Bundeswahlgesetz: Alle Gesetze ungültig (?)

book-2775281_1920Das Bundesverfassungsgericht hat neuerlich das Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt. Damit ist festgestellt, dass der derzeit amtierende Bundestag nach einem nichtigen Gesetz gewählt wurde. Aber nicht nur der aktuelle Bundestag ist betroffen, sondern auch alle vorherigen, denn das Gesetz ist im Wesentlichen – zumindest, was das Verhältnis von Direktmandaten, Listensitzen und die ausgleichenden Überhangmandate betrifft – seit 1956 unverändert. Alle Bundestage von 1957 bis 2009 wurden also auf verfassungswidriger Grundlage gewählt.

Das legt den Schluss nahe, dass auch alle in den letzten Jahrzehnten verabschiedeten Gesetze ungültig sind. Schließlich kann ein verfassungswidrig gewähltes Parlament ja keine verfassungskonformen Gesetze beschließen.

Eine derartige Erschütterung des gesamten Rechtswesens der Bundesrepublik und des Alltags seiner Bürger wäre freilich über die Empörung, dass das Wahlgesetz schon wieder inkorrekt ist, weit hinausgegangen. Dass dies nirgends in der Fachwelt so gesehen wurde, spricht schon dafür, dass dem wohl auch nicht so ist. Trotzdem gibt es nicht wenige Blogschreiber und auch Journalisten, die diese Rechtsfolge ins Spiel gebracht haben.

Zum einen ist dieser Schluss nicht gerade zwingend. Die – leider – weitgehend anerkannte Radbruchsche Formel besagt, dass grundsätzlich sogar Diktaturen gültiges Recht setzen können. Dann muss es dem in einer Nuance verfassungswidrig zusammengesetzten demokratisch gewählten Parlament eines demokratischen Staates erst recht möglich sein.

Allerdings hätte das Bundesverfassungsgericht ohne jeden Zweifel anordnen können, dass alle Gesetze seit der ersten Sitzung des 1957 gewählten Bundestags tatsächlich nichtig sind. Der Rechtsstand zum Ende der Legislaturperiode 1953-57 wäre dann wiederhergestellt worden. Damit hätte das Bundesverfassungsgericht den Gesetzgeber vor eine immense Aufgabe gestellt. Als erstes hätte das BVerfG aber dafür sorgen müssen, dass es überhaupt wieder einen Gesetzgeber gibt. Das letzte Bundeswahlgesetz war ausschließlich für die Wahl 1953 gedacht und damit nicht mehr anwendbar (ob es überhaupt verfassungsgemäß wäre oder die Überhangproblematik die gleiche ist, wäre dann die nächste Frage gewesen). Somit hätte das Gericht selbst ein Bundeswahlgesetz im Urteil beschließen müssen, was denkbar gewesen wäre, da seine Entscheidungen Gesetzeskraft haben können (§ 31 Abs. 2 BVerfGG).

Das haben die Karlsruher Richter aber nicht getan. Im Gegenteil, beim ersten Urteil zum Bundeswahlgesetz im Jahr 2008 (2 BvC 1/07, 2 BvC 7/07) hat das BVerfG explizit ausgeführt, dass der „Wahlfehler nicht so gewichtig ist, dass er die Auflösung des 16. Deutschen Bundestages rechtfertigen würde“ (Abs. 138). Mehr noch, sogar die zu diesem Zeitpunkt bevorstehende Bundestagswahl 2009 durfte ausnahmsweise noch nach dem für nichtig erklärten Wahlrecht stattfinden, da eine ansonsten notwendige kurzfristige Neuregelung möglicherweise überhastet gewesen wäre. (Abs. 144)

Nehmen wir mal die Sicht derer, die alle deutschen Gesetze der letzten 55 Jahre für ungültig halten, als wahr hin: Das würde dann auch bedeuten, dass das BVerfG die Wahl 2009 sehenden Auges in völliger Nichtigkeit hätte stattfinden lassen. Der so gewählte Gesetzgeber wäre dann keiner gewesen und hätte die Neuregelung des Bundeswahlgesetzes gar nicht rechtlich einwandfrei beschließen können. Damit wäre jeder Bundestag, der aufgrund dieses neuen Wahlgesetzes (das dann zwar die Überhangproblematik wohl verfassungskonform gelöst hätte, aber wegen der verfassungswidrig gewählten und damit handlungsunfähigen Abgeordneten trotzdem nicht grundgesetzkonform wäre) wiederum verfassungswidrig und könnte keine Gesetze beschließen.

Wenn man diese Theorie konsequent zuende denkt, wäre die Gesetzgebung in der Bundesrepublik damit für alle Ewigkeit auf den Stand des Jahres 1957 zurückgeworfen und es gäbe keinerlei Möglichkeit mehr, dies zu ändern.

Hätte das Bundesverfassungsgericht genau das gewollt, hätte es das höchstwahrscheinlich auch gesagt.

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