Ein Herz für Schiedsrichter

Beim Fußball sind Schiedsrichter wohl eher die weniger beliebten Akteure. Ohne sie geht es zwar nicht, aber sie sind trotzdem an allem schuld. Anders ist es in der Juristerei. Da bräuchte es eigentlich keine Schiedsrichter, da es normale Richter gibt.

Und trotzdem erfreuen sich private Schiedsgerichte immer größerer Beliebtheit. Viele Vertragspartner, vor allem Firmen, vereinbaren, dass Streitigkeiten nicht vor den normalen staatlichen Gerichte, sondern vor gemeinsam eingesetzten Schiedsgerichten verhandelt und entschieden werden.

Das ermöglicht das zehnte Buch der ZPO: Demnach können die Parteien vereinbaren, dass ein Schiedsgericht für einzelne oder alle Streitigkeiten zuständig sein soll (§ 1029 ZPO). In diesen Fällen ist der Rechtsweg vor staatliche Gerichte in aller Regel ausgeschlossen (§ 1026 ZPO). Normalerweise (§ 1034 Abs. 1 ZPO) besteht das Schiedsgerichte aus drei Schiedsrichtern, von denen jede Partei einen benennt und der Vorsitzende von diesen beiden Schiedsrichtern einvernehmlich bestimmt wird (§ 1035 Abs. 3 Satz 2 ZPO).

Die Vorteile des schiedsrichterlichen Verfahrens liegen auf der Hand:

  • Schnelligkeit: Statt ein Jahr auf das Urteil zu warten, bekommt man innerhalb weniger Woche eine Entscheidung.
  • Kompetenz: Es können Schiedsrichter ausgesucht werden, die sich exakt mit dem Thema auskennen.
  • Diskretion: Statt in einem öffentlichen Gerichtsgebäude mit Zuschauern oder gar Presse wird in einem Konferenzraum o.ä. verhandelt.
  • Rechtssicherheit: Es gibt keine Berufung oder Revision gegen das Urteil.
  • Kosten: Bei einem Streitwert von 15 Mio. Euro (zwischen Unternehmen nichts Ungewöhnliches) fallen allein 167.000 Euro an Gerichtsgebühren an. Das Schiedsgericht kostet dagegen nur die streitwertunabhängigen Kosten der Schiedsrichter – in aller Regel nur ein minimaler Bruchteil der staatlichen Gerichtskosten.

Prozesskostenhilfe aus Sicht des Gegners

Die Prozesskostenhilfe ist ein Element des Rechtsstaats. Jedem, der einen Anspruch zu haben glaubt, muss grundsätzlich auch die Möglichkeit offen stehen, vor Gericht zu gehen. Wenn er sich einen teuren Prozess eigentlich nicht leisten kann, ist dies noch kein Grund, ihm seine Rechte vorzuenthalten. Aus diesem Grund gab es bereits in der Ur-Zivilprozessordnung das sogenannte „Armenrecht“. Heute nennt es sich neutraler „Prozesskostenhilfe“ und ist in den §§ 114 bis 127 ZPO geregelt.

PKH kann selbstverständlich unabhängig davon gewährt werden, ob man Kläger oder Beklagter ist. Für die heutigen Betrachtungen ist aber die Klägerseite interessanter. Es geht also darum, dass der Kläger eine Forderungen gegen jemanden erhebt und selbst nicht genug Geld hat, um Gericht und Anwälte zu zahlen. Darum will er, dass der Staat ihm unter die Arme greift.

Erste Voraussetzung dafür ist die Bedürftigkeit, die nach genau festgelegten Regeln und anhand von Einkommentabellen berechnet wird. Außerdem muss die Klage zumindest gewisse Erfolgsaussichten bieten. (Ob sie auch tatsächlich Erfolg hat, muss freilich erst das Gericht der eigentlichen Verhandlung prüfen. Im PKH-Verfahren fallen also nur Klagen durch, die völlig chancenlos sind.) Und schließlich darf sie auch nicht mutwillig, also ohne vernünftigen Grund angestoßen worden sein. Diese Voraussetzungen stehen in § 114 Abs. 1 ZPO und werden in den nachfolgenden Vorschriften noch etwas präzisiert.

Wird PKH bewilligt, so muss der Kläger gemäß § 122 weder die Gerichts-, noch seine eigenen Anwaltskosten zahlen. (Theoretisch kann PKH auch so bewilligt werden, dass der Kläger immerhin Raten zahlen muss, dann ist die PKH-Leistung also mehr ein Kredit als eine Kostenübernahme. Diese Konstellation lassen wir hier aber ebenfalls weg.)

Was die Prozesskostenhilfe aber niemals deckt, sind die Anwaltskosten des Gegners, siehe § 123 ZPO. Wenn der PKH-berechtigte Kläger verliert, seine Klage also abgewiesen wird, muss er also (nur) die Anwaltskosten des Gegners zahlen. Anders gesagt: Der Beklagte muss seinen Anwalt zunächst selber zahlen und hat dann einen Erstattungsanspruch gegen den Kläger – nicht etwa gegen den Staat, da die Prozesskostenhilfe eben nicht so weit geht. Diesen Erstattungsanspruch muss er aber erstmal irgendwie durchsetzen können – gegen einen „bedürftigen“ Gegner.

Unter Umständen ist dieser Anspruch also nicht viel wert, weil der Gegner so arm ist, dass man nichts pfänden kann. Nun kann er aus diesem Anspruch zwar immer wieder die Vollstreckung versuchen, also einen Gerichtsvollzieher beauftragen, aber die Aussichten sind möglicherweise nicht die besten. Und jeder Vollstreckungsversuch produziert neue Kosten, die zunächst einmal der Anspruchsinhaber selbst tragen muss.

Insgesamt nimmt es der Staat also hin, dass ein bedürftiger Kläger auf Staatskosten seinen Anspruch durchsetzen will, sich dieser aber als unbegründet herausstellt und anschließend der Beklagte (der keinen Anlass dazu geliefert hat, den Prozess durchzuführen, und zudem vor Gericht auch noch Recht bekommen hat) mit einer unter Umständen gesalzenen Rechnung allein gelassen wird. Dies widerspricht grundlegenden Gerechtigkeitsvorstellungen.

Was könnte man nun dagegen machen?

Eine Abschaffung der Prozesskostenhilfe kommt sicher nicht in Betracht. Dieses Instrument ist verfassungsmäßig praktisch unverzichtbar.

Vielmehr sollte man an § 123 ZPO Änderungen vornehmen und es dem Gegner erlauben, seine Kosten ebenfalls dem Staat in Rechnung zu stellen. Damit hat dieser keinen Nachteil und das Insolvenzrisiko des PKH-Klägers wird nicht auf einen im Grunde unbeteiligten Dritten abgeschoben.

Bis dahin kann man jedem, der von einem PKH-Berechtigten verklagt wird, nur raten, seine Rechte wahrzunehmen. Gemäß § 118 Abs. 1 Satz 1 ZPO kann er sich dazu äußern, ob er „die Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe für gegeben hält“. Dabei sollte man vor allem begreifen, dass es – wie geschildert – auch um seine Position im Verfahren geht. Es handelt sich nicht um eine Angelegenheit zwischen Staat und Kläger, aus der man sich vornehm heraushält. Wenn man die Klage für unbegründet hält, wenn man vielleicht sogar schlagende Beweise in der Hand hält, dass man selbst im Recht ist, sollte man sich auch entsprechend äußern. Vor allem ist es nicht so, dass man dem Gegner dadurch seine wohlerworbenen Rechte wegnimmt. Denn es nützt auch dem Kläger nichts, wenn er dann erst in der mündlichen Verhandlung auf die Nase fällt.

Das Geständnis im Zivilprozess

Im Zivilprozess herrscht der sogenannte Verhandlungsgrundsatz (Verhandlungsmaxime), mittlerweile treffender als „Beibringungsgrundsatz“ bezeichnet. Das bedeutet, dass sich das Gericht nicht selbst damit beschäftigt, die Tatsachen zu ermitteln, sondern die Parteien in der Pflicht stehen.

Behauptet also beispielsweise der Kläger, dass ein Vertrag abgeschlossen wurde, kann der Beklagte das anders sehen. In diesem Fall muss der Kläger einen Beweis anbieten, anhand dessen dann die Wahrheit festgestellt werden kann. Anders dagegen, wenn der Beklagte nichts dazu sagt. Denn alles, was nicht bestritten wird, gilt als zugestanden (§ 138 Abs. 3 ZPO) und muss damit nicht mehr bewiesen werden. Gleichzeitig herrscht aber Wahrheitspflicht für die Parteien, sie dürfen also (im Gegensatz zum Angeklagten im Strafprozess) nicht einfach lügen und etwas bestreiten, was der Wahrheit entspricht.

Unter Umständen wird eine Partei aber auch freimütig einräumen wollen, dass der Gegner in einer bestimmten Hinsicht Recht hat. Das bezeichnet man als Geständnis. Ein Geständnis ist im Zivilprozess das Eingeständnis, dass eine Tatsache, die der Gegner für sich geltend macht, zutreffend ist (§ 288 ZPO).

Ein solches Geständnis kommt aber in der Praxis nicht vor. Und das liegt an § 290 ZPO:

Der Widerruf hat auf die Wirksamkeit des gerichtlichen Geständnisses nur dann Einfluss, wenn die widerrufende Partei beweist, dass das Geständnis der Wahrheit nicht entspreche und durch einen Irrtum veranlasst sei. In diesem Fall verliert das Geständnis seine Wirksamkeit.

Wer behauptet, dass sein Geständnis doch nicht zutreffend ist, muss beweisen, dass die erklärte Tatsache doch nicht korrekt ist und er sich zudem geirrt hat. Damit liegt die Beweislast bei ihm, obwohl es doch eigentlich der Gegner war, der etwas behauptet hat.

Vorteile bietet das Geständnis dagegen keine – also warum sollte man eines ablegen?

Auch die erwähnte Wahrheitspflicht bedeutet keine Geständnispflicht. Wer etwas nicht wahrheitsgemäß bestreiten kann, sagt einfach gar nichts dazu. Wer schweigt, lügt nicht und begeht schon gar keinen Prozessbetrug. Wenn er dann später doch herausfindet, dass die vom Gegner vorgebrachte Tatsache falsch ist, kann er sie einfach bestreiten. Dafür muss er sich weder auf einen Irrtum berufen noch seine Sicht beweisen. Im Gegenteil, dann liegt es beim Gegner, einen Beweis zu erbringen.

Nach Karlsruhe gehen (I)

Wer Recht sucht, für den gibt es das gelobte Land: Karlsruhe. Die Phrase „Ich geh nach Karlsruhe“ ist mittlerweile ins sprachliche Allgemeingut eingegangen. Wannimmer man sich juristisch übervorteilt fühlt, funkelt doch ein Silberstreif am Horizont: Karlsruhe. In Karlsruhe gibt es immerhin gleich zwei Gerichte, den Bundesgerichtshof und das Bundesverfassungsgericht. Bei einem von beiden muss man doch Erfolg haben. Und in der Theorie stimmt das auch. Nicht umsonst hören wir desöfteren in den Medien (von trockenen, nicht publikumswirksamen juristischen Fachzeitschriften einmal abgesehen) von Karlsruher Urteilen. Nur sollte man sich nicht der Illusion hingeben, man selbst könnte einmal Protagonist vor diesen Gerichten sein.

Der Bundesgerichtshof zum Beispiel urteilt grundsätzlich erst in der dritten Instanz. Sie müssen also zunächst einmal die Niederungen des Landgerichts und des Oberlandesgerichts (von den Amtsgerichten wollen wir hier einmal gar nicht reden) durchlaufen haben. Dafür braucht man aber einen langen Atem und einen vollen Geldbeutel. So kostet ein Prozess über 10.000 Euro bereits in der ersten Instanz ca. 3500 Euro. Wem es hier die Schuhe auszieht, der muss sich vor Augen führen, dass (in der Regel) drei Volljuristen an der Sache beteiligt sind. Der Richter möchte etwas verdienen, darum zahlt ihm der Staat ein Gehalt und verlangt seinerseits Prozesskosten. Und Anwälte brauchen grundsätzlich immer Geld. Die ganzen schönen Roben der Juristen wollen bezahlt werden, die hin und her geschickten Briefe brauchen Briefmarken, von Büros, Kanzleien und Rechtsanwaltsfachangestellten mal ganz abgesehen. Insofern sind 3500 Euro doch richtiggehend geschenkt.

Was aber, wenn man das ganze schöne Geld gezahlt hat und trotzdem mit dem Urteil nicht zufrieden ist? Die Servicequalität deutscher Gerichte ist bekanntermaßen nicht die höchste, angeblich ist fast immer mindestens eine Partei mit dem Ergebnis unzufrieden. Darum gibt es ja auch Karlsruhe. Aber soweit sind wir noch nicht. Wir sind noch, wie gesagt, in den Niederungen der Juristerei.

Legt man gegen diese erste Urteil (des Landgerichts) Berufung ein, landet man zunächst nur vor dem Oberlandesgericht. Das ist in unserem Falle (wir wollen ja nach Karlsruhe!) zwar nur eine lästige Durchgangsinstanz, aber die muss eben sein. Allein für die Berufung vor dem OLG kommen noch einmal 4000 Euro auf unsere Gesamtrechnung drauf. Mit den 3500 Euro für das noch überflüssigere Landgerichtsurteil liegen wir also bereits bei drei Vierteln der ursprünglichen Klageforderung. Aber dafür kommen wir nach der durchlaufenen Berufung endlich unserem eigentlichen Ziel näher: Karlsruhe.

Und Karlsruhe bietet uns nicht nur die Chance, endlich das wohlverdiente Recht zu bekommen. Nein, wir können uns nebenbei auch ruinieren. Für die BGH-Verhandlung fallen dann noch einmal um die 5500 Euro an. Wir liegen nun also bereits bei 13.000 Euro Anwalts- und Gerichtskosten.

Nun mag mancher einwenden, dass dieser Betrag bereits den Streitwert von 10.000 Euro deutlich übersteigt. Was haben wir also davon, wenn wir schlussendlich (in Karlsruhe!) gewinnen? Die Antwort ist: Sehr viel. Denn die Prozesskosten trägt der Unterlegene. Insofern sind die 13.000 Euro also nicht so schlimm, denn wir zahlen sie ja nicht.

Wer aber nach Karlsruhe geht, der muss sich seiner Sache schon sehr sicher sein. Er muss fest davon ausgehen können, dass er vor dem Bundesgerichtshof Recht bekommt. Dass er selbst (ggf. mit seinem Anwalt) die juristische Situation besser einschätzen kann als die Richter des Landgerichts und des Oberlandesgerichts. Wenn man diese Selbstsicherheit mitbringt, dann kann man den Gang nach Karlsruhe wagen. Ansonsten hat man neben dem Ärger in der Sache auch noch horrende Zahlungsverpflichtungen für das Verfahren.

Dazu kommt aber noch eines: Karlsruhe will uns gar nicht sehen. Die Richter des BGH reißen sich nicht unbedingt darum, möglichst viele Urteile zu fällen. Und der Bundestag ist da ganz auf ihrer Seite. In den letzten Jahren gab es zahlreiche Änderungen im Prozessrecht, die großenteils sicherstellen wollten, dass möglichst wenige Fälle „ganz oben“ landen.
Die Revision ist dementsprechend nach aktueller Rechtslage nur noch zulässig, wenn die zugelassen wird. Man braucht also erst einmal eine Erlaubnis, um bis nach Karlsruhe zu kommen. Die Zulassung der Revision geschieht entweder durch das Gericht, das das Urteil gefällt hat, selbst. Das Gericht muss also von Haus aus sagen: „Na ja, so ganz sicher bin ich mir mit dem Urteil nicht. Geh mal ruhig in Revision dagegen.“ Hat sich das Gericht hierzu nicht herabgelassen, kann man dagegen den BGH anrufen. Man ist also immerhin schon mal in Karlsruhe. Nun muss man die Richter dazu bewegen, dass sie die Revision doch noch zulassen – sich also neue Arbeit aufbürden. Diese Regelung hat, kurz gesagt, das erreicht, was sie wollte: Die Zahl der Revisionen ist ziemlich gering. Zwar gibt es viele Verwegene, die nach Karlsruhe wollen. Über die Nichtzulassungsbeschwerde kommen die meisten aber nicht hinaus.

Vielleicht sollte man an der Stelle auch noch erwähnen, wann die Revision überhaupt zulässig ist. Dazu werden wir mal einen Blick ins Gesetz: „Die Revision ist zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat oder die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts erfordert.“ (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO) Steht da irgendwo etwas von „falsches Urteil“? Von „ungerecht“? Von „Lasst den Beklagten zu seinem Recht oder den Kläger zu seinem Geld kommen“? Nein, die Revision ist nur noch dazu da, das Recht weiterzuentwickeln. Das potentielle Urteil muss also irgendwie „interessant“ für das Gericht sein, sonst beschäftigt es sich gar nicht mit dem Fall.

Im übrigen darf man sich auch nicht der Illusion hingeben, der BGH würde die ganze Sache komplett neu aufrollen. Die Revisionsinstanz interessiert sich nur dafür, ob das Urteil rechtlich korrekt ist. Ob eine Zeugenaussage falsch war, ob die vorherigen Gerichte dem Falschen geglaubt haben, ob das Auto tatsächlich einen Kratzer im Lack hatte oder wie schlimm eine Verletzung war, ist nicht mehr relevant. Um derartige Dinge kümmert sich höchstens noch die Berufungsinstanz und sogar dort gibt es schon die Tendenz, Tatsachenfehler weitgehend aus dem Fokus des Gerichts herauszunehmen. Wenn Sie Ihren Prozess gewinnen wollen, dann hoffen Sie also nicht auf Karlsruhe, sondern versuchen Sie, gleich den ersten Prozess zu gewinnen – auch, wenn der vor dem Amtsgericht Hintertupfingen stattfindet.

Anrechnung der Untersuchungshaft

Zum letzten Beitrag („464 Tage sind ein Monat“) hat uns die Nachfrage erreicht, warum dieses lange Verfahren (15 Monate) nur als ein Monat auf die Freiheitsstrafe angerechnet wurde. Wenn er so lange in Untersuchungshaft war, dann müsse die Zeit dem Täter doch bereits als verbüßt angerechnet werden.

Dazu muss man eines wissen: Es geht hier nicht um die U-Haft. Der Täter war nicht in Haft. Also möglicherweise war es doch, aber das war nicht der Punkt für die Anrechnung. Dieser eine Monat Strafnachlass ist lediglich eine Entschädigung für die lange Dauer bis zur Entscheidung über die Revision. Falls er zusätzlich noch die ganzen 15 Monate (dann wahrscheinlich auch einige Monate vor dem erstinstanzlichen Urteil), wird ihm diese Zeit komplett auf die Strafe angerechnet.

§ 51 Abs. 1 StGB ist hier ganz deutlich:

Hat der Verurteilte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie (…) angerechnet.

Früher war dies übrigens etwas anders geregelt. § 60 des StGB von 1871 sah das im Grundsatz ähnlich vor, ließ dem Gericht aber viel mehr Spielraum:

Eine erlittene Untersuchungshaft kann bei Fällung des Urtheils auf die erkannte Strafe ganz oder theilweise angerechnet werden.

Dazu muss man wissen, dass es damals drei verschiedene Arten der regulären Freiheitsstrafe gab, die in einem Stufenverhältnis zueinander standen. Acht Monate Zuchthaus (die schwerste Freiheitsstrafe) entsprachen zwölf Monaten Gefängnis und acht Monate Gefängnis entsprachen zwölf Monaten Festungshaft (der leichtesten Verbüßungsart).

Nach diesem Maßstab hätte also auch die Untersuchungshaft umgerechnet werden müssen. Wer sechs Monate U-Haft hinter sich hatte, hätte damit nur vier Monate Gefängnis ausgleichen können. Wurde er gar zu Zuchthaus verurteilt, entsprach diese Haft nur gut zweieinhalb Monaten Freiheitsstrafe.

Eine derartige Umrechnung gestattete § 60 StGB a.F., sah es aber nicht verpflichtend vor. Anders dagegen ab Akzeptanz des Urteils durch den Angeklagten, also sobald er kein Rechtsmittel mehr einlegen kann. Gemäß § 482 StPO musste jede Freiheitsentziehung ab diesem Zeitpunkt „unverkürzt“, also voll angerechnet werden:

Auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe ist unverkürzt diejenige Untersuchungshaft anzurechnen, welche der Angeklagte erlitten hat, seit er auf Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet oder das eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen hat, oder seitdem die Einlegungsfrist abgelaufen ist, ohne daß er eine Erklärung abgegeben hat.

Diese Vorschrift ist heute praktisch überflüssig, da die Anrechnung ja über § 51 StGB sowieso ungeschmälert erfolgt.

464 Tage sind ein Monat

Der Bundesgerichtshof musste im Verfahren 2 StR 115/12 über die Revision eines Angeklagten entscheiden, der wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Die Entscheidung selbst ist nicht übermäßig spannend, die Revision wurde als unbegründet zurückgewiesen, das erstinstanzliche Urteil also bestätigt.

Interessant ist aber ein Nebenaspekt: Dafür, dass das Revisionsverfahren eher lang dauerte (das Landgerichts-Urteil stammte vom 19.12.2011, das BGH-Urteil vom 27.03.2013), wird dem Angeklagten ein Monat seiner Freiheitsstrafe erlassen. An der Straffestsetzung ändert sich dabei eigentlich nicht, lediglich dieser eine Monat wird „für verbüßt erklärt“.

Die lange Bearbeitungszeit seines Rechtsmittels und das damit schwebende Verfahren wirkt, so die Rechtsprechung, wie eine Strafe und ist daher zu berücksichtigen. Eine feste Regel, ab welcher Dauer eine solche Entschädigung stattfinden muss, oder gar eine Tabelle mit dem zu gewährenden Strafrabatt gibt es aber nicht. Hier sind die Gerichte relativ frei in der Rechtsfindung.

Der hier angewandte Maßstab erscheint jedenfalls eher großzügig. Zwischen den beiden Urteilen lagen gut 15 Monate oder 464 Tage, die ja beileibe nicht auf richterliches Nichtstun zurückzuführen sind, da auch die Begründung des ersten Urteils und die Ausarbeitung der Revision ihre Zeit brauchen.

Bundesgerichtshof, 09.06.2010, XII ZB 132/09

Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers wird der Beschluss des 8. Senats für Familiensachen des Oberlandesgerichts Hamm vom 1. Juli 2009 aufgehoben.

Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten der Rechtsbeschwerde, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Beschwerdewert: 1669 €

Gründe

I.

Die Parteien streiten um Abänderung eines Urteils zum nachehelichen Unterhalt aus der geschiedenen ersten Ehe des Klägers. Das Urteil des Amtsgerichts vom 5. Februar 2009 ist dem Kläger nicht in Ausfertigung, sondern in beglaubigter Abschrift am 27. März 2009 zugestellt worden. Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil ist am 23. Mai 2009 beim Oberlandesgericht eingegangen, die Berufungsbegründung am 27. Mai 2009.

Das Oberlandesgericht hat die Berufung als unzulässig verworfen, weil sie nicht innerhalb der Berufungsfrist des § 517 ZPO eingegangen sei. Die Berufungsfrist habe mit Zustellung der beglaubigten Abschrift des Urteils begonnen.

Dagegen richtet sich die Rechtsbeschwerde des Klägers, mit der er die Aufhebung des angefochtenen Beschlusses und eine Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Berufungsgericht begehrt.

II.

Für das Verfahren ist gemäß Art. 111 Abs. 1 FGG-RG noch das bis Ende August 2009 geltende Prozessrecht anwendbar, weil der Rechtsstreit vor diesem Zeitpunkt eingeleitet worden ist (vgl. Senatsurteil vom 16. Dezember 2009 – XII ZR 50/08 – FamRZ 2010, 357 Tz. 7 m.w.N.).

Die Rechtsbeschwerde ist gemäß §§ 574 Abs. 1 Nr. 1, 522 Abs. 1 Satz 4 ZPO statthaft und nach § 574 Abs. 2 Nr. 1 und 2 ZPO wegen grundsätzlicher Bedeutung und zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung zulässig. Sie ist auch begründet.

1. Die Monatsfrist zur Einlegung der Berufung beginnt nach § 517 ZPO mit Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils. Die Zustellung erfolgt nach § 317 Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 166 Abs. 2 ZPO von Amts wegen. Freilich bleibt das Original des Urteils stets bei den Akten. Stattdessen ist eine Ausfertigung zuzustellen (Wieczorek/Schütze/Rensen ZPO 3. Aufl. § 317 Rdn. 7).

a) Eine Ausfertigung ist eine in gesetzlich bestimmter Form gefertigte Abschrift, die dem Zweck dient, die bei den Akten verbleibende Urschrift nach außen zu vertreten (Senatsbeschluss vom 30. Mai 1990 – XII ZB 33/90 – FamRZ 1990, 1227). Durch die Ausfertigung soll dem Zustellungsempfänger die Gewähr der Übereinstimmung mit der bei den Akten verbleibenden Urteilsurschrift geboten werden (BGHZ 100, 234, 237 = NJW 1987, 2868 m.w.N. sowie BGH Beschlüsse vom 20. Juni 1989 – X ZB 12/87 und vom 28. November 2006 – VIII ZB 116/05 – jeweils veröffentlicht bei juris). Der Ausfertigungsvermerk bezeugt als eine besondere Art der Beurkundung, dass die Ausfertigung mit der Urschrift des Urteils übereinstimmt. Wegen dieser Besonderheit verlangt das Gesetz, dass die Ausfertigung von einem Urkundsbeamten der Geschäftsstelle zu unterschreiben und mit dem Gerichtssiegel zu versehen ist (§ 317 Abs. 4 ZPO).

Mit der Unterschrift erklärt der Urkundsbeamte, dass die in der Ausfertigung wiedergegebenen Teile des Urteils gleich lautend mit denen der Urschrift sind. Diese Erklärung braucht nicht wörtlich in dem Ausfertigungsvermerk enthalten zu sein. Das Gesetz sieht eine bestimmte äußere Form für den Ausfertigungsvermerk nicht vor (BGH Urteil vom 13. März 1969 – III ZR 178/67 – VersR 1969, 709, 710). Die Urteilsabschrift muss aber zumindest durch die Unterschrift des Urkundsbeamten, das Gerichtssiegel oder den Dienststempel und Worte wie „Ausfertigung“ oder „ausgefertigt“ erkennen lassen, dass es sich um eine Ausfertigung im Sinne des § 317 Abs. 4 ZPO handeln soll (BGH Urteil vom 18. Mai 1994 – IV ZR 8/94 – VersR 1994, 1495). Der Bundesgerichtshof hat deswegen bereits mehrfach die Zustellung beglaubigter Abschriften, die den Beglaubigungsvermerk nicht enthielten oder ihn unvollständig wiedergaben, für unwirksam gehalten, weil es damit für den Zustellungsempfänger an der Gewähr fehle, dass das ihm zugestellte Schriftstück der Urschrift entsprach (vgl. BGHZ 100, 234, 237 f. = NJW 1987, 2868).

b) Ob an Stelle einer Urteilsausfertigung auch eine beglaubigte Urteilsabschrift die Zustellungswirkung des § 517 ZPO begründen kann, ist in der Literatur umstritten (vgl. BGH Urteil vom 18. Mai 1994 – IV ZR 8/94 – VersR 1994, 1495).

aa) Teilweise wird vertreten, dass die in § 517 ZPO vorausgesetzte Amtszustellung statt in der Form einer vollständigen Urteilsausfertigung auch durch eine beglaubigte Abschrift des Urteils erfolgen kann (Thomas/Putzo/Reichold ZPO 30. Aufl. § 517 Rdn. 2; Hk-ZPO/Wöstmann 3. Aufl. § 517 Rdn. 2 und MünchKommZPO/Rimmelspacher 3. Aufl. § 517 Rdn. 9).

Überwiegend wird allerdings unter Hinweis auf die Bedeutung einer Ausfertigung und die Vorschrift des § 317 Abs. 1 und 4 ZPO vertreten, dass nur die Zustellung einer Ausfertigung der gerichtlichen Entscheidung die Berufungsfrist nach § 517 ZPO in Lauf setzen kann (Zöller/Vollkommer ZPO 28. Aufl. § 317 Rdn. 4; Musielak/Musielak ZPO 7. Aufl. § 317 Rdn. 3; Wieczorek/Schütze/ Rensen ZPO 3. Aufl. § 317 Rdn. 7 und Prütting/Gehrlein/Lemke ZPO § 517 Rdn. 5).

bb) Der Senat schließt sich der letztgenannten Auffassung an.

Die nach § 166 Abs. 2 ZPO von Amts wegen zuzustellenden Dokumente können grundsätzlich in Urschrift, Ausfertigung oder (beglaubigter) Abschrift zugestellt werden. Dabei ist die Zustellung einer beglaubigten Abschrift stets dann ausreichend, wenn das Gesetz keine andere Regelung enthält (Zöller/Stöber ZPO 28. Aufl. § 166 Rdn. 5). Denn eine besondere Form der Zustellung hat der Gesetzgeber ausdrücklich speziellen materiell- oder prozessrechtlichen Vorschriften vorbehalten (BT-Drucks. 14/4554 S. 15). Eine solche spezielle Vorschrift enthält das Gesetz in § 317 ZPO für die Zustellung von Urteilen.

Dass die Übergabe einer bloßen Abschrift des Urteils nicht die Anforderungen an eine ordnungsgemäße und wirksame Zustellung erfüllt, hat der Bundesgerichtshof bereits entschieden (BGH Beschluss vom 20. Juni 1989 – X ZB 12/87 – veröffentlicht bei juris). Soweit die Zustellung einer beglaubigten Abschrift für ausreichend erachtet wird, geht dies auf das frühere Recht zurück, das bis Juni 1977 eine Zustellung im Parteibetrieb vorsah. Die darauf beruhende Rechtsprechung beschränkt sich deswegen auf Fälle, in denen eine beglaubigte Abschrift einer bereits vorliegenden Urteilsausfertigung zugestellt wurde (BGH Urteil vom 10. Juni 1964 – VIII ZR 286/63 – MDR 1964, 916 und Beschlüsse vom 1. Juli 1974 – VIII ZB 17/74 – BGHWarn 1974, 475 und vom 29. September 1959 – VIII ZB 5/59 – NJW 1959, 2117, 2118 m.w.N.). Auf die Zustellung einer beglaubigten Abschrift des Urteils ohne vorliegende Ausfertigung des Urteils ist diese Rechtsprechung nicht übertragbar. Solange keine Ausfertigung der in den Akten verbleibenden Urschrift des Urteils erstellt ist, ist der Zweck, das Urteil nach außen zu vertreten, nicht erreicht (vgl. BGH Beschluss vom 28. November 2006 – VIII ZB 116/05 – veröffentlicht bei juris). Nach gefestigter Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entspricht die Form der Ausfertigung der besonderen Bedeutung und Wichtigkeit der kundzugebenden Entscheidung. Erst der Ausfertigungsvermerk verleiht der Ausfertigung die Eigenschaft einer öffentlichen Urkunde und bezeugt deren Übereinstimmung mit der in den Akten verbleibenden Urschrift (BGHZ 100, 234, 237 = NJW 1987, 2868 m.w.N.; vgl. auch § 47 BeurkG). Entsprechend lautet die amtliche Überschrift des § 317 ZPO auch „Urteilszustellung und -ausfertigung“ und für schriftlich vorliegende Urteile sieht § 317 Abs. 4 ZPO lediglich die Erstellung von Ausfertigungen und Auszügen vor.

Für die Zustellung als Voraussetzung für den Beginn der Rechtsmittelfrist kommt es entscheidend auf äußere Form und Inhalt der zur Zustellung verwendeten Ausfertigung an; bei Abweichungen zwischen Urschrift und Ausfertigung ist allein die Ausfertigung maßgeblich, weil allein sie nach außen in Erscheinung tritt und die Beschwerdepartei ihre Rechte nur anhand der Ausfertigung wahrnehmen kann und muss (Senatsbeschluss vom 24. Januar 2001 – XII ZB 75/00 – NJW 2001, 1653, 1654 und BGH Beschluss vom 25. Mai 2006 – IV ZB 47/05 – FamRZ 2006, 1114, 1115).

2. Die danach für den Beginn der Berufungsfrist nach §§ 517, 317 ZPO notwendige Ausfertigung des angefochtenen Urteils ist dem Kläger nicht bereits am 27. März 2009 zugestellt worden.

a) Allerdings mangelt es nicht schon deshalb an einer wirksamen Zustellung des Urteils, weil – wie die Rechtsbeschwerde meint – die Unterschrift der mitwirkenden Richterin in der zugestellten beglaubigten Abschrift nicht ordnungsgemäß wiedergegeben sei. Das ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Fall, wenn die Unterschrift in Klammern gesetzt und kein weiterer Hinweis (etwa „gez.“) hinzugefügt ist, dass der Richter das Urteil unterschrieben hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht es allerdings aus, wenn in der Ausfertigung die Namen der beteiligten Richter in Maschinenschrift ohne Klammern angegeben sind. Dann ist im Allgemeinen ein weiterer auf die Unterzeichnung hinweisender Zusatz nicht erforderlich (Senatsbeschluss vom 30. Mai 1990 – XII ZB 33/90 – FamRZ 1990, 1227; BGH Urteil vom 18. Mai 1994 – IV ZR 8/94 – VersR 1994, 1495 und Beschluss vom 1. April 1981 – VIII ZB 24/81 – VersR 1981, 576).

b) Bei der dem Kläger zugestellten Abschrift handelt es sich jedoch nicht um eine Ausfertigung des Urteils. Denn dieser Abschrift fehlt ein Ausfertigungsvermerk, der – wie ausgeführt – nicht durch den vorhandenen Beglaubigungsvermerk ersetzt werden kann.

3. Entgegen der Auffassung der Rechtsbeschwerdeerwiderung ergibt sich eine wirksame Zustellung am 27. März 2009 auch nicht aus der früheren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Parteizustellung.

Soweit im Rahmen der bis Juni 1977 vorzunehmenden Parteizustellung eine beglaubigte Abschrift der Urteilsausfertigung zugestellt werden durfte, hing die Wirksamkeit der Zustellung davon ab, dass die beglaubigte Abschrift in allen wesentlichen Punkten mit der zuvor erteilten Ausfertigung übereinstimmte (BGH Beschluss vom 1. Juli 1974 – VIII ZB 17/74 – BGHWarn 1974, 475). Es folgt schon aus der Natur der Sache, dass eine beglaubigte Abschrift nicht erstellt werden kann, bevor das Original – und im Falle einer beglaubigten Abschrift der Ausfertigung die Ausfertigung selbst – erstellt ist. Entsprechend sieht § 317 Abs. 2 ZPO vor, dass Ausfertigungen, Auszüge und Abschriften eines Urteils nicht erteilt werden dürfen, solange das Urteil nicht verkündet und nicht unterschrieben ist (vgl. Senatsbeschluss vom 30. Mai 2007 – XII ZB 82/06 – NJW 2007, 3640 Tz. 20).

Hier wurde die vollstreckbare Ausfertigung des angefochtenen Urteils ausweislich der Gerichtsakten erst am 4. Mai 2009 erstellt. Bei der schon zuvor am 27. März 2009 zugestellten beglaubigten Abschrift kann es sich mithin nicht um die Beglaubigung der erst später erstellten Urteilsausfertigung handeln.

4. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs beginnt der Lauf der einmonatigen Berufungsfrist aus § 517 ZPO nicht, wenn den Anforderungen, die an eine ordnungsgemäße Ausfertigung und Zustellung des erstinstanzlichen Urteils zu stellen sind, nicht Genüge getan ist (BGH Urteil vom 18. Mai 1994 – IV ZR 8/94 – VersR 1994, 1495). Das ist auch hier der Fall.

Im Zeitpunkt der Zustellung am 27. März 2009 war entgegen der zwingenden Vorschrift des § 317 ZPO noch keine Ausfertigung des angefochtenen Urteils erteilt. Die Zustellung der beglaubigten Abschrift des Urteils hat die Berufungsfrist deswegen noch nicht in Lauf gesetzt. Selbst nach Erteilung der vollstreckbaren Urteilsausfertigung am 4. Mai 2009 ist keine weitere Zustellung an den Kläger erfolgt. Er hat folglich mit der am 23. Mai 2009 eingegangenen Berufungsschrift die Berufungsfrist des § 517 ZPO und mit der am 27. Mai 2009 eingegangenen Berufungsbegründung die Begründungsfrist des § 520 Abs. 2 ZPO gewahrt. Das Berufungsgericht hat die Berufung deswegen zu Unrecht verworfen. Auf die Rechtsbeschwerde des Klägers ist der Rechtsstreit unter Aufhebung des angefochtenen Beschlusses zur weiteren Veranlassung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen.

Amnesty International: Folterbericht

Im Folterbericht von Amnesty International wird teilweise tatsächliche Folter angeprangert, teilweise die Verwendung von unter Folter gemachten Aussagen. Auch bundesdeutsche Behörden wurden und werden kritisiert. Die Erzwingungen von Aussagen ist natürlich schon in pragmatischer Hinsicht sehr fragwürdig, da der Wahrheitsgehalt derartiger Beweise – ähnlich wie bei der Kronzeugenregelung – sehr unsicher ist. Darum muss man sich schon einmal fragen, wie die Folter denn überhaupt jemals ihren Weg ins Strafrecht gefunden hat. Für uns klingt das heute alles sehr düster, barbarisch und mittelalterlich. Dabei ist das Tragische, dass die Einführung der Folter im Grunde nur die Nebenwirkung einer umfassenden Modernisierung und Rationalisierung des Rechts war. „Amnesty International: Folterbericht“ weiterlesen

Die Berufung im Strafverfahren

Jedes Urteil kann falsch sein. Darum kann man (fast) jedes Urteil mit einem Rechtsmittel angreifen. Das wohl bekannteste und umfassendste Rechtsmittel ist die Berufung.

Umfassend ist die Berufung deswegen, weil die Berufungsverhandlung eine völlig neue Hauptverhandlung darstellt. Die Beweise werden erneut erhoben, Zeugen noch einmal befragt, Gutachter tragen ein zweites Mal vor. Dabei wird das erstinstanzliche Urteil zwar verlesen (§ 324 Abs. 1 Satz 2 StPO), im Übrigen wird es aber praktisch als nichtexistent betrachtet. Es ist also nicht zulässig, einfach frühere Aussagen vor dem ersten Gericht zu verlesen (§§ 323 Abs. 2 Satz 1, 325 Satz 2).

Das Berufungsgericht bildet sich also eine komplett eigene Meinung, es kann die Beweise anders gewichten, es muss neu entscheiden, wem der Beteiligten es glaubt, es muss feststellen, welche Gesetzesvorschriften heranzuziehen sind und es muss aufgrund seiner Erkenntnisse zu einem Urteil kommen. Das Urteil kann selbstverständlich trotzdem mit dem der Vorinstanz identisch sein, wenn das Berufungsgericht zu denselben Schlussfolgerungen kommt wie das Ausgangsgericht.

Die Berufung kann dabei nur gegen Urteile des Amtsgerichts (Strafrichter oder Schöffengericht) eingelegt werden. Diese sind für kleine bis mittlere Kriminalität zuständig, also beispielsweise nicht für Tötungsverbrechen. Theoretisch kann das Amtsgericht Freiheitsstrafen bis zu vier Jahren verhängen, die allermeisten Urteile bewegen sich aber im Bereich der Geld- oder Bewährungsstrafen (bis zu zwei Jahre Haft). Für „große Kriminalität“ ist das Landgericht (oder ganz selten: das Oberlandesgericht) im ersten Rechtszug zuständig zuständig. Gegen diese Urteile gibt es keine Berufung, sondern nur die Revision, um die es hier aber nicht geht.

Und es ist tatsächlich irritierend, dass ausgerechnet bei bedeutenden Tatvorwürfen, die regelmäßig eine lange bis lebenslange Freiheitsstrafe nach sich ziehen, keine Berufung möglich ist. Was das Landgericht als Tatsache feststellt, ist grundsätzlich in Stein gemeißelt. Die offizielle Begründung dafür ist, dass die Tatsachenaufklärung bei diesen Urteilen ohenhin besonders gründlich passiert ist. Das ist wenig überzeugend: Zum einen ist der damit einhergehende Vorwurf gegenüber Amtsrichtern, man könne ihnen weniger trauen, kaum nachzuvollziehen. Zum anderen wäre es für eine detaillierte Erforschung der Wahrheit sicher nicht verkehrt, wenn auch die höheren Gerichte eine Kontrollinstanz über sich hätten.

Der Rechtsgedanke, dass die Berufung bei weniger schweren Delikten nicht unbedingt notwendig ist, ist dem Gesetz dabei auch gar nicht fremd: So bedarf die Berufung bei Geldstrafen von höchstens 15 Tagessätzen (das entspricht einem halben Monatsgehalt) der besonderen Zulassung durch das Berufungsgericht, die relativ selten erfolgt. Die Berufung ist also bei ganz leichter und bei schwerer Kriminalität nicht vorgesehen, nur für den „eher leichten“ bis mittleren Bereich gibt es sie. Diese Logik verstehe, wer will.

Und ein weiteres Problem existiert: Angeklagter und Staatsanwaltschaft sind waffengleich. Beide können die Berufung gleichermaßen einlegen. (Eine kleine Einschränkung gibt es: Die Staatsanwaltschaft kann nicht gegen einen Freispruch vorgehen, wenn sie selbst nicht mehr als 30 Tagessätze Geldstrafe, also ein Monatsgehalt, gefordert hat.) Das bedeutet also, dass die Staatsanwalt aus einem Freispruch des Angeklagten durch die Berufung zum Landgericht eine Verurteilung machen kann. Kommt die Strafkammer beim Landgericht zu einer anderen Beurteilung der Angelegenheit, steht am Ende auf einmal ein Schuldspruch. Dieser Schuldspruch ist dann nur noch aus Rechtsgründen durch die Revision anfechtbar.

Der Grundsatz „in dubio pro reo“ (im Zweifel für den Angeklagten) wird dadurch erheblich eingeschränkt. Auch, wenn das Berufungsgericht gerade keinen Zweifel gesehen und darum verurteilt hat: Die erste Instanz war anderer Meinung. Und das allein sollte reichen, die Sicherheit des Urteil, die man von einem Rechtsstaat erwarten können sollte, verneinen.

Noch eine Sache wirft ein eher problematisches Licht auf diese Konstellation: Wäre der Angeklagten in erster Instanz verurteilt und in der zweiten freigesprochen worden, würde der Freispruch bestehenbleiben. Dabei ist auch diese Situation nichts wesentlich anderes. Von zwei Gerichten hat eines so und eines so entschieden. Dafür, dass sich das landgerichtliche Urteil durchsetzt, gibt es keinen durchschlagenden Grund. Ein Richter am Landgericht mag länger im Amt sein und über mehr Erfahrung verfügen. Bei der Feststellung von Tatsachen ist er kaum kompetenter als sein Kollege am Amtsgericht.

Sinnvoller wären daher folgende Änderungen:

Nur der Angeklagte kann Berufung einlegen. Hat eine von beiden Tatsacheninstanzen Zweifel an seiner Schuld, so reicht das. Die Staatsanwaltschaft bleibt auf eine Rechtskontrolle (Revision) beschränkt.

Berufung ist nur gegen Urteile mit erheblicher Strafzumessung möglich. Wo man die Grenze zieht, ist Sache des Gesetzgebers, aber gerade bei Schwerverbrechen muss Berufung möglich sein.

Keine Zwangsbegutachtung in Sorgerechtsstreitigkeiten

Der BGH hat entschieden (Beschluss vom 17. Februar 2010, XII ZB 68/09), dass eine Zwangsbegutachtung eines Elternteils in einem Sorgerechtsverfahren nicht zulässig ist:

a) In Verfahren nach § 1666 BGB kann ein Elternteil mangels einer gesetzlichen Grundlage nicht gezwungen werden, sich körperlich oder psychiatrisch/psychologisch untersuchen zu lassen und zu diesem Zweck bei einem Sachverständigen zu erscheinen (im Anschluss an BVerfG FamRZ 2009, 944 f.; 2004, 523 f.).
b) Verweigert in Verfahren nach § 1666 BGB ein Elternteil die Mitwirkung an der Begutachtung, kann dieses Verhalten nicht nach den Grundsätzen der Beweisvereitelung gewürdigt werden.
c) In Betracht kommt allerdings, den die Begutachtung verweigernden Elternteil in Anwesenheit eines Sachverständigen gerichtlich anzuhören und zu diesem Zweck das persönliche Erscheinen des Elternteils anzuordnen und gegebenenfalls gemäß § 33 FGG durchzusetzen (vgl. auch § 33 FamFG).

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