Bayerische Staatsangehörigkeit: Bayer, aber kein Deutscher?

Bekanntlich ist die deutsche Staatsbürgerschaft für alle Deutschen dieselbe. Es gab einmal Zeiten, in denen dies anders war und die deutsche Staatsangehörigkeit nur von den Staatsangehörigkeiten der Länder abgeleitet war. Man war also beispielsweise Sachse und daraus abgeleitet auch Deutscher. Seit nunmehr 80 Jahren besteht die aktuelle Regelung und es gibt eben nur diese eine deutsche (seit 1990: bundesdeutsche) Staatsangehörigkeit.

Das gilt aber nur für den Bund, denn nur die Staatsangehörigkeit im Bund ist gemäß Art. 73 Abs. 1 Nr. 2 des Grundgesetzes überhaupt vom Bund zu regeln. Daraus folgt denklogisch, dass es auch eine Staatsangehörigkeit der Länder gibt. Eine solche sieht z. B. Bayern in Artikel 6 seiner Verfassung vor:

(1) Die Staatsangehörigkeit wird erworben
1. durch Geburt;
2. durch Legitimation;
3. durch Eheschließung;
4. durch Einbürgerung.

(2) Die Staatsangehörigkeit kann nicht aberkannt werden.

(3) Das Nähere regelt ein Gesetz über die Staatsangehörigkeit.

In der Praxis spielt diese Staatsangehörigkeit keine Rolle, da gemäß Art. 8 der Bayerischen Verfassung und Art. 33 Abs. 1 des Grundgesetzes alle Deutschen in Bayern gleich zu behandeln sind. Darum hat man sich auch nicht lange aufgehalten, das Ausführungsgesetz nach Abs. 3 zu verabschieden, das das „Nähere über die Staatsangehörigkeit“ regelt. Damit ist es sehr schwierig, die bayerische Staatsangehörigkeit in der Praxis zu behandeln, da ziemlich unklar bleibt, wie und nach welchem Verfahren sie erworben und verloren wird. Nach absolut herrschender Meinung ändert das jedoch nichts daran, dass es eine bayerische Staatsangehörigkeit gemäß Verfassung gibt.

Wer also z. B. als Tochter bayerischer Eltern in Bayern geboren wird, ist Bayerin. Es mag einige Zweifelsfälle geben, vor allem, wenn sich die Staatsbürgerschaft nicht bis auf Vorfahren zurückführen lässt, die vor 1934 noch die „echte“ bayerische Staatsbürgerschaft besaßen. Mangels Relevanz gibt es auch nicht viele Gerichtsurteile, die diese feine Trennlinie herausarbeiten konnten. Aber im Großen und Ganzen dürfte schon klar sein, wer Bayer ist und wer nicht.

In dem Zusammenhang stellt sich aber eine interessante Frage, die auch praktische Bedeutung erlangen könnte: Kann man Bayer sein, ohne Deutscher zu sein?

Der Schreiber dieser Zeilen wurde in den 1970er Jahren in Niederbayern geboren. Seine Eltern lebten seit Geburt in Niederbayern, ebenso die Großelterngeneration. Die Urgroßeltern stammten größtenteils aus Niederbayern, ein Urgroßvater aus Oberbayern, eine Urgroßmutter aus Mittelfranken. Sie alle waren bayerische Staatsbürger. Ohne vernünftigen Zweifel bin damit auch ich selbst Bayer nach Art. 6 Abs. 1 Nr. 1 der Verfassung („durch Geburt“).

Die deutsche Staatsbürgerschaft habe ich über § 3 Abs. 1 Nr. 1 und § 4 des Staatsangehörigkeitsgesetzes (das bis zum Anfang dieses Jahrtausends noch völlig anachronistisch „Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz“, RuStAG hieß) ebenfalls noch am ersten Lebenstag erhalten und besitze sie noch immer.

Ich könnte die deutsche Staatszugehörigkeit aber ablegen, wenn ich das wollen würde (§ 26 StAG). Das geht zwar nur, wenn ich mehrere Staatsbürgerschaften besäße. Die bayerische nehmen wir hier mal raus, um die Dinge nicht zu verkomplizieren; aber tun wir so als hätte ich daneben noch die österreichische Staatsbürgerschaft, weil ich mich irgendwann einmal (juristisch einwandfrei) hätte einbürgern lassen.

Was passiert dann mit meiner bayerischen Staatsbürgerschaft?

Möglicherweise ist mein Verzicht auf die bayerische Staatsbürgerschaft im Verzicht auf die deutsche schlüssig enthalten. Dahinter müsste man ein großes Fragezeichen setzen, denn so ohne Weiteres wird dieser Wille sicher nicht klar. Wenn ich in die (verpflichtend schriftliche, § 26 Abs. 1 Satz 2 StAG) Erklärung ausdrücklich hinzufüge „Dieser Verzicht erstreckt sich nicht auf die bayerische Staatsangehörigkeit gemäß Art. 6 BV“, dann bleibt für eine anderweitige Auslegung keinerlei Spielraum mehr.

Unter Umständen verliert man mit der deutschen automatisch auch die bayerische Staatsbürgerschaft. Das könnte das bayerische Staatsangehörigkeitsgesetz freilich so anordnen; aber ein solches gibt es ja gerade nicht. Daher bleibt es bei der Regelung des Art. 6 Abs. 2 der Bayerischen Verfassung, dass die bayerische Staatsangehörigkeit nicht aberkannt werden kann. Damit ist auch untersagt, sie demjenigen zu entziehen, der kein Deutscher sein mag.

In meinem Beispiel wäre ich also Bayer und Österreicher, aber kein Deutscher mehr.

In welchen Konstellationen dies von Bedeutung wäre, werde ich mit dem nächsten Beitrag ansprechen.

Bundesrecht bricht Landesrecht

Bundesrecht bricht Landesrecht.

So kurz diese Vorschrift des Grundgesetzes ist, so schwer wiegt doch ihre Bedeutung. Sie normiert, dass das Recht des Bundes dem der Länder vorgeht. Mehr noch, es wird in ungewohnt metaphorischer Sprache gar „gebrochen“ – zerstört, vernichtet, ausgelöscht. Aber auch, wenn man sich solcher Bilder nicht bedient, bringt der Artikel doch das Blut jedes ausgewiesenen Föderalisten zum Kochen: Der unbedingte und ausnahmslose Vorrang des Bundesrechts unterdrückt die Gliedstaaten und verringert ihre Rechtssetzungsbefugnis quasi bis auf null. Und das alles wird mit drei einfachen Worten ausgedrückt. Könnte man meinen.

Es ist natürlich keine Frage, dass das Bundesrecht dem Landesrecht vorgeht. Nur kann dafür der Artikel nichts. Der Vorrang des Bundesrechts ist das Wesen jeder Föderation. Wenn man – unabhängig von der genauen Ausgestaltung – nicht davon ausgeht, dann braucht es eigentlich keinen Bundesstaat. Mit dem Zusammenschluß geben die Länder gewisse Kompetenzen an den Bund ab (pragmatischerweise in einem Vertrag oder einer Verfassung) und insoweit kann dieser dann Recht setzen. Einer allgemeinen Norm hierfür bedarf es dann im Grunde nicht.

Anders gesagt: Würde das Bundesrecht dem Landesrecht nicht vorgehen, dann könnte der Bund gar keine Vorschrift erlassen, die vorsieht, dass Bundesrecht dem Landesrecht vorgeht. Allerdings könnte das Bundesrecht durchaus den umgekehrten Fall anordnen, also dass das Landesrecht Vorrang genießt. Bekanntestes historisches Beispiel ist wohl die Reichskammergerichtsordnung von 1495, nach der die Richter (des Reiches) zuerst das Landesrecht anwenden sollten und nur, wenn dieses keine Regelung enthielt, auf das allgemeine (römische) Reichsrecht zurückgreifen sollten.

Im Grundgesetz war eine solche Subsidiarität gänzlich unbekannt, bis man vor einigen Jahren im Zuge der Föderalismusreform in Art. 73 Abs. 3 GG den Ländern die Möglichkeit zum Abweichen von Bundesgesetzen in einigen wenigen Fällen eröffnete. Art. 73 Abs. 3 ist also eine Ausnahme zu Art. 31 GG, könnte man wiederum meinen. Aber auch das ist falsch. Denn einen Rückgriff auf Art. 31 braucht es schon deswegen nicht, weil die Gesetzgebungszuständigkeiten in Art. 70 Abs. 1 abschließend geregelt sind: Die Länder sind zuständig, soweit nicht laut Grundgesetz der Bund zuständig ist. Wann der Bund zuständig ist, steht in Art. 71 bis 74. Über Art. 70 Abs. 1 kann es also immer nur entweder eine Zuständigkeit des Bundes oder der Länder geben. Wenn der Bund nicht zuständig ist, ist ein trotzdem erlassenes Bundesgesetz nichtig; dito für die Länder. Dass es sich widersprechende Bundes- und Landesgesetze gibt und dann Art. 31 einen Vorrang des Bundesrechts anordnen würde, kann nicht vorkommen. Die einzige Ausnahme ist der oben erwähnte Art. 73 Abs. 3, aber auch der braucht den 31er nicht, da er eine eigene spezielle Regelung trifft.

Nun geht es aber insgesamt um „Bundesrecht“, also nicht nur um Gesetze. Recht sind bspw. auch Verordnungen oder Verwaltungsvorschriften. Aber auch die haben ihre eigenen Regelung in den Art. 84 bis 86, die der Gesetzgebung weitgehend angepaßt sind. Recht sind auch die Verfassungen. Deren Grundrechte bleiben gem. Art. 142 GG nur insoweit in Kraft, als sie mit denen des Grundgesetzes identisch sind, sie werden also faktisch abgeschafft; warum dies explizit als Abweichung von Art. 31 bezeichnet wird, bleibt freilich ein Geheimnis. Recht sind auch Gerichtsurteile. Deren Wirkungsbereich wird wiederum durch Art. 100 Abs. 1 GG sowie durch den Instanzenzug der Prozeßordnungen zurechtgestutzt; ein zusammenhangloses Nebeneinander von Bundes- und Landesgerichten, das eine Vorrangregelung bräuchte, existiert auch hier nicht.

Einen echten Geltungskonflikt gibt es also nirgends. So verwundert es auch nicht, dass man in Urteilsdatenbanken relativ wenige Entscheidungen zu dieser Norm findet. Und dort, wo sie zitiert wird, kommt es beim Urteil in aller Regel nicht darauf an. (Allenfalls wird im Zusammenspiel mit erwähntem 142 darüber gestritten, ob man nun vor dem Landesverfassungsgericht klagen kann, was allenfalls prozeßtaktisch zu verstehen ist.) So fragt man sich dann doch, wie der Artikel überhaupt dereinst ins Grundgesetz gekommen ist. Ich nehme an, dass man einer derartigen Vorschrift wohl einen größeren Anwendungsbereich zugeschrieben hatte oder zumindest einen Basisgedanken des Bundesstaates deklarieren wollte. Vielleicht wollte man, und dafür spricht auch der resolute Wortlaut, im Hinblick auf die entstehende Republik auch den Vorrang des Bundes allgemein kodifizieren. Einfacher gesagt: Den Ländern zeigen, wo der Hammer hängt.

Three Strikes

Das „Three Strikes“-Konzept kommt aus dem Baseball. Wer dreimal den Ball nicht trifft, ist draußen. Seit längerer Zeit steht es aber auch für ein sicherheitspolitisches Konzept. Der Staat reagiert in drei Strikes auf Verbrechen und beim dritten ist man dann für sehr lange Zeit weg – zumindest im „Land of the free“, hierzulande hat sich das noch nicht durchgesetzt. Zulauf hat die Idee dagegen im Zuge der Diskussion um Internetsperren bekommen. Quasi als Retourkutsche dafür gab es dann eine Forderung, die „Three Strikes“ auch gegen Politiker anzuwenden: Wer dreimal einem verfassungswidrigen Gesetz zustimmt, ist sein Mandat los. Das ganze ist, nehme ich an, durchaus ernst gemeint. dass es aber nicht umgesetzt werden wird, dürfte dem Verfasser auch klar gewesen sein. Meine Meinung vorweg: Prinzipiell kein schlechter Ansatz, aber so sicher nicht umsetzbar. Dem war sich wohl auch der Verfasser bewusst, siehe die abschließenden „Anregungen für die Online-Diskussion“. Wie würde das Parlamentsgeschäft mit so einem Gesetz in der Praxis ausschauen? „Three Strikes“ weiterlesen

Bundeswahlgesetz: Alle Gesetze ungültig (?)

book-2775281_1920Das Bundesverfassungsgericht hat neuerlich das Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt. Damit ist festgestellt, dass der derzeit amtierende Bundestag nach einem nichtigen Gesetz gewählt wurde. Aber nicht nur der aktuelle Bundestag ist betroffen, sondern auch alle vorherigen, denn das Gesetz ist im Wesentlichen – zumindest, was das Verhältnis von Direktmandaten, Listensitzen und die ausgleichenden Überhangmandate betrifft – seit 1956 unverändert. Alle Bundestage von 1957 bis 2009 wurden also auf verfassungswidriger Grundlage gewählt.

Das legt den Schluss nahe, dass auch alle in den letzten Jahrzehnten verabschiedeten Gesetze ungültig sind. Schließlich kann ein verfassungswidrig gewähltes Parlament ja keine verfassungskonformen Gesetze beschließen. „Bundeswahlgesetz: Alle Gesetze ungültig (?)“ weiterlesen

Bundesverfassungsgericht zu Überhangmandaten

Wenn man manche Presseartikel derzeit liest, könnte man meinen, der ganze Bundestag bestünde ausschließlich aus Überhangmandaten. Als das Bundesverfassungsgericht unser Bundestagswahlrecht für verfassungswidrig erklärt und eine Neuregelung für 2013 verlangt hat, ist die Diskussion kurz aufgeflammt, hat sich dann aber gleich wieder beruhigt. Nun wurde auch diese Neuregelung verworfen und so wird man sich um eineverfassungskonforme Ausgestaltung bemühen müssen.

Die SPD wähnt sich aus unbekannten Gründen als Leidtragende von Überhangmandaten, will eine möglichst schnelle Reform und führt teilweise einen fast surrealen Wahlkampf auf der Meta-Ebene. Dabei sind die Überhangmandate an sich keineswegs verfassungswidrig. Nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist lediglich die Problematik des negativen Stimmgewichts. Bevor ich das lang erkläre, verweise ich einfach auf den Wikipedia-Artikel dazu.

Kurz gesagt: Bekommt eine Partei in einem Bundesland, in dem sie Überhangmandate erhält, möglichst wenige Zweitstimmen, dann bekommt sie bundesweit tendenziell mehr Gesamtsitze. Da das ganze kaum vorhersehbar ist, gibt es keine wirkliche Möglichkeit, taktisch so zu wählen, daß man „seiner“ Partei oder ggf. einer bestimmten Koalition mehr Mandate verschafft. Nur, wenn es eine isolierte Wahl in einem bestimmten Wahlkreis gibt und das Ergebnis der restlichen Abstimmung bekannt ist, kann man diese Effekte zielgerichtet nutzen. Und so ist es auch 2005 in Dresden passiert – was die erfolgreiche Klage provoziert hat. Dort rief sogar die CDU dazu auf, doch bitte mit der Zweitstimme die FDP zu wählen. Ob umgekehrt es einen Wahlaufruf seitens Rot-Grün für die CDU gegeben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. (So ein bißchen erinnert das an das Fußballspiel Barbados gegen Grenada 1994…)

Natürlich ist diese Anomalie des Wahlrechts äußerst unglücklich. Aber man sollte nicht so tun, als wäre das ein beachtenswerter und das Abstimmungsverhalten im Regelfall beeinflussender Systemfehler. Da gibt es wirklich noch ganz andere Kritikpunkte an der Wahlgesetzgebung, um die man sich zuerst kümmern sollte.

Die Bundeszentrale und das Grundgesetz

Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat es sich zum Ziel gesetzt, den Bürgern politisches Wissen zu vermitteln. Wenn es um die Fundamente der Bundesrepublik geht, vermischt sich politisches und juristisches Wissen notgedrungen. Und so gibt es im Internetangebot der BPB auch zahlreiche Texte mit deutlich juristischem Einschlag. Einer dieser Artikel beschäftigt sich mit der Entstehung des Grundgesetzes und seiner Ausarbeitung durch den Parlamentarischen Rat.

Die genaue Entstehung des Textes von Prof. Hans Vorländer, seines Zeichens durchaus angesehener Politikwissenschaftler, wäre sicher interessant. Das Ergebnis, das die BPB auf seiner Internetseite darbietet, lässt darauf schließen, dass es sich um eine (wenig gelungene) Verkürzung eines längeren Textes handelt. Vielleicht ist es auch nur nicht gelungen, das sicher immense Wissen des Autors in einen leicht verdaulichen Text zu gießen. Nach ausgiebiger Lektüre bleibt leider größtenteils offen, was der Autor damit sagen will. Und man kann sich kaum vorstellen, wie ein normaler, juristisch, historisch und politisch nicht übermäßig bewanderter Bürger daraus wirklich neue Erkenntnisse ziehen soll.

Schon allein der Titel der Seite in der thematischen Navigation der Seite irritiert. Dort steht:

Warum keine Verfassung

Die Überschrift auf der Seite lautet dagegen auf einmal:

Warum Deutschlands Verfassung Grundgesetz heißt

Die erste Version unterstellt, dass das Grundgesetz keine Verfassung ist, die zweite dagegen stellt klar, dass das deutsche Verfassungsgesetz den Namen „Grundgesetz“ trägt. Davon rückt der Autor aber schon wenig später wieder ab:

Auch hatte es wie andere Verfassungen eine konstituierende Bedeutung für den neuen Staat, denn die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 ist zugleich die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch fehlten ihm entscheidende Attribute: Das Grundgesetz war eben keine Verfassung.

Welche Attribute das sein sollen, verrät er leider nicht so genau. Allenfalls die Tatsache, dass das GG nicht durch Volksentscheid angenommen wurde, könnte so interpretierbar sein:

Und es wurde auch nicht vom Volk in einem Referendum ratifiziert.

Denn normalerweise, so Prof. Vorländer, werde ein Verfassungsgesetz folgendermaßen erarbeitet:

Nachdem eine verfassunggebende Versammlung den Text der Verfassung entworfen hat, wird diese vom Volk in einem Referendum beschlossen.

Das ist so in dieser Absolutheit nicht richtig. In der deutschen Geschichte wurde keine einzige Verfassung jemals per Referendum beschlossen. Und von den 1949 geltenden Verfassungen der Siegermächte wurde auch nur die französische Verfassung in dieser Weise ratifiziert, die anderen beschritten andere Wege:

  • Die Verfassung der USA wurde durch Versammlungen der Bundesstaaten verabschiedet.
  • Die Verfassung der Sowjetunion von 1936 wurde durch einen „außerordentlichen Sowjetkongress“ beschlossen.
  • Und das Vereinigte Königreich besitzt bekanntlich auch heute noch keine geschriebene Verfassung.

Es gab also keine deutsche oder international gebräuchliche Verfassungstradition, die eine verfassunggebende Versammlung und ein Referendum notwendig gemacht hätte.

Wie aber kam es, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland „nur“ ein Grundgesetz war?

Dieses „nur“ unterstellt bereits, dass ein Grundgesetz weniger sei als eine Verfassung. Das ist einfach falsch. Bereits die Verfassungsnormen des Heiligen Römischen Reichs (das freilich kein Staat, sondern nur ein loser Staatenbund war) hießen „leges fundamentales“ – Grundgesetze. Schweden, Norwegen, die Niederlande, Russland, Österreich und gut ein Dutzend Staaten, die mittlerweile Teil Deutschlands waren, (z.B. Sachsen, Hannover, Oldenburg, Mecklenburg und Hessen) nannten ihre Verfassungen „Grundgesetz“. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, dass dadurch irgendein Makel ausgedrückt würde. Es gab und gibt eine Tradition in Mitteleuropa, dass man die Verfassungsgesetze als Grundgesetze bezeichnet.

Außerdem konnte man damit – rein politisch – ausdrücken, dass diese Verfassung noch nicht das letzte Wort ist:

Die Spaltung Deutschlands war in ihren Augen nur eine vorübergehende und durfte nicht durch eine Verfassung verfestigt werden.

Daher äußerten sie sich auch sehr reserviert gegenüber der Absicht, „dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates“ zu verleihen.

anstelle einer „Verfassunggebenden Versammlung“ also ein „Parlamentarischer Rat“, anstelle einer „Verfassung“ ein „Grundgesetz“.

Aber eben nur politisch. Juristisch ist ein Grundgesetz selbstverständlich ein Verfassungsgesetz, sofern es die Definition eines solchen erfüllt. Und historisch war die Begrifflichkeit eben auch völlig eindeutig.

Diese so genannten Frankfurter Dokumente enthielten die Aufforderung an die Ministerpräsidenten, eine „Verfassunggebende Versammlung“ einzuberufen, um „eine demokratische Verfassung“ auszuarbeiten.

Und genau das haben sie ja auch gemacht.

so zutreffend charakterisiert sie die Tatsache, dass aus dem Grundgesetz eine Verfassung geworden ist.

Wodurch hat denn das Grundgesetz seinen Charakter gewandelt? Welches bisher fehlende Attribut einer Verfassung hat es im Laufe der Zeit bekommen? Eine Volksabstimmung jedenfalls nicht, denn diese hat ja bisher nie stattgefunden. Es bleibt völlig unklar, was der Autor damit sagen will. Zumindest erkennt er an, dass das Grundgesetz heute eine Verfassung ist. Da sich an ihm (bis auf zahllose Änderungen in Details, vor allem zur Ausweitung der Bundeszuständigkeiten auf Kosten der Länder) aber nichts Fundamentales geändert hat, lässt das den Schluss zu, dass das Grundgesetz eben doch (was eigentlich kein Jurist ernsthaft bestreitet) von Anfang an eine Verfassung war.

Das Grundgesetz, nur für eine Übergangszeit gedacht, nämlich bis zu dem Zeitpunkt, wo, wie der ursprüngliche Artikel 146 vorschrieb, sich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung gibt, blieb bestehen.

Auch diese Vorschrift muss man nach ihrem politischen und ihrem juristischen Gehalt trennen. Rein rechtlich ist dieser Artikel völlig verzichtbar, denn er drückt lediglich Selbstverständliches aus: Das Grundgesetz kann durch eine andere Verfassung ersetzt werden, aber nur, wenn das Volk diese in freier Selbstbestimmung verabschiedet hat. Eine nicht demokratisch beschlossene Verfassung genügt dem also nicht.

Politisch bedeutete Art. 146 GG im Jahr 1949 etwas ganz anderes: Das Grundgesetz als Verfassung des westdeutschen Staates ist nur ein Provisorium, denn spätestens in ein paar Jahren haben wir die Wiedervereinigung und dann wird sowieso eine neue gesamtdeutsche Verfassung von Nöten sein.

Es ist bekanntlich anders gekommen, aus dem Provisorium wurde etwas sehr Dauerhaftes und so war die Diskussion nach der Wiedervereinigung, ob man das Grundgesetz beibehalten oder durch eine neue Verfassung ersetzen will, ziemlich schnell beendet. So lange hätte das Grundgesetz als Staatsfundament aber nicht durchhalten können, wenn es nicht von Anfang eine Verfassung gewesen wäre.

Denn die Frage, ob eine Rechtsnorm eine Verfassung ist, beurteilt sich nicht danach, wie sie heißt, wie sie verabschiedet wurde und wo sie gilt, sondern danach, was sie ist. Eine Verfassung ist die grundlegende staatsrechtliche Norm eines staatlichen Gebildes, sie legt die Staatsorgane, ihre Bildung und ihre Kompetenzen fest, sagt, wie der Staat aufgebaut ist, und hat in der heute üblichen Form auch noch einen Grundrechtsteil. All das findet sich im Grundgesetz – sowohl 2012 als auch 1949.

Und auch Prof. Vorländer weiß das, wie an verschiedenen Stellen des Aufsatzes immer wieder durchscheint. Insofern ist es schade, dass ein eigentlich recht erhellender Text durch begriffliche Ungenauigkeiten und missverständliche Aussagen zu falschen Schlussfolgerungen verleitet.

Was Grundrechte (nicht) leisten

Nichts wird so gründlich missverstanden wird wie die Grundrechte. Das betrifft nicht nur „normale Bürger“, sondern seltsamerweise auch an sich erfahrene Politiker. Darum möchte ich hier einmal die häufigsten Irrtümer über unsere Grundrechte vorstellen. Ich beschränke mich hier einmal auf die Grundrechte des Grundgesetzes, diejenigen der Landesverfassungen habe sowieso kaum eine Funktion. Die Artikelangaben sind solche des Grundgesetzes; die Lektüre im Originalwortlaut ist durchaus empfehlenswert. Bei den mitlesenden Juristen entschuldigen ich mich aber bereits für die notwendigerweise etwas vereinfachte und verkürzte Darstellung. „Was Grundrechte (nicht) leisten“ weiterlesen

Die Wahl des Bundespräsidenten

Ich erinnere mich noch an eine Unterrichtsstunde aus dem Sozialkunde-Grundkurs. Es ging um die Staatsordnung der Bundesrepublik und da wurde die Frage gestellt, ob es sinnvoller wäre, die Amtszeit des Bundespräsidenten von maximal zweimal fünf Jahren auf nur einmal sieben Jahre festzusetzen; über diese Modalität wurde gestern während der Stimmabgabe der Bundesversammlung auch kurz diskutiert. Meine damalige Antwort war sinngemäß: „Das ist eigentlich ziemlich wurscht.“ Angesichts der Rolle, die unser Staatsoberhaupt im Organisationsrecht des Grundgesetzes spielt, macht es keinen großen Unterschied, ob er eine, zwei oder unendlich viele Amtszeiten bekommt. Man könnte auch eine Stochokratie auf Lebenszeit wie bei der Dogenwahl einführen oder gleich zur Monarchie zurückkehren. Meinetwegen könnte auch der Bundesratspräsident die Aufgaben des Bundespräsidenten übernehmen. Oder Stefan Raab. Nichtsdestotrotz dominieren derzeit vor allem in Blogs die wütenden Kommentare darüber, dass der Bundespräsident von einem undemokratischen Kollegium gewählt würde und der einfache Bürger nichts zu sagen habe. Komischerweise wurde das fast ausschließlich nach der Wahl festgestellt, also möglicherweise erst im Angesicht des Ergebnisses. Dabei wäre die richtige Zeit für Empörung eigentlich schon vor einigen Wochen gewesen, als man gemerkt hat, dass die Wahlbenachrichtigung zur Abstimmung über den Bundespräsidenten einfach nicht kommt. Die Frage, die permanent gestellt wird, ist natürlich die nach der Volkswahl: Wäre es besser, wenn der Präsident durch die Bürger gewählt würde? So sehr ich sonst für Direktwahlen aller möglichen Amtsträger bin, in dem Fall würde ich eher nein sagen. Diese indirekte Wahl hat sich insgesamt bewährt. Die Rolle des Bundespräsidenten – denn ganz so nebensächlich, wie ich das oben dargestellt habe, ist er freilich auch wieder nicht – als Sprecher huldvoller und mahnender Worte verträgt sich nicht mit einem Wahlkampf, den er dann führen müßte. Das hat man schon im Vorfeld dieser Wahl gesehen, als nur um die Stimmen einer relativ kleinen Gruppe von noch dazu parteigeprägten Wählern gekämpft werden musste. Insoweit hat das Grundgesetz von der Weimarer Reichsverfassung tatsächlich gelernt und das Staatsoberhaupt klugerweise aus größeren politischen und persönlichen Auseinandersetzungen herausgehalten. Die Direktwahl des Bundespräsidenten hätte auch keinen demokratischen Vorteil, der diese Nachteile rechtfertigen würde. Angesichts seiner minimalen Machtstellung im Gefüge des Grundgesetzes ist es ohne Bedeutung, dass das Volk hier ein „Plus“ an Mitbestimmung bekommen würde – da wäre den Bürgern viel mehr gedient, wenn sie real wichtige Amtsträger wie den Bundeskanzler oder die EU-Kommissare wählen dürften. Und ich glaube nicht einmal, dass sich die Stellung des Bundespräsidenten, wie oft befürchtet wird, verändern würde. Aus einer rein-parlamentarischen Verfassung mit rein-repräsentativem Staatsoberhaupt wird auch durch dessen Direktwahl noch lange kein präsidentielles System. Ein unmittelbares Mandat mag ein politisches Gewicht haben, wenn sich neben der juristischen Verfassungslage eine faktisch-politische Ordnung etabliert – aber das Grundgesetz ist eine ganz explizit positivierte, niedergeschriebene Verfassung. Ein unmittelbares Mandat mag ein politisches Gewicht haben, wenn Dinge im Zweifel sind – aber innerhalb der Staatsorganisation des Grundgesetzes ist sehr wenig im Zweifel. Auch die Klassikerfrage, wie weit das Prüfungsrecht des Bundespräsidenten im Bezug auf verabschiedete Gesetze nun geht, würde durch eine Direktwahl keine Klärung erfahren. Wenn man das Grundgesetz, das mir naheliegenderweise nicht übermäßig wichtig ist, reformieren will, dann könnte man sich an die zahlreichen anderen Schwachstellen machen, die es da so gibt und die den Bürgern tatsächliche Mitbestimmung geben würden. Nachdem ich schon die verschiedensten unpassenden Vergleiche zum Wahlprozedere gelesen hab, möchte ich dann doch noch einen eigenen liefern: Im Heiligen Römischen Reich haben seit mindestens 1356 gerade einmal sieben Kurfürsten den Kaiser gewählt. Deutlich mehr wurden es erst, als das Reich schon am Ende war…