Bundeswahlgesetz: Alle Gesetze ungültig (?)

book-2775281_1920Das Bundesverfassungsgericht hat neuerlich das Bundeswahlgesetz für verfassungswidrig erklärt. Damit ist festgestellt, dass der derzeit amtierende Bundestag nach einem nichtigen Gesetz gewählt wurde. Aber nicht nur der aktuelle Bundestag ist betroffen, sondern auch alle vorherigen, denn das Gesetz ist im Wesentlichen – zumindest, was das Verhältnis von Direktmandaten, Listensitzen und die ausgleichenden Überhangmandate betrifft – seit 1956 unverändert. Alle Bundestage von 1957 bis 2009 wurden also auf verfassungswidriger Grundlage gewählt.

Das legt den Schluss nahe, dass auch alle in den letzten Jahrzehnten verabschiedeten Gesetze ungültig sind. Schließlich kann ein verfassungswidrig gewähltes Parlament ja keine verfassungskonformen Gesetze beschließen. „Bundeswahlgesetz: Alle Gesetze ungültig (?)“ weiterlesen

Das Integritätsinteresse der Staaten

Unter dem staatlichen Integritätsinteresse versteht man das Recht derzeit existenter Staaten, als solche bestehen zu bleiben und die Sezession von Staatsteilen nicht anzuerkennen. Das Integritätsinteresse ist also gewissermaßen der Antagonist des Selbstbestimmungsrechts. Letzteres zu begründen fällt nicht schwer: Es ist gerade ein Ausfluss des Demokratieprinzips, dass sich die Menschen nicht nur die Machthaber in ihrem Staat, sondern auch den Staat an sich auswählen können. Wie begründet man aber nun das Recht eines Staates, so zu bleiben, wie er ist?

Im Völkerrecht kann man das in erster Linie utilitaristisch beantworten: Wenn Staaten miteinander auf internationaler Ebene interagieren, dann gestehen sie sich gerne gegenseitig die Befugnis zu, als Gesamtstaat erhalten zu bleiben. Andernfalls würden sie ihre politischen Partner und auch sich selbst juristisch einengen. Wenn, anders gesagt, die Bundesrepublik ihr Integritätsinteresse gegen die Unabhängigkeit Bayerns ausspielen will, dann ist es für andere Nationen erst einmal pragmatischer, den bewährten Partner Deutschland zu unterstützen als sich auf die bayerische Seite zu schlagen und für die theoretische Chance auf kommende gute Beziehungen die bestehenden zur Bundesrepublik zu riskieren. Und wenn es die Gesamtstaaten sind, die untereinander internationale Politik machen, dann verwundert es nicht, dass diese auch allgemein das Integritätsinteresse gerne in den Kanon des Völkerrechts aufnehmen.

Die KSZE-Schlussakte von Helsinki betont so auch mehrfach die „territoriale Integrität der Staaten“. An anderer Stelle dagegen findet man ein derart klares und umfassendes Bekenntnis zum Selbstbestimmungsrecht der Völker, dass es zunächst wie ein Widerspruch wirkt:

Kraft des Prinzips der Gleichberechtigung und des Selbstbestimmungsrechts der Völker haben alle Völker jederzeit das Recht, in voller Freiheit, wann und wie sie es wünschen, ihren inneren und äußeren politischen Status ohne äußere Einmischung zu bestimmen und ihre politische, wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung nach eigenen Wünschen zu verfolgen.

Wie es mit internationalen Verträgen so ist, bestehen sie ganz gern aus gut gemeinten Absichtserklärungen ohne größeren Bezug zur Realität. Insofern darf man weder das Selbstbestimmungsrecht noch das Integritätsinteresse unmittelbar für ernst nehmen. Dazu kommt, dass Helsinki 1975 ein Kind des Kalten Kriegs war. Es ging weniger um eine Verfassung des Völkerrechts auf rechtsphilosophischer Ebene als um einen Katalog von Absichtserklärungen zur praktischen Friedenserhaltung. Beide Prinzipien werden durch die Schlußakte auch keineswegs erfunden, sondern waren im Völkerrecht auch vorher schon anerkannt und wurden nur noch einmal bekräftigt und kodifiziert. Sie bekommen insoweit aus der Spannungssituation des Kalten Kriegs heraus eine eigene Bedeutung, indem sich die Staaten gegenseitig, ob verbündet oder feindlich gesinnt, ihr Existenzrecht zuerkennen. Sie beziehen sich also in erster Linie auf die Abwehr einer von außen kommenden Macht; insoweit sind sich Integrität und Selbstbestimmung näher als man dem antithetischen Ansatzpunkt zunächst entnehmen könnte.

Wenn uns die Begriffsgenese in der KSZE-Schlußakte zu einer Synthese von Integrität und Selbstbestimmung im Bezug auf bestehende Staatsgebilde führt, dann löst dies den Konflikt beider Prinzipien im Verhältnis zwischen Glied- und Bundesstaat, wo sich Integrität der oberen und Selbstbestimmung der unteren Ebene entgegenstehen, noch nicht sofort. Spinnt man diese Ideen jedoch weiter, so würde dies bedeuten, dass der Gesamtstaat beides für sich beanspruchen kann, der Teilstaat jedoch weder noch: Er ist nicht selbstbestimmt, weil er sich nicht aus der Föderation und damit auch nicht aus der Mitbestimmung anderer Bundesländer lösen kann; und sein Staatsgebiet besteht zwar als geographische Einheit, hat aber jede Bedeutung verloren. Eine solche Herabstufung und derartige Geringschätzung ist zumindest der deutschen Bundesstaatskonzeption völlig fremd. Aber auch allgemeiner gesprochen vernachlässigt dieses Stufenverhältnis, dass es innerhalb des föderalen Staates aber auch ein inneres „Außen“ gibt: Ein Angriff seitens des Gesamtstaates auf seine Glieder wäre nichts anderes als die angemaßte Fremdbestimmung zwischen verschiedenen Staaten, die das internationale Recht auch schon vor Helsinki ablehnte. Dieses „Außen“ mag freilich eine andere Qualität haben. Aber beide Konstellationen drehen sich um dieselbe Systematik aus Integrität und Selbstbestimmung.

Auch der Teilstaat muss also, wenn man wenigstens seine rudimentäre Staatlichkeit anerkennen will, zumindest die Möglichkeit zur Abwehr von Angriffen des Zentralstaats haben. Dieses „defensive Selbstbestimmungsrecht“ ist wohl auch durchaus anerkannt. Ein aktives, auf Sezession gerichtetes Recht dagegen räumt bspw. der Völkerrechtler Matthias Herdegen einem Teilvolk nur für den Fall einer tiefgreifender Diskriminierung und eines Ausschlusses vom demokratischen Prozeß ein. Wenn also ein Volk einfach nur in der Minderheit ist und von seinen Bundesbrüdern zwar demokratisch, aber dennoch permanent überstimmt wird, hat es kein Recht auf einseitige Loslösung. Und wenn die Föderation auf diese formell korrekte Weise ihre eigenen Befugnisse zu Lasten der Glieder immer weiter ausdehnt, dann könnten sich diese nach Herdegen nicht aus der Umklammerung befreien. Das wirft dann schließlich die Frage auf, wo denn der Unterschied zwischen einer außer- und einer innerföderalen Einmischung liegen soll. Einen solchen könnte man nur annehmen, wenn man – wie oben bereits ausgeführt – die Staatlichkeit des Teilstaats völlig im Gesamtstaat aufgehen lassen würde. Der Teilstaat hätte sich damit enteignet, Selbstbestimmungs- und Integritätsrecht würden dabei zentralisiert, mit der Folge, dass der Angriff eines ausländischen Staates auf ein Teilgebiet nur durch die Föderation abwehrbar wäre, nicht aber durch die Betroffenen selbst. Dem Teilstaat würde nicht einmal Unrecht geschehen, wenn der Gesamtstaat ihn verkaufen oder sonst einem anderen Staat einverleiben würde. Sogar das defensive Selbstbestimmungsrecht bekäme damit einen neuen Adressaten, taugt also nicht einmal als Minimalgarantie. Diese Theorie ist nunmehr wohl ausreichend ad absurdum geführt.

Nicht völlig abwegig ist jedoch die These, dass das Selbstbestimmungs- nur eine Art Notrecht darstellt: Die sezessionswillige Region wurde ja in irgendeiner Form in den umgebenden Staat geführt und hat somit bewußt seine Rechte aufgegeben. Wenn sie das – unveräußerliche – Selbstbestimmungsrecht ausüben will, dann muss sie dafür Schadenersatz leisten. Der Gesamtstaat hat dies hinzunehmen, kann jedoch eine Rechnung dafür ausstellen („dulde und liquidiere“). Diese Ansicht halte ich jedoch nicht (mehr) für richtig. Denn sie setzt, indem sie überhaupt einen Schaden annimmt, ein monetäres und nicht nur, wie im Integritätsinteresse, moralisches Interesse des Gesamtstaates am Erhalt aller seiner Teile voraus. Insoweit ist die Frage nach der Natur dieses Interesses auch jenseits der – zu verneinenden – Frage des Schadensersatzanspruchs relevant.

1. Dieses Interesse kann zum einen ein Planungsinteresse sein. Der Staat braucht ein gewisses Vertrauen auf die Stabilität des derzeit bestehenden Gefüges. Nur so kann er Entscheidungen treffen, die auch morgen noch Bestand haben. Dem muss man entgegenhalten, dass ein Austritt nicht aus dem Nichts heraus und ohne Vorlauf geschieht. Wenn der sezessionswillige Teil eine gewisse Frist einhält, dann kann sich der zurückbleibende Reststaat auf die neue Situation einstellen – so, wie es in der Tagespolitik bei Neuerungen in sozialer, wirtschaftlicher oder wissenschaftlicher Hinsicht geschieht.

2. Denkbar wäre auch ein Machtinteresse des Staates. Die internationale Position eines Landes ist in hohem Maße von seiner Bedeutung in vielerlei Hinsicht abhängig, die durch jede Verkleinerung Schaden nehmen würde. Dem muss entgegengehalten werden, dass der Ausbau der Machtposition des Gesamtstaates dann gerade durch völlige Ausschaltung jeglicher zwischenstaatlicher Bedeutung der Teilstaaten geschieht. Das Interesse nach überhaupt stattfindender Repräsentation überwiegt wohl sogar den Anspruch auf quantitativen Machterhalt. (Ganz davon abgesehen, dass die Evolution der Staaten momentan eher auf Dezentralisierung, Subsidiarität und Regionalismus dringt und die Zeit der starken Großreiche der Vergangenheit angehört.)

3. Das ökonomische Interesse wäre auf die Nutzung der Ressourcen des Gebietes sowie auf die Steuern der betreffenden Bürger gerichtet. Würde man das bejahen, dann wäre dies wiederum eine völlige Preisgabe jeder Integrität des Teilstaats. Dieser würde in dieser Anschauung zum Objekt der Ausbeutung durch die Zentralregierung – ein Zustand, der möglicherweise sogar das defensive Selbstbestimmungsrecht auslösen würde.

4. Das Argument der Friedenssicherung kann zumindest als durch die Praxis überholt gelten. Das Geschehenlassen der Sezession ist jedenfalls der unblutigere Weg gegenüber dem oft jahrzehntelangen Scharmützel von Aggression und Repression.

5. Möglicherweise kann sich eine – präsumptiv demokratisch – gewählte Staatsmacht auf den Volkswillen stützen. Sie ist aus Wahlen im gesamten Land hervorgegangen und kann damit Geltung auch im gesamten, ungeschmälerten Land beanspruchen. Dies verkennt aber bspw. die Sezession der amerikanischen Südstaaten, die gerade aufgrund eines geographisch höchst gespaltenen Wahlergebnisses ihre Unabhängigkeit erklärten. Zum anderen stellt das Argument die in der Sache weiter entfernte (und häufig genug exterritoriale) Zentralgewalt über die Regionalgewalt. Die Staatsmacht, ob nun eine allgemein akzeptierte Verfassung, eine gewählte Volksvertretung oder eine Regierung, ist zudem nur funktional in ihrem Wirkungsbereich eingesetzt und mit der Frage der Unabhängigkeit nicht weiter befaßt. Wenn nun der regional und sachlich spezifische Wille nach Eigenstaatlichkeit vorhanden ist, wie kann dann eine allgemeinpolitisch begründete und gesamtstaatliche Abstimmung dem vorgehen?

6. Erhaltung des Status quo: Im Recht hat grundsätzlich der bestehende Zustand im Zweifel die Vermutung der Richtigkeit für sich. Wer eine Sache, die sich im Besitz eines anderen befindet, für sich will, braucht einen Anspruch und muss diesen beweisen. So kann man auch begründen, dass ein bestehender Staat keine Rechtfertigung für sich braucht. Jedoch ist dieser Zustand nicht sakrosankt. Mehrheiten ändern sich, Rahmenbedingungen ändern sich und überhaupt ändert sich auch das Verhältnis der Staaten zueinander. Dass ein einmal erfolgter Beitritt, gleich einem unkündbaren Vertrag, für alle Ewigkeit Geltung beanspruchen können soll, würde die Realpolitik ausblenden. Wie könnte sich ein Volk aus Bürgern natürlich begrenzter Lebensdauer oder gar eine Regierung mit gesetzmäßig zeitlich begrenztem Mandat anmaßen, für alle Zeiten eine Entscheidung zu treffen, die alle Nachfolgenden bindet? Welche Vereinbarung Gliedstaat und Bund auch geschlossen haben, sie kann nur innerhalb der Handlungsbefugnis der Beteiligten geschehen sein. Es gibt kein Recht, über seine eigene Wirkungsspanne hinaus Festlegungen zu treffen. Es gibt kein Recht für den so gebildeten, vergänglichen Staat auf ewiges, unverändertes Bestehen; und wenn dem Status quo ein wirksam ausgeübtes Selbstbestimmungsrecht entgegensteht, dann wird er eben reformiert.

Wenn man nach all dem überhaupt ein Integritätsinteresse des Staates annehmen will, dann ist auch dieses nur eine Vermutung, die durch qualifizierte demokratische Willensäußerung (und auf die will ja kaum ein Separatist verzichten) entkräftet werden kann. Das Recht eines Staates, sich mit keiner Änderung abfinden zu müssen, ist jedenfalls nicht beachtlicher als das Recht einer Regierung, wiedergewählt zu werden: Wenn der Volkswille anderes wünscht, dann ist dieser Wille nicht nur sein Himmelreich, sondern rechtlich und demokratiepolitisch maßgeblich.

Bundesverfassungsgericht zu Überhangmandaten

Wenn man manche Presseartikel derzeit liest, könnte man meinen, der ganze Bundestag bestünde ausschließlich aus Überhangmandaten. Als das Bundesverfassungsgericht unser Bundestagswahlrecht für verfassungswidrig erklärt und eine Neuregelung für 2013 verlangt hat, ist die Diskussion kurz aufgeflammt, hat sich dann aber gleich wieder beruhigt. Nun wurde auch diese Neuregelung verworfen und so wird man sich um eineverfassungskonforme Ausgestaltung bemühen müssen.

Die SPD wähnt sich aus unbekannten Gründen als Leidtragende von Überhangmandaten, will eine möglichst schnelle Reform und führt teilweise einen fast surrealen Wahlkampf auf der Meta-Ebene. Dabei sind die Überhangmandate an sich keineswegs verfassungswidrig. Nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist lediglich die Problematik des negativen Stimmgewichts. Bevor ich das lang erkläre, verweise ich einfach auf den Wikipedia-Artikel dazu.

Kurz gesagt: Bekommt eine Partei in einem Bundesland, in dem sie Überhangmandate erhält, möglichst wenige Zweitstimmen, dann bekommt sie bundesweit tendenziell mehr Gesamtsitze. Da das ganze kaum vorhersehbar ist, gibt es keine wirkliche Möglichkeit, taktisch so zu wählen, daß man „seiner“ Partei oder ggf. einer bestimmten Koalition mehr Mandate verschafft. Nur, wenn es eine isolierte Wahl in einem bestimmten Wahlkreis gibt und das Ergebnis der restlichen Abstimmung bekannt ist, kann man diese Effekte zielgerichtet nutzen. Und so ist es auch 2005 in Dresden passiert – was die erfolgreiche Klage provoziert hat. Dort rief sogar die CDU dazu auf, doch bitte mit der Zweitstimme die FDP zu wählen. Ob umgekehrt es einen Wahlaufruf seitens Rot-Grün für die CDU gegeben hat, entzieht sich meiner Kenntnis. (So ein bißchen erinnert das an das Fußballspiel Barbados gegen Grenada 1994…)

Natürlich ist diese Anomalie des Wahlrechts äußerst unglücklich. Aber man sollte nicht so tun, als wäre das ein beachtenswerter und das Abstimmungsverhalten im Regelfall beeinflussender Systemfehler. Da gibt es wirklich noch ganz andere Kritikpunkte an der Wahlgesetzgebung, um die man sich zuerst kümmern sollte.

Das Rechtsmittel der Zurückweisung

recycle-bin-146275_1280Im Internet kursieren seit Längerem diverse „Ratgeberseiten“, die dazu aufrufen, man solle ungewünschte behördliche Akte (Verwaltungsakte, Bescheide, Urteile) einfach „zurückweisen“. Eine solche Zurückweisung, die nicht mit üblichen Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln vergleichbar sei, würde dazu führen, dass die Sache abgeschlossen sei. Aber man müsse es eben ausdrücklich zurückweisen und nicht etwa Einspruch, Widerspruch, Berufung o.ä. einlegen.

Es gibt natürlich keinen Paragraphen in keinem Gesetz, der eine solche Zurückweisung regeln würde. Aber wer eine gewisse Ahnung von juristischen Prinzipien hat, den muss diese Theorie befremden. Wie kann es in einem Rechtsstaat sein, dass es ein „Zauberwort“ gibt, mit dem man in jeder beliebigen unangenehmen Situation aus dem Schneider ist? Warum sollte der Staat so etwas einführen? Und warum ist da noch kaum jemand draufgekommen, nicht einmal große Firmen mit noch größeren Rechtsabteilungen, die immense Vorteile davon hätten, vor deutschen Gerichten narrenfrei zu sein? „Das Rechtsmittel der Zurückweisung“ weiterlesen

Die Bundeszentrale und das Grundgesetz

Die Bundeszentrale für Politische Bildung hat es sich zum Ziel gesetzt, den Bürgern politisches Wissen zu vermitteln. Wenn es um die Fundamente der Bundesrepublik geht, vermischt sich politisches und juristisches Wissen notgedrungen. Und so gibt es im Internetangebot der BPB auch zahlreiche Texte mit deutlich juristischem Einschlag. Einer dieser Artikel beschäftigt sich mit der Entstehung des Grundgesetzes und seiner Ausarbeitung durch den Parlamentarischen Rat.

Die genaue Entstehung des Textes von Prof. Hans Vorländer, seines Zeichens durchaus angesehener Politikwissenschaftler, wäre sicher interessant. Das Ergebnis, das die BPB auf seiner Internetseite darbietet, lässt darauf schließen, dass es sich um eine (wenig gelungene) Verkürzung eines längeren Textes handelt. Vielleicht ist es auch nur nicht gelungen, das sicher immense Wissen des Autors in einen leicht verdaulichen Text zu gießen. Nach ausgiebiger Lektüre bleibt leider größtenteils offen, was der Autor damit sagen will. Und man kann sich kaum vorstellen, wie ein normaler, juristisch, historisch und politisch nicht übermäßig bewanderter Bürger daraus wirklich neue Erkenntnisse ziehen soll.

Schon allein der Titel der Seite in der thematischen Navigation der Seite irritiert. Dort steht:

Warum keine Verfassung

Die Überschrift auf der Seite lautet dagegen auf einmal:

Warum Deutschlands Verfassung Grundgesetz heißt

Die erste Version unterstellt, dass das Grundgesetz keine Verfassung ist, die zweite dagegen stellt klar, dass das deutsche Verfassungsgesetz den Namen „Grundgesetz“ trägt. Davon rückt der Autor aber schon wenig später wieder ab:

Auch hatte es wie andere Verfassungen eine konstituierende Bedeutung für den neuen Staat, denn die Verkündung des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 ist zugleich die Geburtsstunde der Bundesrepublik Deutschland. Dennoch fehlten ihm entscheidende Attribute: Das Grundgesetz war eben keine Verfassung.

Welche Attribute das sein sollen, verrät er leider nicht so genau. Allenfalls die Tatsache, dass das GG nicht durch Volksentscheid angenommen wurde, könnte so interpretierbar sein:

Und es wurde auch nicht vom Volk in einem Referendum ratifiziert.

Denn normalerweise, so Prof. Vorländer, werde ein Verfassungsgesetz folgendermaßen erarbeitet:

Nachdem eine verfassunggebende Versammlung den Text der Verfassung entworfen hat, wird diese vom Volk in einem Referendum beschlossen.

Das ist so in dieser Absolutheit nicht richtig. In der deutschen Geschichte wurde keine einzige Verfassung jemals per Referendum beschlossen. Und von den 1949 geltenden Verfassungen der Siegermächte wurde auch nur die französische Verfassung in dieser Weise ratifiziert, die anderen beschritten andere Wege:

  • Die Verfassung der USA wurde durch Versammlungen der Bundesstaaten verabschiedet.
  • Die Verfassung der Sowjetunion von 1936 wurde durch einen „außerordentlichen Sowjetkongress“ beschlossen.
  • Und das Vereinigte Königreich besitzt bekanntlich auch heute noch keine geschriebene Verfassung.

Es gab also keine deutsche oder international gebräuchliche Verfassungstradition, die eine verfassunggebende Versammlung und ein Referendum notwendig gemacht hätte.

Wie aber kam es, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland „nur“ ein Grundgesetz war?

Dieses „nur“ unterstellt bereits, dass ein Grundgesetz weniger sei als eine Verfassung. Das ist einfach falsch. Bereits die Verfassungsnormen des Heiligen Römischen Reichs (das freilich kein Staat, sondern nur ein loser Staatenbund war) hießen „leges fundamentales“ – Grundgesetze. Schweden, Norwegen, die Niederlande, Russland, Österreich und gut ein Dutzend Staaten, die mittlerweile Teil Deutschlands waren, (z.B. Sachsen, Hannover, Oldenburg, Mecklenburg und Hessen) nannten ihre Verfassungen „Grundgesetz“. Keiner von ihnen wäre auf die Idee gekommen, dass dadurch irgendein Makel ausgedrückt würde. Es gab und gibt eine Tradition in Mitteleuropa, dass man die Verfassungsgesetze als Grundgesetze bezeichnet.

Außerdem konnte man damit – rein politisch – ausdrücken, dass diese Verfassung noch nicht das letzte Wort ist:

Die Spaltung Deutschlands war in ihren Augen nur eine vorübergehende und durfte nicht durch eine Verfassung verfestigt werden.

Daher äußerten sie sich auch sehr reserviert gegenüber der Absicht, „dem zu schaffenden Gebilde den Charakter eines Staates“ zu verleihen.

anstelle einer „Verfassunggebenden Versammlung“ also ein „Parlamentarischer Rat“, anstelle einer „Verfassung“ ein „Grundgesetz“.

Aber eben nur politisch. Juristisch ist ein Grundgesetz selbstverständlich ein Verfassungsgesetz, sofern es die Definition eines solchen erfüllt. Und historisch war die Begrifflichkeit eben auch völlig eindeutig.

Diese so genannten Frankfurter Dokumente enthielten die Aufforderung an die Ministerpräsidenten, eine „Verfassunggebende Versammlung“ einzuberufen, um „eine demokratische Verfassung“ auszuarbeiten.

Und genau das haben sie ja auch gemacht.

so zutreffend charakterisiert sie die Tatsache, dass aus dem Grundgesetz eine Verfassung geworden ist.

Wodurch hat denn das Grundgesetz seinen Charakter gewandelt? Welches bisher fehlende Attribut einer Verfassung hat es im Laufe der Zeit bekommen? Eine Volksabstimmung jedenfalls nicht, denn diese hat ja bisher nie stattgefunden. Es bleibt völlig unklar, was der Autor damit sagen will. Zumindest erkennt er an, dass das Grundgesetz heute eine Verfassung ist. Da sich an ihm (bis auf zahllose Änderungen in Details, vor allem zur Ausweitung der Bundeszuständigkeiten auf Kosten der Länder) aber nichts Fundamentales geändert hat, lässt das den Schluss zu, dass das Grundgesetz eben doch (was eigentlich kein Jurist ernsthaft bestreitet) von Anfang an eine Verfassung war.

Das Grundgesetz, nur für eine Übergangszeit gedacht, nämlich bis zu dem Zeitpunkt, wo, wie der ursprüngliche Artikel 146 vorschrieb, sich das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung eine neue Verfassung gibt, blieb bestehen.

Auch diese Vorschrift muss man nach ihrem politischen und ihrem juristischen Gehalt trennen. Rein rechtlich ist dieser Artikel völlig verzichtbar, denn er drückt lediglich Selbstverständliches aus: Das Grundgesetz kann durch eine andere Verfassung ersetzt werden, aber nur, wenn das Volk diese in freier Selbstbestimmung verabschiedet hat. Eine nicht demokratisch beschlossene Verfassung genügt dem also nicht.

Politisch bedeutete Art. 146 GG im Jahr 1949 etwas ganz anderes: Das Grundgesetz als Verfassung des westdeutschen Staates ist nur ein Provisorium, denn spätestens in ein paar Jahren haben wir die Wiedervereinigung und dann wird sowieso eine neue gesamtdeutsche Verfassung von Nöten sein.

Es ist bekanntlich anders gekommen, aus dem Provisorium wurde etwas sehr Dauerhaftes und so war die Diskussion nach der Wiedervereinigung, ob man das Grundgesetz beibehalten oder durch eine neue Verfassung ersetzen will, ziemlich schnell beendet. So lange hätte das Grundgesetz als Staatsfundament aber nicht durchhalten können, wenn es nicht von Anfang eine Verfassung gewesen wäre.

Denn die Frage, ob eine Rechtsnorm eine Verfassung ist, beurteilt sich nicht danach, wie sie heißt, wie sie verabschiedet wurde und wo sie gilt, sondern danach, was sie ist. Eine Verfassung ist die grundlegende staatsrechtliche Norm eines staatlichen Gebildes, sie legt die Staatsorgane, ihre Bildung und ihre Kompetenzen fest, sagt, wie der Staat aufgebaut ist, und hat in der heute üblichen Form auch noch einen Grundrechtsteil. All das findet sich im Grundgesetz – sowohl 2012 als auch 1949.

Und auch Prof. Vorländer weiß das, wie an verschiedenen Stellen des Aufsatzes immer wieder durchscheint. Insofern ist es schade, dass ein eigentlich recht erhellender Text durch begriffliche Ungenauigkeiten und missverständliche Aussagen zu falschen Schlussfolgerungen verleitet.

Deal or no deal?

In deutschen Strafprozessen gibt es seit einigen Jahren die Sitte, das Verfahren durch wechselseitige Entgegenkommen abzukürzen. In der Regel gesteht der Angeklagte seine Schuld und erhält dafür von Haus aus ein geringeres Strafmaß; teilweise werden auch einzelne, weniger bedeutende Anklagepunkte fallengelassen. Dieses Vorgehen hat sich in den Gerichten etabliert und bewährt, in der Strafprozeßordnung kommt es dagegen bisher nicht vor. Das ändert sich jetzt und folgerichtig wiederholt der Gesetzentwurf im wesentlichen das bisherige „Gewohnheitsrecht“; Änderungen ergeben sich nur dort, wo man mehr Transparenz schaffen wollte. Eigentlich sollte das alles kein Anlaß für große Aufgeregtheiten sein. „Deal or no deal?“ weiterlesen

Bemerkenswerte Urteile

Im wahren Leben kommen teilweise noch viel kuriosere Fälle vor Gericht, als sich Lehrbuchschreiber (oder die Drehbuchschreiber von Salesch und Co.) ausdenken können. Nachdem ich am Wochenende mit ein paar Bekannten darüber geredet habe, mal die Top 3, die mir spontan eingefallen sind: Obstmesser (begrenzt lustig, aber ziemlich blutig) Katzenkönig (völlig abwegig) Passauer Giftfalle (sehr seltsame Konstellation, aber mit niederbayerischem Charme…)

BVerfG zum BayVersG

Das Bundesverfassungsgericht hat eine Verfassungsbeschwerde gegen das Bayerische Versammlungsgesetz als unzulässig zurückgewiesen. Der Kläger habe nicht ausreichend dargelegt, inwiefern er durch die Neufassung des Gesetzes belastet werde. Bedeutend interessanter war aber die Entscheidung aus dem Februar 2009:

Damals hatte es, was eher unüblich ist, in einer Eilentscheidung einige Vorschriften des bayerischen Versammlungsgesetzes aufgehoben. Bei näherem Hinsehen muss man aber sagen, dass von einem Sieg für die Kläger nicht die Rede sein kann. Die primärrechtlichen Regelungen sind im wesentlichen nicht beanstandet worden; die Richter haben gerade nicht geurteilt, dass es in Bayern nun zu wenig Versammlungsfreiheit gäbe. Gekippt wurden dagegen einige Bußgelddrohungen. Die Begründung dazu ist nicht uninteressant und könnte auch Bedeutung für zahlreiche andere Rechtsgebiete haben. „BVerfG zum BayVersG“ weiterlesen

Der Gerichtsbarkeitserlass von 1941

Der sogenannte Gerichtsbarkeitserlass regelte die Verfolgung von Straftaten im Rahmen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion im Jahr 1941. Er gilt gemeinhin als Freibrief für Wehrmachtssoldaten, Kriegsverbrechen ungesühnt zu begehen. Heute analysieren wir den juristischen Gehalt dieses Befehls und seine Wirkungen.

Der Führer und Oberste Befehlshaber der Wehrmacht.
Führerhauptquartier, d. 13. Mai 1941.

Erlass
über die Ausübung der Kriegsgerichtsbarkeit im Gebiet „Barbarossa“
und über besondere Massnahmen der Truppe.

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