Heute möchten wir zeigen, wie sich die Zuständigkeiten des Bundes im Laufe der Jahrzehnte vergrößert haben. Dazu haben wir die Listen der konkurrierenden und der ausschließlichen Gesetzgebung gegenübergestellt. Die in den Artikeln 73 und 74 aufgezählten Themen können vom Bund geregelt werden, alle anderen von den Ländern (Art. 70 Abs. 1 GG). Wie man unschwer erkennen kann, sind die Listen mit Bundeszuständigkeiten dabei deutlich gewachsen – oder, anders gesagt, die Kompetenzen der Länder deutlich eingeschränkt worden. „Bundeszuständigkeiten im Grundgesetz (Art. 73 und 74 GG)“ weiterlesen
Grundrechte
Schon allein, weil jeder nach Karlsruhe (II) gehen möchte, fühlt sich auch jeder bemüßigt, über Grundrechte zu reden. Dabei ist das Unwissen auf diesem Feld oft leider besonders groß. Dieses Unwissen zieht sich aber leider bis tief ins Studium hinein und der eine oder andere kapitale Fehler kommt sicher auch im Staatsexamen noch vor. Wenn man ein Prinzip erst einmal begriffen hat, kann so viel nicht mehr schiefgehen: Grundrechte sind Abwehrrechte gegen staatliche Eingriffe.
Fangen wir mit dem einfacheren Teil an: Es geht um das Verhältnis zwischen dem Bürger und dem Staat. Gegenüber anderen Menschen habe ich keine Grundrechte. Ich kann keiner anderen Person vorwerfen, dass Sie bspw. mein Grundrecht auf Religionsfreiheit verletzt habe. Denn ich habe gegenüber meinem Mitbürger kein Recht auf Religionsfreiheit. Wenn mein Nachbar also in ohrenbetäubender Lautstärke „Highway to Hell“ hört, während ich mich dem Studium der Bibel widmen will, dann mag das je nach den Umständen des Einzelfalls gegen zivil- oder strafrechtliche Gesetze verstoßen – aber mit meinem Grundrecht auf Religionsfreiheit aus Artikel 4 Absatz 1 des Grundgesetzes hat das nichts zu tun. Anders ist es dagegen, wenn der Staat sich einmischt. Verbietet mir dagegen der Landkreis, nach den Vorschriften des Alten Testament in meinem Garten einen Hammel zu schlachten und anschließend auf einem prächtigen Scheiterhaufen zu opfern, dann kommt das Grundrecht ins Spiel; denn der Landkreis übt Staatsgewalt aus und ist damit an die Grundrechte gebunden.
Auf den ersten Blick weniger einleuchtend ist dagegen die Funktion des Abwehrrechts: Es klang oben schon an, dass es in Grundrechtsfällen in erster Linie um Verbote geht. Grundsätzlich ist es so, dass ein Bürger unverschämterweise macht, was er will. Der Staat hingegen setzt dem Grenzen und erlässt Gesetze, die bestimmte Handlungen verbieten. Dabei darf man dem Staat aber nicht völlig freie Hand lassen, sonst verbietet er nämlich alles. Darum gibt es die Grundrechte: Sie verbieten dem Staat, allzuviel zu verbieten. Er darf also – grundsätzlich, zu den Einschränkungen kommen wir später – nichts verbieten, was zur genannten Religionsfreiheit gehört, ebenso in Bezug auf die Meinungsfreiheit oder den Beruf.
Die Grundrechte schützen also die Freiheit des einzelnen – aber sie verbürgen keinen Anspruch auf irgendetwas. Bei Studentenprotesten wird immer gern ein Grundrecht auf Bildung bemüht. Ein solches Grundrecht kann aber keinesfalls bedeuten, dass jeder das Recht auf ein kostenloses Studium hätte. Wenn dem so wäre, dann würde das Grundrecht auf Eigentum (Art. 14) logischerweise bedeuten, dass jeder jedes Eigentum kostenlos für sich beanspruchen könnte. Also nochmal: Der Staat darf mir meine Freiheit, etwas im Rahmen meiner Grundrechte zu tun, nicht nehmen. Aber ich habe keinen Anspruch darauf, irgendeine Leistung vom Staat zu bekommen, um mein Grundrecht ausüben zu dürfen.
Ach ja, bevor es unter den Tisch fällt: Ein Bildungs-Grundrecht gibt es im Grundgesetz sowieso nicht. Offensichtlich befinden sich unter den üblicherweise demonstrierenden Studenten keine Jura-Studenten. Oder zumindest keine besonders guten.
Soweit wir und im sogenannten Schutzbereich von (real existierenden) Grundrechten befinden, ist dieser Schutz aber auch noch nicht absolut. Sonst könnte man zum Beispiel eine Religion gründen, die all das erlaubt, was im deutschen Recht eigentlich verboten ist. Unter dem Deckmantel der Religionsfreiheit wäre dann jedes Verbot ein Verstoß gegen das Grundgesetz. Und das kann ja nicht der Sinn der Sache sein, wenngleich es organisierter Religion sicher einen enormen Zulauf bescheren würde. Zulässig sind daher Eingriffe des Staates, die bestimmten formellen und inhaltlichen Maßstäben genügen.
Zunächst braucht man ein Gesetz. Und zwar ein Gesetz im engeren Sinne, das durch das Parlament verabschiedet wurde. Gesetze im weiteren Sinne, also zum Beispiel Verordnungen der Regierung, gemeindliche Satzungen, die Schulordnung oder andere Rechtsnormen genügen dafür nicht. Sie alle können zwar in Grundrechte eingreifen, aber nur quasi als „ausführendes Organ“, das sich auf eine entsprechende Erlaubnis durch Parlamentsgesetz stützt.
Aber auch ein solches formelles Gesetz darf nicht alles: Die Einschränkung eines Grundrechts darf nur aus einem vernünftigen Grund geschehen. Es ist verboten, den oben genannten Hammel unfachgemäß zu schlachten, weil der Tierschutz ein Ziel des Staates ist. Und ich darf in meinem Garten kein Feuerchen machen, weil das möglicherweise die Gesundheit und das Eigentum meiner Nachbarn beeinträchtigen würde. Der Staat darf es aber nicht einfach so verbieten, pinke Schuhe anzuziehen. Der modische Geschmack einer zivilisierten Gesellschaft reicht für diesen Freiheitseingriff als Grund leider nicht aus.
Nun mag mancher einwenden, wo es denn ein Grundrecht auf das Tragen pinker Schuhe gibt. Es ist richtig, ein solches Recht gibt es nicht. Aber es gibt Artikel 2 des Grundgesetzes. Dieses sieht ein Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit vor. Und darunter fällt jede denkbar menschliche Handlung. Man hätte das Grundrecht also auch mit den Worten „Jeder darf tun und lassen, was er will“ formulieren können. Das hat man aber nicht getan, weil das nicht so schön juristisch klingt. Immer, wenn der Staat uns irgendetwas vorschreiben will, greift er in die Entfaltung der Persönlichkeit ein und braucht daher ein Gesetz.
Haben Sie’s gemerkt? Nicht? Jetzt müsste Ihnen doch etwas komisch vorkommen. Wenn es im Artikel 2 ein wirklich allumfassendes Grundrecht gibt, wofür brauche ich dann noch spezielle Grundrechte? Wenn ich überhaupt schon alles tun darf, was meiner Persönlichkeit entspringt, warum darf ich darf religiöse oder wissenschaftliche Handlungen erst recht vornehmen? Der Grund ist, dass die allgemeine Handlungsfreiheit nach Artikel 2 einen deutlich geringeren Schutz bietet. Das Gesetz, das hierin eingreift, muss einfach nur irgendwie nachvollziehbar sein. Und es muss auch keine besonders exakte Festlegung des Eingriffs und seiner Voraussetzungen bieten.
Gut und Böse
„So schwer kann Jura doch nicht sein. Ich hab da einen Fall und muss dann entscheiden ‚OK, du warst böse, du zahlst‘.“ Das ungefähr sagte meine Freundin (heute ist sie nicht mehr meine Freundin; wir haben eingesehen, dass wir nicht zusammenpassen, darum ist sie jetzt meine Frau), als ich ihr kurz aus meinen ersten Jura-Vorlesungen im Zivilrecht berichtete. Im Strafrecht geht es tatsächlich meistens um „die Bösen“; es ist klar, dass irgendeine Straftat stattgefunden hat oder es liegt zumindest sehr nahe. Anders im Zivilrecht. Fälle der Art „A schlägt B ohne jeden Grund die Brille vom Kopf, sodass diese zerbricht. Muss A den Schaden bezahlen?“ kommen im juristischen Studium kaum vor und sind auch in der Realität nicht besonders spannend. Ein normaler Anwalt wird seinem Klienten A raten, den Schaden zu bezahlen und damit möglichst kostengünstig und ohne teuren Prozess aus der Sache rauszukommen.
Die Zivilgerichte entscheiden daher auch normalerweise nicht über Gut und Böse. Interessant sind gerade die Fälle, in denen es niemanden gibt, den die Schuld trifft. Oder der Übeltäter ist nicht greifbar, nicht zurechnungsfähig oder nicht zahlungsfähig. Die Frage ist dann, wie die greifbaren, zurechnungsfähigen und zahlungsfähigen Beteiligten miteinander auskommen.
Und so gibt es gerade im Studium die aberwitzigsten Fälle, die ironischerweise oft genug echten Urteilen und damit auch echten Begebenheiten entspringen. Da verkauft der V ein Auto an den K. Als K das Auto, das in der Garage des V steht, abholen will, trifft er niemanden an, weil V kürzlich vom Dobermann des Hundehalters H zerfleischt wurde, den der 9-jährige Sohn der Nachbarin N versehentlich aus seinem Zwinger gelassen hat. Zwischenzeitlich brennt die Garage des V ab, wodurch das Auto restlos zerstört wird und K, der das Auto schon weiter an den X verkauft hat, ziemlich in der Bredouille sitzt. X fragt sich nun, was er machen soll, da er doch zum Kauf des Autos extra einen sündteuren Überbrückungskredit bei der Bank B aufgenommen hat. Und jetzt sind Sie dran: Wer ist der Böse?
Es sind genau diese Fälle voller Unsicherheiten und Zufälle, die die gerichtliche Praxis ausmachen. Wer nun meint, es müsse doch irgendwo ein Gesetz geben, das derartige Fälle regelt, der wird auch nach dem Studium jedes einzelnen der über 2000 Paragraphen des BGB enttäuscht bleiben. Das Leben ist zu vielfältig, um von Juristen in seiner Vollständigkeit erfasst zu werden. Es wird immer einen Fall geben, der nirgends geregelt ist und der nur durch Zuhilfenahme von subjektiven Gerechtigkeitserwägungen gelöst werden kann. Vor Gericht ist man eben doch manchmal in Gottes Hand. Aber wir können ja immer noch nach Karlsruhe gehen…
Mord und Totschlag als Tätertypdelikte
Mord und Totschlag gelten als Tätertypdelikte, weil sie ausweichlich ihres Wortlauts nicht die Tat bestrafen, sondern den Täter. Nach der NS-Tätertypenlehre waren „der Mörder“ und „der Totschläger“ bestimmte Menschengattungen, deren Wesen sich in der jeweiligen Tatbegehung offenbart. Insoweit wurden die §§ 211 und 212 StGB durch die Nazis als Avantgarde eines neuen Strafrechts bzw. später als Fremdkörper in einem ansonsten rational und von Tatbeständen geprägtem Gesetz gesehen.
In Wirklichkeit sind diese Tatbestände aber nur ideologisch verbrämte Umschreibungen für ganz konventionelle Deliktbeschreibungen. Man könnte sie ohne jede Schwierigkeit auch anders als normale Strafvorschriften umschreiben: „Mord und Totschlag als Tätertypdelikte“ weiterlesen
Bemerkungen zu BayVerfGH, 12.03.1986, Vf 23-VII-84
In seinem Urteil unter dem Aktenzeichen Vf 23-VII-84 hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof zur Frage Stellung genommen, welche rechtliche Bedeutung die bayerische Staatsangehörigkeit heute noch hat, insbesondere im Verhältnis zur deutschen Staatsbürgerschaft nach dem Grundgesetz. Heute möchten wir uns kritisch mit dieser Entscheidung auseinandersetzen:
Zunächst muss man konstatieren, dass dieses Urteil keine Sternstunde der bayerischen Verfassungsgerichtsbarkeit ist. Der Verfassungsgerichtshof hat das Vorbringen der Antragsteller (eine politische Jugendorganisation) erkennbar eher wenig ernst genommen. Durch das gesamte Urteil ziehen sich Ausführungen, die wenig juristische Argumentation oder gar Subsumtion erkennen lassen und sich stattdessen hauptsächlich mit Nützlichkeitserwägungen auseinandersetzen.
Schon der gewählte Weg, zum antragsabweisenden Urteil zu kommen, erscheint fragwürdig. Nicht die Begründetheit wurde untersucht, sondern es wurde bereits auf Zulässigkeitsebene konstatiert, dass „eine Verletzung dieser Verfassungsnormen von vornherein nicht möglich erscheint“, Absatz b). Zwar findet daran anschließend auch eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den vorgebrachten Argumenten statt, diese bleibt aber in vielerlei Hinsicht an der Oberfläche.
In Absatz bb) heißt es:
Durch Art. 6 BV ist die bayerische Staatsangehörigkeit als Institution wieder eingeführt worden. Unmittelbare Rechtsfolgen für den einzelnen Bürger ergeben sich daraus aber noch nicht. Art. 6 Abs. 1 BV nennt nur ganz allgemeine Voraussetzungen für den Erwerb der bayerischen Staatsangehörigkeit, wobei an herkömmliche Tatbestände des Staatsagehörigkeitsrechts angeknüpft wird (…). Eine konkrete Zuerkennung der bayerischen Staatsangehörigkeit an bestimmte Personen ist aber nicht möglich, solange das in Art. 6 Abs. 3 BV vorgesehene Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit nicht erlassen ist.
Damit wird zum einen – was nach wie vor absolut herrschende Meinung in der Rechtsprechung ist – die Existenz der bayerischen Staatsangehörigkeit bestätigt. Die weiteren Ausführungen sind aber nur verständlich, wenn man zunächst klärt, was mit einer „konkreten Zuerkennung“ gemeint ist, die derzeit nicht möglich sei. Fasst man dies als Verleihung der Staatsbürgerschaft an bisherige Nichtbürger auf, wäre dem durchaus zuzustimmen: Niemand kann eingebürgert werden, solange nicht gesetzlich geregelt ist, unter welchen Voraussetzungen dies geschieht. Aber das meint das Urteil nicht – was allerdings erst später klar wird. Das Gericht ist vielmehr der Meinung, dass Artikel 6 insgesamt bedeutungslos ist, solange es kein Ausführungsgesetz gibt.
Die Erwerbstatbestände in Art. 6 Abs. 1 der Bayerischen Verfassung als „ganz allgemein“ bezeichnet und damit faktisch weggewischt. Nur über ein Ausführungsgesetz (nach Abs. 3) könnten sie zum Leben erweckt werden. Das wird dem Regelungsgehalt der Verfassung aber nicht gerecht. Zumindest die Kriterien Geburt, Legitimation (im heutigen Sprachgebrauch: Anerkennung der Vaterschaft) und Eheschließung sind aus sich selbst heraus verständlich, auch ohne erläuterndes Ausführungsgesetz. Diese Voraussetzungen mögen allgemein sein, sie sind aber eben auch – wie der BayVerfGH selbst feststellt – „herkömmlich“. Es sind also ganz übliche Gründe für das Erlangen einer Staatsangehörigkeit, die ganz übliche Rechtsbegriffe verwenden, die ohne Weiteres verständlich sind bzw. – soweit notwendig – nach ganz üblichen Gesichtspunkten interpretiert werden können. Die Vorstellung, dieser Absatz sei so unverständlich, dass man ihn nur mit Hilfe eines nähere Bestimmungen treffenden Gesetzes auslegen könne, ist jedenfalls nicht nachzuvollziehen.
Zwar geht auch das Grundgesetz in Art. 74 Nr. 8 davon aus, daß es besondere Regelungen über die Staatsangehörigkeit in den Ländern geben darf und daß diese, da der Bund auf diesem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung noch nicht tätig geworden ist, von den Ländern erlassen werden können
Diese Grundgesetzbestimmung wurde zwischenzeitlich gestrichen. Nach der alten Rechtslage konnten die Länder die Länder-Staatsangehörigkeit selbst regeln, soweit es noch kein Bundesgesetz, welches auch tatsächlich nie erlassen wurde, gab (sog. konkurrierende Gesetzgebung). Mittlerweile wurde die Thematik aus dem GG ganz gestrichen, die Zuständigkeit liegt also ausschließlich bei den Ländern. Die Tatsache, dass das Grundgesetz eine Länder-Staatsangehörigkeit aber ursprünglich vorgesehen hat, zeigt, dass es sie offensichtlich geben muss.
Umso mehr verstört die Aussage des Verfassungsgerichtshofs:
Das Grundgesetz schließt es aber aus, daß der Kreis der Landesangehörigen insgesamt größer sein könnte als der Kreis der Deutschen (…). Es widerspräche dem Wesen des im Grundgesetz verankerten und ausgestalteten Bundesstaats, wenn es in den einzelnen Ländern Staatsbürger mit unterschiedlicher Rechtsstellung in bezug auf den Bundesstaat einerseits und auf das betreffende Land andererseits gäbe. Die staatsrechtliche Einordnung in den Bundesstaat ist für ein Land so umfassend, daß ihm eine Zweiteilung seiner Staatsbürger in solche, die zugleich Deutsche sind, und in andere, die nicht Deutsche sind, durch das Grundgesetz versagt ist.
Also darf der Freistaat zwar seine Staatsangehörigkeit regeln, er darf aber keine Bayern schaffen, die nicht zugleich Deutsche sind. Welchen Sinn dieses (einst ausdrücklich normierte, mittlerweile implizit zugestandene) Recht dann noch haben soll, beantwortet der VerfGH aber auch sogleich:
Ein Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit dürfte nach alledem kraft höherrangiger Gebote des Grundgesetzes keine Nicht-Deutschen zu Bayern machen, sondern könnte nur eingrenzende Regelungen darüber enthalten, welche Deutschen im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG zugleich bayerische Staatsangehörige im Sinn von Art. 6 Abs. 1 BV sind und welche nicht.
Bayern dürfte damit nur Deutsche einbürgern, nicht aber bspw. Österreicher. Man muss den Richtern aber fast dankbar sein, dass sie schon in den nächsten Worten ihre eigene Rechtsauffassung in der Realität einordnen:
Rechtliche Auswirkungen eines solchen Gesetzes wären kaum denkbar, weil alle Rechte, die den bayerischen Staatsangehörigen zuerkannt würden – z.B. das Wahlrecht -, wegen Art. 8 BV, Art. 33 Abs. 1 GG allen anderen Deutschen unter den gleichen Voraussetzungen zustehen müßten.
Um das zu verstehen, muss man sich die drei Anwendungsfälle der bayerischen Staatsbürgerschaft und deren Auswirkungen ansehen:
- Bayern, die auch Deutsche sind: Unproblematisch.
- Deutsche, die keine Bayern sind, aber in Bayern leben: Unproblematisch, da sie über die genannten Verfassungsnormen den Bayerns gleichgestellt werden.
- Bayern, die keine Deutschen sind: Darf es nicht geben.
Damit ist Artikel 6 der Bayerischen Verfassung praktisch vollständig ausgehebelt. In den ersten beiden Fällen hat sie deswegen keine Bedeutung, weil sich alle Rechte und Pflichten aus der deutschen Staatsbürgerschaft ergeben. Und im letzten Fall erlangt sie erst recht keine Bedeutung, weil Nicht-Deutsche keine Bayern werden dürfen. Damit hat der Verfassungsgerichtshof der Regierung und dem Landtag praktisch einen Freibrief ausgestellt, über die Verfassung hinwegzusehen, indem sie der bayerischen Staatsbürgerschaft jeden Anwendungsbereich entzogen hat. Der Staatsangehörigkeit in den Ländern ist damit der Boden entzogen.
Dass die Staatsangehörigkeit in den Ländern zu dieser Zeit sogar noch ausdrücklich im Grundgesetz geregelt war, hinderte den VerfGH nicht daran, sich auf eine ungeschriebene Einschränkung durch das Grundgesetz zu berufen:
Die staatsrechtliche Einordnung in den Bundesstaat ist für ein Land so umfassend, daß ihm eine Zweiteilung seiner Staatsbürger in solche, die zugleich Deutsche sind, und in andere, die nicht Deutsche sind, durch das Grundgesetz versagt ist.
Zu dieser Aussage müsste man konsequenterweise fragen: Wieso? Woraus soll sich das ergeben? Und mehr noch, warum geht das GG dann überhaupt von einer Staatsbürgerschaft der Länder aus? Auch der folgende Satz erhellt dies kaum bzw. macht einen noch ratloser:
Das bundesstaatliche Prinzip läßt es nicht zu, daß die Länder, deren Staatsgebiete insgesamt das Bundesstaatsgebiet bilden, in das Bundesvolk nur einen Teil ihres eigenen Staatsvolks einbringen.
Haben die Länder ihr Volk wirklich „in den Bund eingebracht“? Sind die Bürger Verfügungsmasse ihrer Heimatländer? Und warum kann jemand nicht Staatsbürger des Landes, aber nicht Staatsbürger des Bundes sein? Er kann ja auch Bewohner eines Landes (und des Bundes) sein, aber weder Staatsbürger des einen noch des anderen.
Es könnte also z.B. bayerische Staatsangehörige geben, die – weil sie nicht zugleich Deutsche wären – etwa von den bundesrechtlichen Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Artl. 8 Abs. 1 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ausgeschlossen wären oder an das Ausland ausgeliefert werden dürften (Art. 16 Abs. 2 GG).
Und weil sie sich nicht versammeln dürften, darf es keine nicht-deutschen Bayern geben…?
Denn die Landesregierungen, die den Bundesrat bilden (Art. 50 und 51 Abs. 1 GG), die Mitglieder der Bundesversammlung, die den Landesparlamenten angehören (Art. 54 Abs. 3 GG) und die Landesminister, die an der Richterwahl mitwirken (Art. 95 Abs. 1 und Abs. 2 GG), sind nach Landesverfassungsrecht bestellte Organe. Im Gesetzgebungsverfahren des Bundes könnten dann Ausländer im Sinn des Bundesrechts, die aber zugleich Staatsangehörige eines Bundeslandes wären, mittelbar beim Erlaß bundesrechtlicher Regelungen mitwirken
Das Beispiel der Bundesversammlung ist schon falsch, da die von den Landtagen bestellten Mitglieder nicht auch Mitglied des Landtags sein müssen (so werden häufig Prominente entsendet) und im Übrigen das Bundespräsidentenwahlgesetz festlegt, dass sie Deutsche sein müssen.
Aber richtig, das wäre dann denkbar, dass Bayern, die keine Deutschen sind, bis zum Staatsminister aufsteigen können. Will der Bundesgesetzgeber diese von der Mitgliedschaft im Bundesrat ausschließen, muss er dies eben entsprechend regeln. Oder man schwenkt auf eine derivative Bundesbürgerschaft um, wie sie vor 1934 galt: Wer Landesbürger ist, ist automatisch Bundesbürger (bzw. war früher Reichsbürger). Dann ergäben sich die ganzen angeblichen Probleme nicht, aber die Staatsangehörigkeit wäre vollends in die Hände der Länder gelegt.
Man fragt sich aber auch, warum der Bundesgesetzgeber sein früheres Recht gemäß Art. 74 Nr. 8 GG (siehe oben), die Länderstaatsangehörigkeiten zu regeln, nie wahrgenommen hat, wenn doch derart gewichtige Nachteile drohen. Offensichtlich wurden diese Probleme nie als solche erkannt – da musste schon ausgerechnet der Bayerische Verfassungsgerichtshof in die Bresche springen und die Bundesrepublik vor schlimmstem Ungemach aus dem Freistaat bewahren.
Und auch, wenn man zu dem Schluss kommt, dass das Urteil vertretbar ist, stellt sich schon die Frage, ob es die Aufgabe eines bayerischen Verfassungsorgans ist, hier in vorauseilendem Gehorsam ein wesentliches und in der Verfassung festgelegtes Merkmal bayerischer Staatlichkeit derart gründlich zu eliminieren. Man könnte auch von einem Gericht erwarten, dass es sich hier eher auf die Seite des eigenen Staates schlägt und es dem Bund überlässt, gegen unerwünscht empfundene Auswirkungen vorzugehen. Stattdessen hat der BayVerfGH auf Interpretationsebene einen ganzen Artikel praktisch aus der Verfassung raus geurteilt.
Für die dafür verwendete juristische Technik ist das Textkonvolut unter cc) geradezu beispielhaft. Mit richtiggehendem Furor, ohne Absätze und ohne sauber getrennte juristische Argumente reiht das Gericht Befürchtungen, Warnungen und schwer nachvollziehbare Beispiele aneinander, die wirken, als wollten sie den Bund gegen innere Auflösung verteidigen. An vielen Stellen hat man das Gefühl, dass das Ergebnis einfach gar kein anderes sein konnte und die Richter die Worte gesucht haben, mit denen sie das in juristische Formen gießen konnten. Diese Worte haben sie aber, das darf man recht nüchtern konstatieren, nicht gefunden.
Insgesamt wird man also kaum annehmen können, dass dieses Urteil das letzte Wort in der Sache ist. Die Entscheidung lässt zu viele Fragen offen und es erscheint äußerst zweifelhaft, ob sie heute noch einmal so ergehen würde. Eine neue Klage mit denselben Argumenten, vielleicht etwas zielgenauer formuliert, unterfüttert mit neuen Gesichtspunkten angesichts der veränderten Verfassungs- und Europarechtslage und unmittelbar auf die Argumente der vorliegenden Entscheidung gerichtet, könnte durchaus Erfolg haben.
Bayerischer Verfassungsgerichtshof, 12.03.1986, Vf 23-VII-84
Urteil des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs vom 12.03.1986
Aktenzeichen: BayVerfGH, Vf 23-VII-84
Fundstellen: VerfGH 39, 30; BayVBl 1986, 396; JZ 1986, 101; NJW 1986, 2820
Eine kritische Rezension dieses Urteils finden Sie ebenfalls auf dieser Homepage.
1. Art. 1 Abs. 1 des Landeswahlgesetzes und Art. 1 Abs. 1 des Gemeindewahlgesetzes verstoßen nicht dadurch gegen Art. 7 Abs. 2 und Art. 118 Abs. 1 BV, daß sie bei der Regelung der Wahlberechtigung nicht an eine besondere bayerische Staatsangehörigkeit, sondern an die Eigenschaft als Deutscher im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG anknüpfen.
2. Durch Art. 6 BV ist die Bayerische Staatsangehörigkeit als Institution wieder eingeführt worden. Eine konkrete Zuerkennung der bayerischen Staatsangehörigkeit an bestimmte Personen ist aber nicht möglich, solange das in Art. 6 Abs. 3 BV vorgesehene Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit nicht erlassen ist.
3. Ein bayerisches Gesetz dürfte die bayerische Staatsangehörigkeit nicht Personen zuerkennen, die nicht zugleich Deutsche im Sinn des Grundgesetzes sind. Das im Grundgesetz verankerte bundesstaatliche Prinzip schließt es aus, daß der Kreis der Landesangehörigen insgesamt größer sein könnte als der Kreis der Deutschen.
4. Ein Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit könnte nur eingrenzende Regelungen darüber enthalten, welche Deutschen im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG zugleich bayerische Staatsangehörige im Sinn des Art. 6 Abs. 1 BV sind und welche nicht.
Aus den Gründen:
(…)
IV. Die Popularklagen sind unzulässig.
(…)
3. Auch die von der Antragstellerin zu 2. erhobene Popularklage ist unzulässig.
a) Zu den prozessualen Voraussetzungen einer Popularklage gehört, daß der Antragsteller substantiiert angeben muß, inwiefern die angefochtene Rechtsvorschrift nach seiner Meinung in Widerspruch zu einer Grundrechtsnorm der Bayerischen Verfassung steht. Die Popularklage ist unzulässig, wenn die geltend gemachte Verletzung einer Grundrechtsnorm nach Sachlage von vornherein nicht möglich ist, weil der Schutzbereich des angeblich verletzten Grundrechts durch die angefochtene Rechtsvorschrift nicht berührt wird (ständige Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofs; vgl. Meder, RdNrn. 19 und 21 zu Art. 98 m.w.N.).
Eine substantiierte Grundrechtsrüge liegt schon dann nicht vor, wenn ein Antragsteller lediglich behauptet, daß die angefochtene Rechtsvorschrift nach seiner Auffassung gegen Grundrechtsnormen der Bayerischen Verfassung verstößt. Der Verfassungsgerichtshof muß anhand von substantiiert bezeichneten Tatsachen und Vorgängen beurteilen können, ob der Schutzbereich der bezeichneten Grundrechtsnormen berührt ist (vgl. VerfGH vom 10.12.1985, Vf. 24-VII-83, S. 16, und vom 21.2.1986, BayVBl. 1986, 298/299).
b) Die von der Antragstellerin als verletzt bezeichneten Verfassungsnormen (Art. 7 Abs. 2 und Art 118 Abs. 1 BV) verbürgen Grundrechte. Eine Verletzung dieser Verfassungsnormen erscheint jedoch von vornherein nicht möglich.
aa) Die angefochtenen Bestimmungen des Landeswahlgesetzes und des Gemeindewahlgesetzes knüpfen bei der Regelung der Wahlberechtigten an den Begriff des Deutschen im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG an. Die Antragstellerin zu 2. sieht darin einen Verstoß gegen Art. 7 Abs. 2 und Art. 118 Abs. 1 BV, weil sie davon ausgeht, daß mit den angefochtenen Regelungen ein Teil der bayerischen Staatsangehörigen vom Wahlrecht ausgeschlossen werde oder zumindest ausgeschlossen werden könnte. Sie hält es für denkbar, daß es bayerische Staatsangehörige und damit gemäß Art. 7 Abs. 2 BV wahlberechtigte bayerische Staatsbürger gebe oder auf Grund eines zu erlassenden Staatsangehörigkeitsgesetzes geben könnte, die nicht zugleich Deutsche im Sinn des Grundgesetzes sind. Diese Auffassung trifft nicht zu.
bb) Durch Art. 6 BV ist die bayerische Staatsangehörigkeit als Institution wieder eingeführt worden. Unmittelbare Rechtsfolgen für den einzelnen Bürger ergeben sich daraus aber noch nicht. Art. 6 Abs. 1 BV nennt nur ganz allgemeine Voraussetzungen für den Erwerb der bayerischen Staatsangehörigkeit, wobei an herkömmliche Tatbestände des Staatsagehörigkeitsrechts angeknüpft wird (vgl. Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher, Die Verfassung des Freistaats Bayern, RdNr. 2 zu Art. 6). Eine konkrete Zuerkennung der bayerischen Staatsangehörigkeit an bestimmte Personen ist aber nicht möglich, solange das in Art. 6 Abs. 3 BV vorgesehene Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit nicht erlassen ist. Wie der Verfassungsgerichtshof bereits mehrfach entschieden hat, ist Art. 6 BV ohne ein solches Staatsangehörigkeitsgesetz nicht vollziehbar (VerfGH 12, 171/176 f. = BayVBl. 1960, 84/85; VerfGH vom 8.4.1970, Vf. 132-VI-69, S. 7; vgl. auch BayVGH, BayVBl. 1959, 59/60; Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher, RdNr. 4 zu Art. 6; Tschira, BayVBl. 1955, 261 ff.; Schlund, Das Standesamt 1962, 314/316). Schon deshalb ist es nicht möglich, daß durch die angefochtenen Vorschriften bayerische Staatsangehörige vom Wahlrecht zum Landtag und zu den Gemeinderäten ausgeschlossen werden könnten.
cc) Aber auch mit der Argumentation, daß der Gesetzgeber zum Erlaß eines Gesetzes über die bayerische Staatsangehörigkeit verpflichtet sei und daß er bei Erlaß eines solches Gesetzes den Kreis der bayerischen Staatsangehörigen über den Kreis der Deutschen hinaus erweitern dürfte, kann ein möglicher Verstoß von Art. 1 Abs. 1 LWG und Art. 1 Abs. 1 GWG gegen Art, 7 ABs. 2 und Art, 118 Abs. 1 BV nicht dargetan werden.
Der Verfassungsgerichtshof hat in früheren Entscheidungen offengelassen, ob Art. 6 Abs. 3 BV eine Verpflichtung des Gesetzgebers zum Erlaß eines Staatsangehörigkeitsgesetzes begründet (vgl. vor allem VerfGH 18,79/82 m.w.N. = BayVBl. 1965, 378). Die Frage bedarf auch im vorliegenden Popularklageverfahren keiner abschließenden Entscheidung. Denn selbst wenn der Gesetzgeber zum Erlaß eines Gesetzes über die bayerische Staatsangehörigkeit verpflichtet wäre, dürfte er sie doch nicht Personen zuerkennen, die nicht zugleich Deutsche im Sinn des Grundgesetzes sind. Zwar geht auch das Grundgesetz in Art. 74 Nr. 8 davon aus, daß es besondere Regelungen über die Staatsangehörigkeit in den Ländern geben darf und daß diese, da der Bund auf diesem Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung noch nicht tätig geworden ist, von den Ländern erlassen werden können (Art. 70, 72 Abs. 1 GG; vgl. Maunz/Dürig, RdNrn. 119 ff. zu Art. 74; Tschria, BayVBl. 1955, 261/263). Das Grundgesetz schließt es aber aus, daß der Kreis der Landesangehörigen insgesamt größer sein könnte als der Kreis der Deutschen (vgl. Maunz in Maunz/Dürig, GG, RdNr. 121 zu Art. 74, Schätzel, Staatsangehörigkeit, in Neumann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, 1954, 2. Band, S. 535/539; Hoffmann, Die Staatsangehörigkeit in den deutschen Bundesländern, AÖR Bd. 81 – 1956 -, S. 300/332/341, Schmellenkamp, Das Ausländerwahlrecht in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung der Rechtslage nach den Länderverfassungen, Diss. Köln, 1985, S. 58 ff.; Tschira, BayVBl. 1955, 261/263). Es widerspräche dem Wesen des im Grundgesetz verankerten und ausgestalteten Bundesstaats, wenn es in den einzelnen Ländern Staatsbürger mit unterschiedlicher Rechtsstellung in bezug auf den Bundesstaat einerseits und auf das betreffende Land andererseits gäbe. Die staatsrechtliche Einordnung in den Bundesstaat ist für ein Land so umfassend, daß ihm eine Zweiteilung seiner Staatsbürger in solche, die zugleich Deutsche sind, und in andere, die nicht Deutsche sind, durch das Grundgesetz versagt ist. Das bundesstaatliche Prinzip läßt es nicht zu, daß die Länder, deren Staatsgebiete insgesamt das Bundesstaatsgebiet bilden, in das Bundesvolk nur einen Teil ihres eigenen Staatsvolks einbringen. Wäre es anders, so führte das im Bundesstaat zu Konsequenzen, die bundesverfassungsrechtlich nicht hinnehmbar wären. Die Rechte und Pflichten, die nach dem Grundgesetz den Deutschen zustehen oder auferlegt sind, würden dann jeweils nur einen Teil der Staatsangehörigen eines Bundeslands erfassen. Es könnte also z.B. bayerische Staatsangehörige geben, die – weil sie nicht zugleich Deutsche wären – etwa von den bundesrechtlichen Grundrechte der Versammlungsfreiheit (Artl. 8 Abs. 1 GG), der Vereinigungsfreiheit (Art. 9 Abs. 1 GG), der Freizügigkeit (Art. 11 Abs. 1 GG), der Berufsfreiheit (Art. 12 Abs. 1 GG) ausgeschlossen wären oder an das Ausland ausgeliefert werden dürften (Art. 16 Abs. 2 GG). Gleichzeitig hätten solche Landesangehörige, obwohl sie nicht zugleich Deutsche sind, dennoch das Recht, kraft ihrer Wahlberechtigung im Lande mittelbar an der Ausübung der Staatsgewalt im Bunde mitzuwirken. Das gälte etwa für den Bundesrat, für die Wahl des Bundespräsidenten durch di Bundesversammlung oder für die Wahl der Richter an den obersten Gerichtshöfen des Bundes. Denn die Landesregierungen, die den Bundesrat bilden (Art. 50 und 51 Abs. 1 GG), die Mitglieder der Bundesversammlung, die den Landesparlamenten angehören (Art. 54 Abs. 3 GG) und die Landesminister, die an der Richterwahl mitwirken (Art. 95 Abs. 1 und Abs. 2 GG), sind nach Landesverfassungsrecht bestellte Organe. Im Gesetzgebungsverfahren des Bundes könnten dann Ausländer im Sinn des Bundesrechts, die aber zugleich Staatsangehörige eines Bundeslandes wären, mittelbar beim Erlaß bundesrechtlicher Regelungen mitwirken, die z.B. nur Rechte und Pflichten für Deutsche begründen. Die Zahl der Beispiele solcher bundesstaatlich unauflösbarer Widersprüche ließe sich vermehren. Es wäre auch nicht zulässig, diese Widersprüche dadurch auszuräumen, daß nach Landesrecht die Zuerkennung der Staatsangehörigkeit im Lande gleichzeitig den Erwerb der deutschen Staatsangehörigkeit mit sich brächte; denn die Staatsangehörigkeit im Bunde unterliegt der ausschließlichen Gesetzgebungskompetenz des Bundes (Art. 73 Nr. 2 GG).
dd) Ein Gesetz über die bayerische Staatsangehörigkeit dürfte nach alledem kraft höherrangiger Gebote des Grundgesetzes keine Nicht-Deutschen zu Bayern machen, sondern könnte nur eingrenzende Regelungen darüber enthalten, welche Deutschen im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG zugleich bayerische Staatsangehörige im Sinn von Art. 6 Abs. 1 BV sind und welche nicht. Rechtliche Auswirkungen eines solchen Gesetzes wären kaum denkbar, weil alle Rechte, die den bayerischen Staatsangehörigen zuerkannt würden – z.B. das Wahlrecht -, wegen Art. 8 BV, Art. 33 Abs. 1 GG allen anderen Deutschen unter den gleichen Voraussetzungen zustehen müßten (vgl. Maunz/in Maunz/Dürig, GG, RdNr. 121 zu Art, 74). Die Regelungen der Bayerischen Verfassung von 1946 über die bayerische Staatsangehörigkeit haben mit der Einbeziehung Bayerns in die Bundesrepublik Deutschland an Bedeutung verloren.
c) Da keine zulässige Regelung der bayerischen Staatsangehörigkeit in der Weise denkbar ist, daß davon auch Personen erfaßt werden dürften, die nicht zugleich Deutsche im Sinn des Art. 116 Abs. 1 GG wären, können die angefochtenen Vorschriften nicht wegen der Anknüpfung an die Eigenschaft des Deutschen gegen Art. 7 Abs. 2 und Art. 118 Abs. 1 BV verstoßen. Das Fehlen eines Gesetzes über die bayerische Staatsangehörigkeit ist bei dieser Rechtslage keine entscheidungserhebliche Vorfrage im vorliegenden Verfahren. Daß der einzelne Bürger keinen Anspruch auf Erlaß eines solchen Gesetzes hat, hat der Verfassungsgerichtshof bereits entschieden (VerfGH 18, 79782 f. = BayVBl. 1965, 378).
Vorsatz
Wenn die Juristen von „Vorsatz“ reden, so meinen sie damit in der Regel etwas anderes als das gemeine Volk. Letzteres versteht unter „Vorsatz“ eher Planung, Vorbedacht oder eine konkrete Strategie. Die Rechtslehre sieht es dagegen etwas anders: Vorsatz ist nach einer berühmten Kurzformel das „Wissen und Wollen des Täters“. Da dies nur begrenzt weiterhilft illustrieren wir es anhand einiger praxisnaher Beispiele:
Ich werfe Ihnen ein Exemplar des BGB an den Kopf, weil ich Ihnen Schmerzen zufügen will. Ich habe also hinsichtlich der Körperverletzung mit Wollen gehandelt, diese also vorsätzlich begangen. Dann gibt es noch die Möglichkeit, dass ich einfach gern meine eigenen Bücher durch die Gegend werfe. Ich sehe dabei, dass sich Ihr Kopf genau in der vorausberechneten Flugbahn meine Werks befindet, ich weiß also, dass ich Sie treffen werde. Ich lege zwar keinen gesteigerten Wert darauf, Sie zu treffen, aber ich werfe trotzdem. Damit habe ich mit Wissen gehandelt, also wiederum vorsätzlich. Das ist wohl noch einigermaßen nachvollziehbar.
Nun gibt es aber noch eine dritte Form des Vorsatzes, die viele hochtrabende Namen hat: Eventualvorsatz, dolus eventualis oder auch bedingter Vorsatz. Ich will Sie weder mit meinem Buch verletzen noch gehe ich davon aus, dass ich Sie treffen werde. Ich werfe es einfach mal in Ihre Richtung. Vielleicht treffe ich, vielleicht nicht – und wenn ich treffe, dann ist das auch OK. In dem Falle könnte ich vorsätzlich handeln. Ob ein Richter das nun bereits als dolus eventualis einschätzt, ist so sicher nicht. Im Endeffekt macht es die Summe aus Wissen und Wollen aus, ob man Vorsatz annehmen kann – je sicherer der Eintritt des Tatbestands ist, desto weniger muss ihn der Täter wollen und umgekehrt.
Woher weiß der Richter aber nun, was der Täter wusste und wollte? Er kann ihm ja schlecht ins Gehirn schauen. (Zugegeben, er kann natürlich, aber das wäre einerseits ziemlich eklig und andererseits würde es nur begrenzt weiterhelfen.) Auf diese Frage hat ein bekannter Strafrechts-Professor eine ganz pragmatische Antwort: „Auch Richter lassen sich nicht verarschen.“ Ja, sogar die Juristen verfügen über eine gewisse Lebenserfahrung. Und aus dieser kann man schon gewisse Erfahrungswerte ableiten. Wer sich im Supermarkt eine Flasche Schnaps in die Unterhose steckt, hat wohl nicht vor, sie zu bezahlen. 37 Stiche mit einem Brotmesser in den Bauch sind ein starkes Indiz dafür, dass man jemanden töten wollte. Wer dem Nachbarn Molotowcocktails durch das Wohnzimmerfenster wirft, setzt sich dem Vorwurf aus, Brandstifter zu sein. Brettert man mit 170 km/h über Dorfstraßen, hat man wahrscheinlich nicht nur das Autobahn-Ende-Schild übersehen.
Anti-Terror-Datei teilweise grundgesetzwidrig
Urteil des BVerfG vom 24. April 2013, 1 BvR 1215/07:
Die Errichtung der Antiterrordatei als Verbunddatei verschiedener Sicherheitsbehörden zur Bekämpfung des internationalen Terrorismus, die im Kern auf die Informationsanbahnung beschränkt ist und eine Nutzung der Daten zur operativen Aufgabenwahrnehmung nur in dringenden Ausnahmefällen vorsieht, ist in ihren Grundstrukturen mit der Verfassung vereinbar.
Regelungen, die den Austausch von Daten der Polizeibehörden und Nachrichtendienste ermöglichen, unterliegen hinsichtlich des Grundrechts auf informationelle Selbstbestimmung gesteigerten verfassungsrechtlichen Anforderungen. Aus den Grundrechten folgt ein informationelles Trennungsprinzip, das diesen Austausch nur ausnahmsweise zulässt.
Eine Verbunddatei zwischen Sicherheitsbehörden wie die Antiterrordatei bedarf hinsichtlich der zu erfassenden Daten und ihrer Nutzungsmöglichkeiten einer hinreichend bestimmten und dem Übermaßverbot entsprechenden gesetzlichen Ausgestaltung. Das Antiterrordateigesetz genügt dem nicht vollständig, nämlich hinsichtlich der Bestimmung der beteiligten Behörden, der Reichweite der als terrorismusnah erfassten Personen, der Einbeziehung von Kontaktpersonen, der Nutzung von verdeckt bereitgestellten erweiterten Grunddaten, der Konkretisierungsbefugnis der Sicherheitsbehörden für die zu speichernden Daten und der Gewährleistung einer wirksamen Aufsicht.
Die uneingeschränkte Einbeziehung von Daten in die Antiterrordatei, die durch Eingriffe in das Brief- und Fernmeldegeheimnis und das Recht auf Unverletzlichkeit der Wohnung erhoben wurden, verletzt Art. 10 Abs. 1 und Art. 13 Abs. 1 GG.
Es bleibt abzuwarten, wie es in dieser brisanten Materie weitergeht…
Anrechnung der Untersuchungshaft
Zum letzten Beitrag („464 Tage sind ein Monat“) hat uns die Nachfrage erreicht, warum dieses lange Verfahren (15 Monate) nur als ein Monat auf die Freiheitsstrafe angerechnet wurde. Wenn er so lange in Untersuchungshaft war, dann müsse die Zeit dem Täter doch bereits als verbüßt angerechnet werden.
Dazu muss man eines wissen: Es geht hier nicht um die U-Haft. Der Täter war nicht in Haft. Also möglicherweise war es doch, aber das war nicht der Punkt für die Anrechnung. Dieser eine Monat Strafnachlass ist lediglich eine Entschädigung für die lange Dauer bis zur Entscheidung über die Revision. Falls er zusätzlich noch die ganzen 15 Monate (dann wahrscheinlich auch einige Monate vor dem erstinstanzlichen Urteil), wird ihm diese Zeit komplett auf die Strafe angerechnet.
§ 51 Abs. 1 StGB ist hier ganz deutlich:
Hat der Verurteilte aus Anlaß einer Tat, die Gegenstand des Verfahrens ist oder gewesen ist, Untersuchungshaft oder eine andere Freiheitsentziehung erlitten, so wird sie (…) angerechnet.
Früher war dies übrigens etwas anders geregelt. § 60 des StGB von 1871 sah das im Grundsatz ähnlich vor, ließ dem Gericht aber viel mehr Spielraum:
Eine erlittene Untersuchungshaft kann bei Fällung des Urtheils auf die erkannte Strafe ganz oder theilweise angerechnet werden.
Dazu muss man wissen, dass es damals drei verschiedene Arten der regulären Freiheitsstrafe gab, die in einem Stufenverhältnis zueinander standen. Acht Monate Zuchthaus (die schwerste Freiheitsstrafe) entsprachen zwölf Monaten Gefängnis und acht Monate Gefängnis entsprachen zwölf Monaten Festungshaft (der leichtesten Verbüßungsart).
Nach diesem Maßstab hätte also auch die Untersuchungshaft umgerechnet werden müssen. Wer sechs Monate U-Haft hinter sich hatte, hätte damit nur vier Monate Gefängnis ausgleichen können. Wurde er gar zu Zuchthaus verurteilt, entsprach diese Haft nur gut zweieinhalb Monaten Freiheitsstrafe.
Eine derartige Umrechnung gestattete § 60 StGB a.F., sah es aber nicht verpflichtend vor. Anders dagegen ab Akzeptanz des Urteils durch den Angeklagten, also sobald er kein Rechtsmittel mehr einlegen kann. Gemäß § 482 StPO musste jede Freiheitsentziehung ab diesem Zeitpunkt „unverkürzt“, also voll angerechnet werden:
Auf die zu vollstreckende Freiheitsstrafe ist unverkürzt diejenige Untersuchungshaft anzurechnen, welche der Angeklagte erlitten hat, seit er auf Einlegung eines Rechtsmittels verzichtet oder das eingelegte Rechtsmittel zurückgenommen hat, oder seitdem die Einlegungsfrist abgelaufen ist, ohne daß er eine Erklärung abgegeben hat.
Diese Vorschrift ist heute praktisch überflüssig, da die Anrechnung ja über § 51 StGB sowieso ungeschmälert erfolgt.
464 Tage sind ein Monat
Der Bundesgerichtshof musste im Verfahren 2 StR 115/12 über die Revision eines Angeklagten entscheiden, der wegen schweren Raubes zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt wurde. Die Entscheidung selbst ist nicht übermäßig spannend, die Revision wurde als unbegründet zurückgewiesen, das erstinstanzliche Urteil also bestätigt.
Interessant ist aber ein Nebenaspekt: Dafür, dass das Revisionsverfahren eher lang dauerte (das Landgerichts-Urteil stammte vom 19.12.2011, das BGH-Urteil vom 27.03.2013), wird dem Angeklagten ein Monat seiner Freiheitsstrafe erlassen. An der Straffestsetzung ändert sich dabei eigentlich nicht, lediglich dieser eine Monat wird „für verbüßt erklärt“.
Die lange Bearbeitungszeit seines Rechtsmittels und das damit schwebende Verfahren wirkt, so die Rechtsprechung, wie eine Strafe und ist daher zu berücksichtigen. Eine feste Regel, ab welcher Dauer eine solche Entschädigung stattfinden muss, oder gar eine Tabelle mit dem zu gewährenden Strafrabatt gibt es aber nicht. Hier sind die Gerichte relativ frei in der Rechtsfindung.
Der hier angewandte Maßstab erscheint jedenfalls eher großzügig. Zwischen den beiden Urteilen lagen gut 15 Monate oder 464 Tage, die ja beileibe nicht auf richterliches Nichtstun zurückzuführen sind, da auch die Begründung des ersten Urteils und die Ausarbeitung der Revision ihre Zeit brauchen.