Unterschreiben mit einem fremden Namen

Heute möchte ich mich mit einer Frage beschäftigen, die an mich herangetragen wurde: Darf man mit einem fremden Namen unterschreiben?

Nehmen wir als Aufhänger dafür eine Situation, die heute (in Zeiten des Internethandels) eigentlich nicht mehr vorkommt, die sich aber immer wieder wunderbar als juristisches Beispiel eignet – die Bestellung im Versandhandel.

Ein Bekannter ist verreist, ruft mich an und sagt: „Auf meinem Wohnzimmertisch liegt ein Bestellformular. Schreib rein, dass ich die Waschmaschine kaufe und füll den Rest mit meinen Daten aus. Ach ja, und unterschreib bitte mit meinem Namen, sonst gibt das nur Irritationen.“

Darf ich das jetzt? „Unterschreiben mit einem fremden Namen“ weiterlesen

Fall Peggy: Schuldspruch gegen Freispruch

Im Fall Peggy wurde Ulvi K. zunächst vom einen Gericht als Mörder verurteilt, dann vom anderen freigesprochen. Wie kann es nun sein, dass derselbe Sachverhalt derart gegensätzlich bewertet wird? Wenn die Entscheidungen so unterschiedlich ausfallen, ist es dann nicht von Vornherein ein Glücksspiel, welchen Richter man bekommt? „Fall Peggy: Schuldspruch gegen Freispruch“ weiterlesen

Fall Peggy: Lebenslänglich für einen geistig Behinderten

Im der ersten Auflage des „Peggy-Prozesses“ ist der Angeklagte Ulvi K. trotz eines angeblich nachgewiesenen Intelligenzquotienten von 68 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden. Wie kann es nun sein, dass ein geistig Behinderter – auch, wenn das Verbrechen derart schwer war – zur Höchststrafe verurteilt wird?

Das Strafgesetzbuch kennt die Schuldunfähigkeit, § 20 StGB. Wer nicht zurechnungsfähig ist, kann für seine Handlungen auch nicht bestraft werden. Liegen diese Voraussetzungen nicht vollständig vor, ist der Täter zumindest teilweise zurechnungsfähig. Gemäß § 21 StGB liegt verminderte Schuldfähigkeit vor, wenn die „Fähigkeit des Täters, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, bei Begehung der Tat erheblich vermindert“ ist. „Fall Peggy: Lebenslänglich für einen geistig Behinderten“ weiterlesen

Fall Peggy: Welchen Beweiswert hat ein Geständnis?

Eines der bedeutendsten Beweismittel im „Fall Peggy“ war das (später widerrufene) Geständnis des zunächst Verurteilten und jetzt Freigesprochenen Ulvi K. Aber was genau bedeutet ein Geständnis für den Prozess?

Wenn jemand eine Tat gestanden hat, dann war er der Täter. Das dürfte zumindest in den Medien und in der landläufigen Meinung anerkannt sein. Wer in einem Zivilprozess zugibt, dass eine fremde Sache unrechtmäßiger Weise zerstört hat, und sich bereit erklärt, den Schadenersatz leisten, wird unweigerlich dazu verurteilt. Und im US-Strafprozess, den wir aus Filmen und Serien kennen, ist es nicht anders: Wer sich schuldig bekennt, ist schuldig. „Fall Peggy: Welchen Beweiswert hat ein Geständnis?“ weiterlesen

Fall Peggy: Freispruch für Ulvi K.

Ulvi K.*, vor neun Jahren als Mörder im „Fall Peggy“ verurteilt, ist heute im Wiederaufnahmeverfahren freigesprochen worden. Neben der sich aufdrängenden Frage, wer nun tatsächlich der Mörder ist, sind aber auch noch andere Dinge zu interessant:

Diesen Fragen werden wir uns in den nächsten Tagen widmen.

* Der volle Name wird in den Medien in schönem Wechsel mit der Abkürzung genannt, sodass er mittlerweile sich kein Geheimnis mehr ist. Wir begnügen uns trotzdem damit, die Abkürzung zu verwenden.

Verjährung von Steuerhinterziehung wird verlängert

Wieder einmal hat die Diskussion darüber begonnen und diesmal soll es tatsächlich umgesetzt werden: Die Verjährungsfrist für Steuerhinterziehung wird verlängert, und zwar von fünf auf zehn Jahre.

Zunächst ein kurzer Exkurs über das Wesen der Verjährung: Nach Ablauf der Verjährungsfrist kann eine Straftat nicht mehr verfolgt werden, § 78 Abs. 1 StGB. Der Grund dafür ist einerseits der natürliche Schwund an Beweismitteln – Zeugen können sich nicht mehr so genau erinnern, Dokumente existieren nicht mehr usw. Andererseits hat die Zeit aber auch eine schuldtilgende Wirkung – wenn jemand vor zwölf Jahren ohne Ticket mit dem Bus gefahren ist, dann ist das heute nicht mehr wirklich bedeutsam. Aus letzterem Grund ist die Verjährungsfrist auch von der Schwere der Tat abhängig. „Verjährung von Steuerhinterziehung wird verlängert“ weiterlesen

Die nachträgliche Gesamtstrafe (II)

Fortsetzung zu: Die nachträgliche Gesamtstrafe (I)

Schwer erträglich sind aber auch die Rahmenbedingungen für die Bildung der Gesamtstrafe. Dass die Zahl der Tagessätze der Gesamtstrafe die höchste Einzelstrafe überschreiten muss, haben wir bereits festgestellt. Nach der Rechtsprechung muss aber auch die Summe der Einsatzstrafe erhöht werden. Und dies kann zu Problemen führen, wenn sich das Einkommen des Angeklagten verändert.

Beispiel:

(Zum besseren Verständnis sollte zunächst der Artikel über die Festsetzung einer Geldstrafe nach deutschem Strafrecht gelesen werden, ansonsten sind die Überlegungen bzgl. der Tagessätze und ihrer Berechnung möglicherweise schwer verständlich.)

Jemand wird zunächst zu 80 Tagessätzen zu je 45 Euro verurteilt. Danach bekommt er in einem weiteren Verfahren 60 Tagessätze zu je 20 Euro, weil er mittlerweile weniger verdient. Das Gericht stellt fest, dass die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vorliegen. Weil er jetzt wieder etwas mehr verdient, liegt der Tagessatz nun bei 30 Euro. Normalerweise würde das Gericht also aus 80 und 60 Tagessätzen 110 machen, das sind dann, multipliziert mit 30 Euro, 3300 Euro Geldstrafe. Jetzt stellt sich das Problem, dass das weniger ist als die 80×45=3600 Euro der ersten Verurteilung. Und das darf laut BGH nicht sein.

Was kann das Gericht nun machen? Entweder es erhöht die Höhe des Tagessatzes. Das widerspricht aber dem Sinn des Tagessatzes und damit dem Gesetz (§ 40 Abs. 2 StGB). Also muss die Mindestsumme (wir brauchen mehr als 3600 Euro) über die Anzahl der Tagessätze erreicht werden. Es müssen also mindestens 11 weitere Tagessätze zur Gesamtstrafe addiert werden, denn 121×30 ergibt 3630 Euro und damit zumindest etwas mehr als die Einsatzstrafe.

Wir erinnern uns: Die Anzahl der Tagessätze sagt etwas über die Schwere der Straftat(en) aus, nicht die Gesamtsumme der Geldstrafe. Die Gesamtsumme ist nur das Ergebnis aus Tatschwere und Einkommen des Täters. Hier wird aber von der Rechtsprechung vorgegeben, dass ein bestimmtes Ergebnis herauskommen muss. Es wird also aus mathematischen Gründen eine Tatschwere fingiert, die gar nicht vorliegt. Das Gericht muss hier 11 weitere Tagessätze festlegen, die der Täter eigentlich gar nicht verdient hat. Das ist aberwitzig.

Ein weiteres, noch aberwitzigeres Beispiel:

Jemand wird zunächst zu 80 Tagessätzen zu je 45 Euro verurteilt. Danach bekommt er in einem weiteren Verfahren 60 Tagessätze zu je 20 Euro, weil er mittlerweile weniger verdient. Das Gericht stellt fest, dass die Voraussetzungen für eine nachträgliche Gesamtstrafenbildung vorliegen. Weil sich seine finanziellen Verhältnisse nicht gebessert haben, liegt der Tagessatz immer noch bei 20 Euro.

Bisher betrugen die Geldstrafen 140 Tagessätze, teils zu 45 und teils zu 20 Euro. Nun muss eine Geldstrafe mit weniger als 140 Tagessätzen, alle zu 20 Euro, gebildet werden, die höher ist als die bisher höhere Strafe. Das ist mathematisch gar nicht möglich, da das Maximum von 139 Tagessätzen á 20 Euro nur 2780 Euro beträgt, also weniger als die bisher höhere Strafe. Das Gericht muss dann also doch wieder den Tagessatz anheben.

Wie könnte man das Dilemma nun lösen?

Die erste Variante würde nur auf die Summen abstellen und eine Mittelstrafe aus diesen bilden: Im Beispiel müsste also eine Gesamtstrafe zwischen 3600 und 4800 Euro festgelegt werden. Hier bietet sich eine Summe „in der Mitte“ an, also nehmen wir einmal 4200 Euro. Parallel dazu müsste man auch die Zahl der Tagessätze dergestalt ausurteilen, also landet man bei 110. Aus diesen beiden Daten kann man dann die Höhe des Tagessatzes ausrechnen, also 4200 geteilt durch 110 = ca. 38 Euro. (Damit verlässt man zwar die Linie der allgemeinen Strafzumessung, befindet sich aber auf einer Linie mit dem BGH.)

Mit diesem Ergebnis liegt sowohl die Summe als auch die Zahl der Tagessätze im üblichen Rahmen. Und die Höhe der Tagessätze würde damit auch gemittelt. Das entspricht zwar nicht den wirtschaftlichen Verhältnissen des Täters zum Zeitpunkt der neuen Entscheidung, aber es berücksichtigt die Tatsache, dass er ja (zum Zeitpunkt der ersten Entscheidung) mehr verdient hat als jetzt und sich damit auch eine höhere Geldstrafe „leisten“ konnte.

Die Alternative wäre freilich, das Summenerfordernis fallenzulassen. Dann kann die Gesamtstrafe geringer sein als die höhere Einzelstrafe. Das mag zwar dem Rechtsempfinden so manchen Bürgers widersprechen, wäre aber systematischer. Und man muss auch keine Angst haben, dass damit so mancher sich durch eine neue Straftat eine geringere Strafe „ergaunert“. Denn die neue Straftat müsste er vor Rechtskraft der alten begangen haben. Also zu einem Zeitpunkt, wo er eine Verschlechterung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse noch vor Gericht geltend machen könnte.

Die nachträgliche Gesamtstrafe (I)

Über Sinn, Berechnung und Verhängung der Gesamtstrafe haben wir bereits geschrieben. Diese kommt zur Anwendung, wenn mehrere Straftaten desselben Angeklagten vor demselben Gericht verhandelt werden. Daneben gibt es aber noch die Möglichkeit der nachträglichen Gesamtstrafe, § 55 StGB. Diese ist zwar sehr viel seltener, wirft aber ganz eigene Probleme auf.

§ 55 StGB sagt:

Die [Vorschriften über die Bildung der Gesamtstrafe] sind auch anzuwenden, wenn ein rechtskräftig Verurteilter, bevor die gegen ihn erkannte Strafe vollstreckt, verjährt oder erlassen ist, wegen einer anderen Straftat verurteilt wird, die er vor der früheren Verurteilung begangen hat.

Es geht also um die Situation, dass mehrere Straftaten zusammentreffen, die eigentlich in einem Verfahren und damit mit einer Gesamtstrafe hätten abgeurteilt werden müssen. Dies ist aber nicht geschehen – warum auch immer; häufig wohl deswegen, weil das Gericht nicht wusste, dass noch ein anderes Verfahren anhängig ist, oder, weil die Straftat noch nicht einmal entdeckt war. Allein dieser Aspekt macht das Urteil, das wegen „nur“ eines Teils der Taten erfolgt ist, aber keineswegs ungültig.

Vielmehr versucht man, die Situation herzustellen, die bei Berücksichtigung aller Straftaten erfolgt wäre. Daher wird eine sogenannte nachträgliche Gesamtstrafe gebildet. Der Verurteilte soll also weder besser noch schlechter dastehen als wenn er „im normalen Verfahren“ verurteilt worden wäre.

Prozessual erfolgt dies durch Beschluss des zuständigen Gerichts ohne mündliche Verhandlung, § 462 Abs. 1 Satz 1. Der Verurteilte hat ein Recht darauf, angehört zu werden (schriftlich oder auf Anordnung des Gerichts auch mündlich), mehr aber auch nicht. Ein Austausch von Argumenten wie in der Hauptverhandlung findet nicht statt. Dies ist schon deswegen ungewöhnlich, weil der Grundsatz der mündlichen Verhandlung ein eherner Pfeiler des Strafrechts ist und davon nur abgewichen werden kann, wenn der Angeklagte zumindest schlüssig zustimmt, z.B. durch Verlassen der Hauptverhandlung oder durch Annahme eines Strafbefehls. Dass er hier zwingend auf den Beschlussweg verwiesen wird, ist nicht unproblematisch.

Die Sache wird dadurch etwas abgemildert, dass es ja bereits mindestens zwei in ordentlicher Verhandlung gefällte Urteile gibt, gegen die er alle für ihn sprechenden Gesichtspunkte einwenden konnte. Auch wird die Gesamtstrafe zwangsläufig niedriger als die Einzelstrafen, sodass der Verurteilte davon in jedem Fall profitiert. Trotzdem ist die Höhe der Gesamtstrafe ein rechtlicher Gesichtspunkt, zudem der Verurteilte auch entsprechendes Gehör verdient hätte.

Schwer erträglich sind aber auch die Rahmenbedingungen für die Bildung der Gesamtstrafe. Dass die Zahl der Tagessätze der Gesamtstrafe die höchste Einzelstrafe überschreiten muss, haben wir bereits festgestellt. Nach der Rechtsprechung muss aber auch die Summe der Einsatzstrafe erhöht werden. Und dies kann zu Problemen führen, wenn sich das Einkommen des Angeklagten verändert.

Die Wiederaufnahme des Verfahrens (II)

In letztem Artikel habe ich die Gründe für eine Wiederaufnahme eines Strafverfahrens beschrieben. Heute soll es darum gehen, wie das Verfahren zur Wiederaufnahme konkret abläuft.

Zuständiges Gericht

Für die Frage der Zuständigkeit des Gerichts verweist § 367 Abs. 1 Satz 1 StPO auf das Gerichtsverfassungsgesetz. § 140a GVG sieht vor, dass das „ein anderes Gericht mit gleicher sachlicher Zuständigkeit als das Gericht, gegen dessen Entscheidung sich der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens richtet“, zuständig ist. Wird also ein Urteil des Landgerichts Augsburg angefochten, kann bspw. das Landgericht München zuständig sein. Die genaue Zuständigkeitsverteilung wird durch das Präsidium des jeweiligen Oberlandesgerichts festgelegt.

Antrag

Der Antrag des Verurteilten muss von einem Anwalt unterzeichnet sein (§ 366 Abs. 2 StPO) und den Wiederaufnahmegrund sowie die Beweismittel dafür angeben (§ 366 Abs. 1 StPO). Es muss also ganz konkret gesagt werden, dass das Urteil bspw. wegen Urkundenfälschung aufgehoben werden soll, und zudem, woraus sich ergibt, dass die Urkunde gefälscht war. Das ist ein Gegensatz zu einem normalen Rechtsmittel das in der Regel nicht extra begründet werden muss.

Das zuständige Gericht entscheidet dann zunächst darüber, ob der Antrag überhaupt zulässig ist, also ob er formell korrekt ist, ein vorgesehener Wiederaufnahmegrund geltend gemacht wurde und dafür ein Beweismittel angeboten wird (§ 368 Abs. 1 StPO). Dabei geht es aber noch nicht darum, ob der Wiederaufnahmeantrag Erfolg haben wird – es findet also keine prozessmäßige Prüfung des Beweises statt. Das Gericht weist den Antrag also nur dann als unzulässig zurück (es „verwirft ihn“), wenn es nicht einmal aus Sicht des Antragstellers (wenn also alles, was er beweisen will, als bewiesen vorausgesetzt wird) eine Erfolgsaussicht gibt. Das ist z.B. dann der Fall, wenn er einfach nur behauptet, das Urteil wäre falsch, oder wenn eine angeblich falsche Zeugenaussage moniert wird, ohne einen Beweis anzubieten, aus dem sich das ergeben soll.

Beweisaufnahme

Ist der Antrag zulässig, bestimmt das Gericht einen Richter, der die Beweisaufnahme durchführt, § 369 Abs. 1 StPO. Dabei hat er ziemlich freie Hand, wie er dies bewerkstelligt. Ein „richtiger“ Prozess unter Anwesenheit der Beteiligten findet dabei nur statt, um Zeugen und Sachverständige zu vernehmen. Im Übrigen werden hauptsächlich schriftliche Stellungnahmen und Erklärungen ausgetauscht.

Kommt das Gericht zu dem Schluss, dass ein Wiederaufnahmegrund vorliegt, ordnet es eine neue Hauptverhandlung an (§ 370 Abs. 2 StPO). Nur, wenn absolut klar ist, dass das Urteil nicht anders als Freispruch lauten kann, kann das Wiederaufnahmegericht den Angeklagten selbst freisprechen (§ 371 Abs. 2 StPO).

Neue Hauptverhandlung

Die neue Hauptverhandlung ist durchzuführen wie jede andere Hauptverhandlung auch. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass zwar der Wiederaufnahmegrund bestätigt wird, das Urteil aber dasselbe bleibt. Wenn ein Zeuge der Falschaussage überführt ist, kann es trotzdem sein, dass die übrigen Beweismittel immer noch die Schuld des Angeklagten belegen.

Da es theoretisch sein könnte, dass das neue Gericht die Angelegenheit gravierender beurteilt als das ursprüngliche, darf die Strafe nicht schwerer ausfallen als beim ursprünglichen Urteil. Der Angeklagte soll also kein Risiko eingehen müssen, wenn er sich schon auf den beschwerlichen Weg der Wiederaufnahme macht. Dementsprechend gilt dies nur, wenn der Antrag vom Verurteilten selbst oder von der Staatsanwaltschaft zu seinen Gunsten gestellt wurde.

Die Wiederaufnahme des Verfahrens (I)

„Ne bis in idem“ lautet ein schöner lateinischer Rechtsspruch. Er bedeutet wörtlich (wenig erhellend) „Nicht zweimal im selben“ und meint, dass niemand wegen derselben Tat mehrfach verurteilt werden kann. Mehr noch, es kann auch niemand mehrfach angeklagt werden. Ein einmal ergangenes Urteil ist also endgültig, sobald es rechtskräftig ist. Das schließt freilich nicht die normalen Rechtsmittel (Berufung, Revision) aus, da diese nur das erste Urteil modifizieren. Sind aber alle Rechtsmittel durchlaufen oder wurde auf diese verzichtet, so ist das Urteil grundsätzlich in Stein gemeißelt. Freigesprochen ist freigesprochen und verurteilt ist verurteilt.

Die einzige Ausnahme ist ein sogenanntes Wiederaufnahmeverfahren. Mit ihm wird das Verfahren „wiederaufgenommen“, also neu durchgeführt. Da hierdurch die eigentliche Endgültigkeit des Urteils und die durch dieses hergestellte Rechtssicherheit durchbrochen wird, sind die Voraussetzungen, die das Gesetz vorsieht, sehr eng und wirkliche Ausnahmetatbestände. Dass ein Urteil einfach nur falsch ist, reicht in aller Regel nicht aus. Fehler im Urteil hätten im Rahmen der vorgesehenen Rechtsmittel gerügt werden müssen.

Die Gründe, um ein Urteil zulasten des Angeklagten aufzuheben, also ihn anstelle des Freispruchs zu verurteilen oder ihn anstelle der Verurteilung wegen einer leichteren Tat nun eines schwereren Vergehens oder Verbrechens anzuklagen, sind in § 362 StPO geregelt:

  1. Im Prozess wurde eine gefälschte Urkunde als Beweismittel verwendet.
  2. Ein Zeuge oder Sachverständiger hat vorsätzlich oder fahrlässig unter Eid oder vorsätzlich uneidlich falsch ausgesagt. (Die fahrlässige uneidliche Falschaussage genügt also nicht!)
  3. Ein Richter oder Schöffe hat sich durch das Urteil der Rechtsbeugung schuldig gemacht.
  4. Ein Freigesprochener hat die Tat nachträglich gestanden.

Zugunsten des Angeklagten sind die möglichen Gründe in den Punkten 1 bis 3 identisch wie oben, aber es gibt noch weitere Möglichkeiten (§ 359 StPO):

  1. Gefälschte Urkunde.
  2. Falschaussage.
  3. Rechtsbeugung.
  4. Das Strafurteil basierte auf einem Zivilurteil und dieses Zivilurteil wurde aufgehoben – äußerst selten.
  5. Es sind bisher unberücksichtigte Beweismittel oder Tatsachen aufgetaucht.
  6. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat das Urteil für unrechtmäßig erklärt.

Ergänzend muss man sagen, dass diese ohnehin schon sehr strengen Voraussetzungen durch die Gerichte noch einmal enger ausgelegt werden und ein erfolgreicher Wiederaufnahmeantrag wirklich ganz, ganz selten ist.

Außerdem muss die Änderung des Urteils wesentlich sein. Gemäß § 363 StPO darf es nicht nur darum gehen, wegen der Tat eine niedrigere oder schwerere Strafe zu erreichen. Es muss also zumindest eine Verurteilung einer anderen Tat stattfinden. Beispiele:

  • Angeklagter wurde freigesprochen. Staatsanwalt will Verurteilung erreichen. => zulässig
  • Angeklagter wurde wegen Diebstahls zu einer Geldstrafe verurteilt. Staatsanwaltschaft will Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe erreichen. => unzulässig, da es um dasselbe Strafgesetz geht
  • Angeklagter wurde wegen Totschlags verurteilt. Staatsanwaltschaft will Verurteilung wegen Mordes erreichen. => zulässig, da es um ein anderes Strafgesetz geht