinden. Dass unser Beispielbürger noch immer in Bayern wohnt, vielleicht sogar seit Geburt ununterbrochen in Bayern gewohnt hat, reicht zwar für dieses Kriterium aus. Aber es ändert nichts daran, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft nicht (mehr) besitzt. Er wurde bereits bei der Trennung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen „ausgesiebt“ und den Nicht-Wahlberechtigten zugeordnet.

Allerdings ist nicht alles, was im Gesetz steht, auch automatisch gültig und wortwörtlich anwendbar. Auch das Gesetz muss sich an höherrangigem Recht messen lassen und das ist in dem Fall die Bayerische Verfassung. Art. 7 Abs. 2 sieht vor, dass sich die bayerischen Staatsbürger durch Wahlen und verschiedene Abstimmungen politisch äußern. Art. 13 Abs. 1 der Verfassung bezeichnet die Mitglieder des Landtags als die „Abgeordneten des bayerischen Volkes“. Insofern wäre es höchst undemokratisch, bayerische Bürger von der Landtagswahl auszuschließen.

Und es wäre auch systemwidrig. Denn Artikel 8 der Bayerischen Verfassung stellt Deutsche und Bayern in staatsbürgerlicher Hinsicht gleich:

Alle deutschen Staatsangehörigen, die in Bayern ihren Wohnsitz haben, besitzen die gleichen Rechte und haben die gleichen Pflichten wie die bayerischen Staatsangehörigen.

Und nachdem die Deutschen, unabhängig vom Besitz der bayerischen Staatsangehörigkeit, zweifellos das Wahlrecht nach dem LWG besitzen, wären die Nur-Bayern ihnen gegenüber diskriminiert, wenn sie nicht wählen dürften.

Eine verfassungskonforme Auslegung des Landeswahlgesetzes müsste also so lauten, dass die bayerischen Staatsbürger sowieso wahlberechtigt sind, auch, wenn sich dies nicht so deutlich aus dem Gesetz ergibt.

Ein derartiges Begehren würde aber mit einiger Sicherheit die beteiligten Wahlorgane vor ein erhebliches Dilemma stellen. Die bayerische Staatsangehörigkeit wird nirgends erfasst und es gibt wohl weder rechtliche noch tatsächliche Vorkehrungen, wie der Antrag eines bayerischen Staatsbürgers, doch wählen zu dürfen, zu behandeln wäre. Im Wählerverzeichnis steht er jedenfalls nicht, da dieses nach der (deutschen) Staatsangehörigkeit erstellt wird. Eine nachträgliche Eintragung (§ 13 Abs. 2 der Landeswahlordnung) geschieht nur für bestimmte Personengruppen, z. B. Beamte in Auslandstätigkeit und Strafgefangene.

Es scheint so, dass sich die Rechtswirklichkeit in Bayern ohne eine bayerische Staatsbürgerschaft eingerichtet hat.

Richtig ist, dass es aufgrund der verkümmerten Rechtslage zur bayerischen Staatsangehörigkeit keine Möglichkeit gibt, diese konkreten Personen zuzuerkennen, wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof dereinst ausgeführt hat (Urteil vom 12. März 1986, Vf 23-VII-84). Aber wenigstens hat das Gericht die allgemeine Rechtsansicht, dass die bayerische Staatsbürgerschaft als Institution von Verfassung wegen existiert, bestätigt. Diese könne jedoch nur Deutschen die bayerische Staatsbürgerschaft verwehren, sie aber nicht Nicht-Deutschen zuerkennen.

An einen Fall wie den unsrigen wurde dabei jedenfalls bisher nicht gedacht. Wie dieser entschieden würde, bleibt also vorerst offen.

Bayerische Staatsangehörigkeit: Bayer, aber kein Deutscher?

Bekanntlich ist die deutsche Staatsbürgerschaft für alle Deutschen dieselbe. Es gab einmal Zeiten, in denen dies anders war und die deutsche Staatsangehörigkeit nur von den Staatsangehörigkeiten der Länder abgeleitet war. Man war also beispielsweise Sachse und daraus abgeleitet auch Deutscher. Seit nunmehr 80 Jahren besteht die aktuelle Regelung und es gibt eben nur diese eine deutsche (seit 1990: bundesdeutsche) Staatsangehörigkeit.

Das gilt aber nur für den Bund, denn nur die Staatsangehörigkeit im Bund ist gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes überhaupt vom Bund zu regeln. Daraus folgt denklogisch, dass es auch eine Staatsangehörigkeit der Länder gibt. Eine solche sieht z. B. Bayern in Artikel 6 seiner Verfassung vor:

(1) Die Staatsangehörigkeit wird erworben
1. durch Geburt;
2. durch Legitimation;
3. durch Eheschließung;
4. durch Einbürgerung.

(2) Die Staatsangehörigkeit kann nicht aberkannt werden.

(3) Das Nähere regelt ein Gesetz über die Staatsangehörigkeit.

In der Praxis spielt diese Staatsangehörigkeit keine Rolle, da gemäß Art. 8 der Bayerischen Verfassung und Art. 33 Abs. 1 des Grundgesetzes alle Deutschen in Bayern gleich zu behandeln sind. Darum hat man sich auch nicht lange aufgehalten, das Ausführungsgesetz nach Abs. 3 zu verabschieden, das das „Nähere über die Staatsangehörigkeit“ regelt. Damit ist es sehr schwierig, die bayerische Staatsangehörigkeit in der Praxis zu behandeln, da ziemlich unklar bleibt, wie und nach welchem Verfahren sie erworben und verloren wird. Nach absolut herrschender Meinung ändert das jedoch nichts daran, dass es eine bayerische Staatsangehörigkeit gemäß Verfassung gibt.

Wer also z. B. als Tochter bayerischer Eltern in Bayern geboren wird, ist Bayerin. Es mag einige Zweifelsfälle geben, vor allem, wenn sich die Staatsbürgerschaft nicht bis auf Vorfahren zurückführen lässt, die vor 1934 noch die „echte“ bayerische Staatsbürgerschaft besaßen. Mangels Relevanz gibt es auch nicht viele Gerichtsurteile, die diese feine Trennlinie herausarbeiten konnten. Aber im Großen und Ganzen dürfte schon klar sein, wer Bayer ist und wer nicht.

In dem Zusammenhang stellt sich aber eine interessante Frage, die auch praktische Bedeutung erlangen könnte: Kann man Bayer sein, ohne Deutscher zu sein?

Der Schreiber dieser Zeilen wurde in den 1970er Jahren in Niederbayern geboren. Seine Eltern lebten seit Geburt in Niederbayern, ebenso die Großelterngeneration. Die Urgroßeltern stammten größtenteils aus Niederbayern, ein Urgroßvater aus Oberbayern, eine Urgroßmutter aus Mittelfranken. Sie alle waren bayerische Staatsbürger. Ohne vernünftigen Zweifel bin damit auch ich selbst Bayer nach Art. 6 Abs. 1 Nr. 1 der Verfassung („durch Geburt“).

Die deutsche Staatsbürgerschaft habe ich über § 3 Abs. 1 Nr. 1 und § 4 des Staatsangehörigkeitsgesetzes (das bis zum Anfang dieses Jahrtausends noch völlig anachronistisch „Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz“, RuStAG hieß) ebenfalls noch am ersten Lebenstag erhalten und besitze sie noch immer.

Ich könnte die deutsche Staatszugehörigkeit aber ablegen, wenn ich das wollen würde (§ 26 StAG). Das geht zwar nur, wenn ich mehrere Staatsbürgerschaften besäße. Die bayerische nehmen wir hier mal raus, um die Dinge nicht zu verkomplizieren; aber tun wir so als hätte ich daneben noch die österreichische Staatsbürgerschaft, weil ich mich irgendwann einmal (juristisch einwandfrei) hätte einbürgern lassen.

Was passiert dann mit meiner bayerischen Staatsbürgerschaft?

Möglicherweise ist mein Verzicht auf die bayerische Staatsbürgerschaft im Verzicht auf die deutsche schlüssig enthalten. Dahinter müsste man ein großes Fragezeichen setzen, denn so ohne Weiteres wird dieser Wille sicher nicht klar. Wenn ich in die (verpflichtend schriftliche, § 26 Abs. 1 Satz 2 StAG) Erklärung ausdrücklich hinzufüge „Dieser Verzicht erstreckt sich nicht auf die bayerische Staatsangehörigkeit gemäß Art. 6 BV“, dann bleibt für eine anderweitige Auslegung keinerlei Spielraum mehr.

Unter Umständen verliert man mit der deutschen automatisch auch die bayerische Staatsbürgerschaft. Das könnte das bayerische Staatsangehörigkeitsgesetz freilich so anordnen; aber ein solches gibt es ja gerade nicht. Daher bleibt es bei der Regelung des Art. 6 Abs. 2 der Bayerischen Verfassung, dass die bayerische Staatsangehörigkeit nicht aberkannt werden kann. Damit ist auch untersagt, sie demjenigen zu entziehen, der kein Deutscher sein mag.

In meinem Beispiel wäre ich also Bayer und Österreicher, aber kein Deutscher mehr.

In welchen Konstellationen dies von Bedeutung wäre, werde ich mit dem nächsten Beitrag ansprechen.

Bundesrecht bricht Landesrecht

Bundesrecht bricht Landesrecht.

So kurz diese Vorschrift des Grundgesetzes ist, so schwer wiegt doch ihre Bedeutung. Sie normiert, dass das Recht des Bundes dem der Länder vorgeht. Mehr noch, es wird in ungewohnt metaphorischer Sprache gar „gebrochen“ – zerstört, vernichtet, ausgelöscht. Aber auch, wenn man sich solcher Bilder nicht bedient, bringt der Artikel doch das Blut jedes ausgewiesenen Föderalisten zum Kochen: Der unbedingte und ausnahmslose Vorrang des Bundesrechts unterdrückt die Gliedstaaten und verringert ihre Rechtssetzungsbefugnis quasi bis auf null. Und das alles wird mit drei einfachen Worten ausgedrückt. Könnte man meinen.

Es ist natürlich keine Frage, dass das Bundesrecht dem Landesrecht vorgeht. Nur kann dafür der Artikel nichts. Der Vorrang des Bundesrechts ist das Wesen jeder Föderation. Wenn man – unabhängig von der genauen Ausgestaltung – nicht davon ausgeht, dann braucht es eigentlich keinen Bundesstaat. Mit dem Zusammenschluß geben die Länder gewisse Kompetenzen an den Bund ab (pragmatischerweise in einem Vertrag oder einer Verfassung) und insoweit kann dieser dann Recht setzen. Einer allgemeinen Norm hierfür bedarf es dann im Grunde nicht.

Anders gesagt: Würde das Bundesrecht dem Landesrecht nicht vorgehen, dann könnte der Bund gar keine Vorschrift erlassen, die vorsieht, dass Bundesrecht dem Landesrecht vorgeht. Allerdings könnte das Bundesrecht durchaus den umgekehrten Fall anordnen, also dass das Landesrecht Vorrang genießt. Bekanntestes historisches Beispiel ist wohl die Reichskammergerichtsordnung von 1495, nach der die Richter (des Reiches) zuerst das Landesrecht anwenden sollten und nur, wenn dieses keine Regelung enthielt, auf das allgemeine (römische) Reichsrecht zurückgreifen sollten.

Im Grundgesetz war eine solche Subsidiarität gänzlich unbekannt, bis man vor einigen Jahren im Zuge der Föderalismusreform in Art. 73 Abs. 3 GG den Ländern die Möglichkeit zum Abweichen von Bundesgesetzen in einigen wenigen Fällen eröffnete. Art. 73 Abs. 3 ist also eine Ausnahme zu Art. 31 GG, könnte man wiederum meinen. Aber auch das ist falsch. Denn einen Rückgriff auf Art. 31 braucht es schon deswegen nicht, weil die Gesetzgebungszuständigkeiten in Art. 70 Abs. 1 abschließend geregelt sind: Die Länder sind zuständig, soweit nicht laut Grundgesetz der Bund zuständig ist. Wann der Bund zuständig ist, steht in Art. 71 bis 74. Über Art. 70 Abs. 1 kann es also immer nur entweder eine Zuständigkeit des Bundes oder der Länder geben. Wenn der Bund nicht zuständig ist, ist ein trotzdem erlassenes Bundesgesetz nichtig; dito für die Länder. Dass es sich widersprechende Bundes- und Landesgesetze gibt und dann Art. 31 einen Vorrang des Bundesrechts anordnen würde, kann nicht vorkommen. Die einzige Ausnahme ist der oben erwähnte Art. 73 Abs. 3, aber auch der braucht den 31er nicht, da er eine eigene spezielle Regelung trifft.

Nun geht es aber insgesamt um „Bundesrecht“, also nicht nur um Gesetze. Recht sind bspw. auch Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften. Aber auch die haben ihre eigenen Regelung in den Art. 84 bis 86, die der Gesetzgebung weitgehend angepaßt sind. Recht sind auch die Verfassungen. Deren Grundrechte bleiben gem. Art. 142 GG nur insoweit in Kraft, als sie mit denen des Grundgesetzes identisch sind, sie werden also faktisch abgeschafft; warum dies explizit als Abweichung von Art. 31 bezeichnet wird, bleibt freilich ein Geheimnis. Recht sind auch Gerichtsurteile. Deren Wirkungsbereich wird wiederum durch Art. 100 Abs. 1 GG sowie durch den Instanzenzug der Prozeßordnungen zurechtgestutzt; ein zusammenhangloses Nebeneinander von Bundes- und Landesgerichten, das eine Vorrangregelung bräuchte, existiert auch hier nicht.

Einen echten Geltungskonflikt gibt es also nirgends. So verwundert es auch nicht, dass man in Urteilsdatenbanken relativ wenige Entscheidungen zu dieser Norm findet. Und dort, wo sie zitiert wird, kommt es beim Urteil in aller Regel nicht darauf an. (Allenfalls wird im Zusammenspiel mit erwähntem 142 darüber gestritten, ob man nun vor dem Landesverfassungsgericht klagen kann, was allenfalls prozeßtaktisch zu verstehen ist.) So fragt man sich dann doch, wie der Artikel überhaupt dereinst ins Grundgesetz gekommen ist. Ich nehme an, dass man einer derartigen Vorschrift wohl einen größeren Anwendungsbereich zugeschrieben hatte oder zumindest einen Basisgedanken des Bundesstaates deklarieren wollte. Vielleicht wollte man, und dafür spricht auch der resolute Wortlaut, im Hinblick auf die entstehende Republik auch den Vorrang des Bundes allgemein kodifizieren. Einfacher gesagt: Den Ländern zeigen, wo der Hammer hängt.

Three Strikes

Das „Three Strikes“-Konzept kommt aus dem Baseball. Wer dreimal den Ball nicht trifft, ist draußen. Seit längerer Zeit steht es aber auch für ein sicherheitspolitisches Konzept. Der Staat reagiert in drei Strikes auf Verbrechen und beim dritten ist man dann für sehr lange Zeit weg – zumindest im „Land of the free“, hierzulande hat sich das noch nicht durchgesetzt. Zulauf hat die Idee dagegen im Zuge der Diskussion um Internetsperren bekommen. Quasi als Retourkutsche dafür gab es dann eine Forderung, die „Three Strikes“ auch gegen Politiker anzuwenden: Wer dreimal einem verfassungswidrigen Gesetz zustimmt, ist sein Mandat los. Das ganze ist, nehme ich an, durchaus ernst gemeint. dass es aber nicht umgesetzt werden wird, dürfte dem Verfasser auch klar gewesen sein. Meine Meinung vorweg: Prinzipiell kein schlechter Ansatz, aber so sicher nicht umsetzbar. Dem war sich wohl auch der Verfasser bewusst, siehe die abschließenden „Anregungen für die Online-Diskussion“. Wie würde das Parlamentsgeschäft mit so einem Gesetz in der Praxis ausschauen? „Three Strikes“ weiterlesen

Bundeswahlgesetz: Alle Gesetze ungültig (?)

book-2775281_1920Das Bundesverfassungsgericht hat neuerlich das Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt. Damit ist festgestellt, dass der derzeit amtierende Bundestag nach einem nichtigen Gesetz gewählt wurde. Aber nicht nur der aktuelle Bundestag ist betroffen, sondern auch alle vorherigen, denn das Gesetz ist im Wesentlichen – zumindest, was das Verhältnis von Direktmandaten, Listensitzen und die ausgleichenden Überhangmandate betrifft – seit 1956 unverändert. Alle Bundestage von 1957 bis 2009 wurden also auf verfassungswidriger Grundlage gewählt.

Das legt den Schluss nahe, dass auch alle in den letzten Jahrzehnten verabschiedeten Gesetze ungültig sind. Schließlich kann ein verfassungswidrig gewähltes Parlament ja keine verfassungskonformen Gesetze beschließen. „Bundeswahlgesetz: Alle Gesetze ungültig (?)“ weiterlesen

Bundesverfassungsgericht zu Überhangmandaten

Wenn man manche Presseartikel derzeit liest, könnte man meinen, der ganze Bundestag bestünde ausschließlich aus Überhangmandaten. Als das Bundesverfassungsgericht unser Bundestagswahlrecht für verfassungswidrig erklärt und eine Neuregelung für 2013 verlangt hat, ist die Diskussion kurz aufgeflammt, hat sich dann aber gleich wieder beruhigt. Nun wurde auch diese Neuregelung verworfen und so wird man sich um eineverfassungskonforme Ausgestaltung bemühen müssen.

Die SPD wähnt sich aus unbekannten Gründen als Leidtragende von Überhangmandaten, will eine möglichst schnelle Reform und führt teilweise einen fast surrealen Wahlkampf auf der Meta-Ebene. Dabei sind die Überhangmandate an sich keineswegs verfassungswidrig. Nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist lediglich die Problematik des negativen Stimmgewichts. Bevor ich das lang erkläre, verweise ich einfach auf den Wikipedia-Artikel dazu.

Kurz gesagt: Bekommt eine Partei in einem Bundesland, in dem sie Überhangmandate erhält, möglichst wenige Zweitstimmen, dann bekommt sie bundesweit tendenziell mehr Gesamtsitze. Da das ganze kaum vorhersehbar ist, gibt es keine wirkliche Möglichkeit, taktisch so zu wählen, daß man „seiner“ Partei oder ggf. einer bestimmten Koalition mehr Mandate verschafft. Nur, wenn es eine isolierte Wahl in einem bestimmten Wahlkreis gibt und das Ergebnis der restlichen Abstimmung bekannt ist, kann man diese Effekte zielgerichtet nutzen. Und so ist es auch 2005 in Dresden passiert – was die erfolgreiche Klage provoziert hat. Dort rief sogar die CDU dazu auf, doch bitte mit der Zweitstimme die FDP zu wählen. Ob umgekehrt es einen Wahlaufruf seitens Rot-Grün für die CDU gegeben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. (So ein bißchen erinnert das an das Fußballspiel Barbados gegen Grenada 1994…)

Natürlich ist diese Anomalie des Wahlrechts äußerst unglücklich. Aber man sollte nicht so tun, als wäre das ein beachtenswerter und das Abstimmungsverhalten im Regelfall beeinflussender Systemfehler. Da gibt es wirklich noch ganz andere Kritikpunkte an der Wahlgesetzgebung, um die man sich zuerst kümmern sollte.

Die Bundeszentrale und das Grundgesetz

Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat es sich zum Ziel gesetzt, den Bürgern politisches Wissen zu vermitteln. Wenn es um die Fundamente der Bundesrepublik geht, vermischt sich politisches und juristisches Wissen notgedrungen. Und so gibt es im Internetangebot der BPB auch zahlreiche Texte mit deutlich juristischem Einschlag. Einer dieser Artikel beschäftigt sich mit der Entstehung des Grundgesetzes und seiner Ausarbeitung durch den Parlamentarischen Rat.

Die genaue Entstehung des Textes von Prof. Hans Vorländer, seines Zeichens durchaus angesehener Politikwissenschaftler, wäre sicher interessant. Das Ergebnis, das die BPB auf seiner Internetseite darbietet, lässt darauf schließen, dass es sich um eine (wenig gelungene) Verkürzung eines längeren Textes handelt. Vielleicht ist es auch nur nicht gelungen, das sicher immense Wissen des Autors in einen leicht verdaulichen Text zu gießen. Nach ausgiebiger Lektüre bleibt leider größtenteils offen, was der Autor damit sagen will. Und man kann sich kaum vorstellen, wie ein normaler, juristisch, historisch und politisch nicht übermäßig bewanderter Bürger daraus wirklich neue Erkenntnisse ziehen soll.

Schon allein der Titel der Seite in der thematischen Navigation der Seite irritiert. Dort steht:

Warum keine Verfassung

Die Überschrift auf der Seite lautet dagegen auf einmal:

Warum Deutschlands Verfassung Grundgesetz heißt

Die erste Version unterstellt, dass das Grundgesetz keine Verfassung ist, die zweite dagegen stellt klar, dass das deutsche Verfassungsgesetz den Namen „Grundgesetz“ trägt. Davon rückt der Autor aber schon wenig später wieder ab:

Auch hatte es wie andere Verfassungen eine konstituierende Bedeutung für den neuen Staat, denn die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 ist zugleich die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch fehlten ihm entscheidende Attribute: Das Grundgesetz war eben keine Verfassung.

Welche Attribute das sein sollen, verrät er leider nicht so genau. Allenfalls die Tatsache, dass das GG nicht durch Volksentscheid angenommen wurde, könnte so interpretierbar sein:

Und es wurde auch nicht vom Volk in einem Referendum ratifiziert.

Denn normalerweise, so Prof. Vorländer, werde ein Verfassungsgesetz folgendermaßen erarbeitet:

Nachdem eine verfassunggebende Versammlung den Text der Verfassung entworfen hat, wird diese vom Volk in einem Referendum beschlossen.

Das ist so in dieser Absolutheit nicht richtig. In der deutschen Geschichte wurde keine einzige Verfassung jemals per Referendum beschlossen. Und von den 1949 geltenden Verfassungen der Siegermächte wurde auch nur die französische Verfassung in dieser Weise ratifiziert, die anderen beschritten andere Wege:

  • Die Verfassung der USA wurde durch Versammlungen der Bundesstaaten verabschiedet.
  • Die Verfassung der Sowjetunion von 1936 wurde durch einen „außerordentlichen Sowjetkongress“ beschlossen.
  • Und das Vereinigte Königreich besitzt bekanntlich auch heute noch keine geschriebene Verfassung.

Es gab also keine deutsche oder international gebräuchliche Verfassungstradition, die eine verfassunggebende Versammlung und ein Referendum notwendig gemacht hätte.

Wie aber kam es, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland „nur“ ein Grundgesetz war?

Dieses „nur“ unterstellt bereits, dass ein Grundgesetz weniger sei als eine Verfassung. Das ist einfach falsch. Bereits die Verfassungsnormen des Heiligen Römischen Reichs (das freilich kein Staat, sondern nur ein loser Staatenbund war) hießen „leges fundamentales“ – Grundgesetze. Schweden, Norwegen, die Niederlande, Russland, Österreich und gut ein Dutzend Staaten, die mittlerweile Teil Deutschlands waren, (z.B. Sachsen, Hannover, Oldenburg, Mecklenburg und Hessen) nannten ihre Verfassungen „Grundgesetz“. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, dass dadurch irgendein Makel ausgedrückt würde. Es gab und gibt eine Tradition in Mitteleuropa, dass man die Verfassungsgesetze als Grundgesetze bezeichnet.

Außerdem konnte man damit – rein politisch – ausdrücken, dass diese Verfassung noch nicht das letzte Wort ist:

Die Spaltung Deutschlands war in ihren Augen nur eine vorübergehende und durfte nicht durch eine Verfassung verfestigt werden.

Daher äußerten sie sich auch sehr reserviert gegenüber der Absicht, „dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates“ zu verleihen.

anstelle einer „Verfassunggebenden Versammlung“ also ein „Parlamentarischer Rat“, anstelle einer „Verfassung“ ein „Grundgesetz“.

Aber eben nur politisch. Juristisch ist ein Grundgesetz selbstverständlich ein Verfassungsgesetz, sofern es die Definition eines solchen erfüllt. Und historisch war die Begrifflichkeit eben auch völlig eindeutig.

Diese so genannten Frankfurter Dokumente enthielten die Aufforderung an die Ministerpräsidenten, eine „Verfassunggebende Versammlung“ einzuberufen, um „eine demokratische Verfassung“ auszuarbeiten.

Und genau das haben sie ja auch gemacht.

so zutreffend charakterisiert sie die Tatsache, dass aus dem Grundgesetz eine Verfassung geworden ist.

Wodurch hat denn das Grundgesetz seinen Charakter gewandelt? Welches bisher fehlende Attribut einer Verfassung hat es im Laufe der Zeit bekommen? Eine Volksabstimmung jedenfalls nicht, denn diese hat ja bisher nie stattgefunden. Es bleibt völlig unklar, was der Autor damit sagen will. Zumindest erkennt er an, dass das Grundgesetz heute eine Verfassung ist. Da sich an ihm (bis auf zahllose Änderungen in Details, vor allem zur Ausweitung der Bundeszuständigkeiten auf Kosten der Länder) aber nichts Fundamentales geändert hat, lässt das den Schluss zu, dass das Grundgesetz eben doch (was eigentlich kein Jurist ernsthaft bestreitet) von Anfang an eine Verfassung war.

Das Grundgesetz, nur für eine Übergangszeit gedacht, nämlich bis zu dem Zeitpunkt, wo, wie der ursprüngliche Artikel 146 vorschrieb, sich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung gibt, blieb bestehen.

Auch diese Vorschrift muss man nach ihrem politischen und ihrem juristischen Gehalt trennen. Rein rechtlich ist dieser Artikel völlig verzichtbar, denn er drückt lediglich Selbstverständliches aus: Das Grundgesetz kann durch eine andere Verfassung ersetzt werden, aber nur, wenn das Volk diese in freier Selbstbestimmung verabschiedet hat. Eine nicht demokratisch beschlossene Verfassung genügt dem also nicht.

Politisch bedeutete Art. 146 GG im Jahr 1949 etwas ganz anderes: Das Grundgesetz als Verfassung des westdeutschen Staates ist nur ein Provisorium, denn spätestens in ein paar Jahren haben wir die Wiedervereinigung und dann wird sowieso eine neue gesamtdeutsche Verfassung von Nöten sein.

Es ist bekanntlich anders gekommen, aus dem Provisorium wurde etwas sehr Dauerhaftes und so war die Diskussion nach der Wiedervereinigung, ob man das Grundgesetz beibehalten oder durch eine neue Verfassung ersetzen will, ziemlich schnell beendet. So lange hätte das Grundgesetz als Staatsfundament aber nicht durchhalten können, wenn es nicht von Anfang eine Verfassung gewesen wäre.

Denn die Frage, ob eine Rechtsnorm eine Verfassung ist, beurteilt sich nicht danach, wie sie heißt, wie sie verabschiedet wurde und wo sie gilt, sondern danach, was sie ist. Eine Verfassung ist die grundlegende staatsrechtliche Norm eines staatlichen Gebildes, sie legt die Staatsorgane, ihre Bildung und ihre Kompetenzen fest, sagt, wie der Staat aufgebaut ist, und hat in der heute üblichen Form auch noch einen Grundrechtsteil. All das findet sich im Grundgesetz – sowohl 2012 als auch 1949.

Und auch Prof. Vorländer weiß das, wie an verschiedenen Stellen des Aufsatzes immer wieder durchscheint. Insofern ist es schade, dass ein eigentlich recht erhellender Text durch begriffliche Ungenauigkeiten und missverständliche Aussagen zu falschen Schlussfolgerungen verleitet.