In einem halben Jahr wählt Bayern einen neuen Landtag. Da stellt sich die Frage, ob unser hypothetischer nur-bayerischer Staatsbürger eigentlich wählen darf.
Stimmberechtigt sind laut bayerischem Landeswahlgesetz grundsätzlich alle volljährigen Deutschen, die seit mindestens einem Vierteljahr in Bayern wohnen (Art. 1 Abs. 1 LWG). Nun ist der Beispielbürger aber ja gerade kein Deutscher mehr, sondern nur noch Bayer. (Zur Erinnerung: Auf die deutsche Staatsangehörigkeit wurde verzichtet, auf die bayerische nicht.) Damit wäre er also kein Deutscher und somit die erste Voraussetzung des Wahlgesetzes nicht erfüllt.
Nun stellt sich die Frage, wie diese Vorschrift zu lesen ist. (Übrigens heißt es „Deutscher im Sinn des Art. 116 Abs. 1 des Grundgesetzes“, damit sind auch Flüchtlinge aus der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg inbegriffen, die formell keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, aber trotzdem wie Deutsche behandelt werden müssen. Das spielt heute praktisch keine Rolle mehr.) Mit „Deutsche“ ist zunächst gemeint, dass nur Staatsbürger wählen dürfen. Ausländer sind nicht wahlberechtigt, auch keine EU-Bürger. Die Trennung zwischen Bayern und Nichtbayern geschieht nicht auf der Ebene der Staatsangehörigkeit, sondern erst auf derjenigen des Wohnsitzes. Dieser muss sich seit drei Monaten auf bayerischem Staatsgebiet befinden. Dass unser Beispielbürger noch immer in Bayern wohnt, vielleicht sogar seit Geburt ununterbrochen in Bayern gewohnt hat, reicht zwar für dieses Kriterium aus. Aber es ändert nichts daran, dass er die deutsche Staatsbürgerschaft nicht (mehr) besitzt. Er wurde bereits bei der Trennung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen „ausgesiebt“ und den Nicht-Wahlberechtigten zugeordnet.
Allerdings ist nicht alles, was im Gesetz steht, auch automatisch gültig und wortwörtlich anwendbar. Auch das Gesetz muss sich an höherrangigem Recht messen lassen und das ist in dem Fall die Bayerische Verfassung. Art. 7 Abs. 2 sieht vor, dass sich die bayerischen Staatsbürger durch Wahlen und verschiedene Abstimmungen politisch äußern. Art. 13 Abs. 1 der Verfassung bezeichnet die Mitglieder des Landtags als die „Abgeordneten des bayerischen Volkes“. Insofern wäre es höchst undemokratisch, bayerische Bürger von der Landtagswahl auszuschließen.
Und es wäre auch systemwidrig. Denn Artikel 8 der Bayerischen Verfassung stellt Deutsche und Bayern in staatsbürgerlicher Hinsicht gleich:
Alle deutschen Staatsangehörigen, die in Bayern ihren Wohnsitz haben, besitzen die gleichen Rechte und haben die gleichen Pflichten wie die bayerischen Staatsangehörigen.
Und nachdem die Deutschen, unabhängig vom Besitz der bayerischen Staatsangehörigkeit, zweifellos das Wahlrecht nach dem LWG besitzen, wären die Nur-Bayern ihnen gegenüber diskriminiert, wenn sie nicht wählen dürften.
Eine verfassungskonforme Auslegung des Landeswahlgesetzes müsste also so lauten, dass die bayerischen Staatsbürger sowieso wahlberechtigt sind, auch, wenn sich dies nicht so deutlich aus dem Gesetz ergibt.
Ein derartiges Begehren würde aber mit einiger Sicherheit die beteiligten Wahlorgane vor ein erhebliches Dilemma stellen. Die bayerische Staatsangehörigkeit wird nirgends erfasst und es gibt wohl weder rechtliche noch tatsächliche Vorkehrungen, wie der Antrag eines bayerischen Staatsbürgers, doch wählen zu dürfen, zu behandeln wäre. Im Wählerverzeichnis steht er jedenfalls nicht, da dieses nach der (deutschen) Staatsangehörigkeit erstellt wird. Eine nachträgliche Eintragung (§ 13 Abs. 2 der Landeswahlordnung) geschieht nur für bestimmte Personengruppen, z. B. Beamte in Auslandstätigkeit und Strafgefangene.
Es scheint so, dass sich die Rechtswirklichkeit in Bayern ohne eine bayerische Staatsbürgerschaft eingerichtet hat.
Richtig ist, dass es aufgrund der verkümmerten Rechtslage zur bayerischen Staatsangehörigkeit keine Möglichkeit gibt, diese konkreten Personen zuzuerkennen, wie der Bayerische Verfassungsgerichtshof dereinst ausgeführt hat (Urteil vom 12. März 1986, Vf 23-VII-84). Aber wenigstens hat das Gericht die allgemeine Rechtsansicht, dass die bayerische Staatsbürgerschaft als Institution von Verfassung wegen existiert, bestätigt. Diese könne jedoch nur Deutschen die bayerische Staatsbürgerschaft verwehren, sie aber nicht Nicht-Deutschen zuerkennen.
An einen Fall wie den unsrigen wurde dabei jedenfalls bisher nicht gedacht. Wie dieser entschieden würde, bleibt also vorerst offen.