Zwei Männer baten einen Fremden in aller Frühe an einem Dresdner Bahnhof um eine Zigarette. Als dieser ablehnte, schubsten sie ihn vom Bahnsteig auf die Gleise. Auf seine Versuche hin, sich durch Hochklettern vor der bald hereinfahrenden S-Bahn zu retten, traten sie vom Bahnsteig aus auf ihn ein und warfen ein Fahrrad auf ihn. Der Zugführer konnte durch eine Schnellbremsung ein Unglück verhindern.
Kein Haftbefehl, da kein Tötungsvorsatz
Die Staatsanwaltschaft Dresden leitete natürlich sofort Ermittlungen gegen die Verdächtigen ein – beantragte aber keinen Haftbefehl. Ein versuchtes Tötungsdelikt liege nicht vor, so die Behörde, da die Verdächtigen davon ausgingen, der Mann könne sich auch in die andere Richtung vom Gleis entfernen.
Diese Bewertung ist sicher vertretbar. Man müsste die Akte genauer kennen, um einschätzen zu können, ob diese Aussagen der Verdächtigen in irgendeiner Form glaubhaft sind.
Nur: Es ging nicht ausschließlich um versuchte Tötung. Dass hier ein gefährlicher Eingriff in den Bahnverkehr und vor allem eine gefährliche Körperverletzung im Raum stehen, ist absolut naheliegend. Und diese gefährliche Körperverletzung befindet sich zweifellos im oberen Bereich – schon allein, weil die Gefahr hier ganz immens war.
Auch Fluchtgefahr verneint
Hinzu kommt, dass es sich bei den Verdächtigen um Asylbewerber aus Nordafrika handelt. Das ist natürlich für die Strafzumessung und für die Ermittlungen völlig irrelevant. Nicht so für die Entscheidung über den Haftbefehl: Denn wer hierzulande ungebunden ist, wird sich vielleicht lieber absetzen als eine Freiheitsstrafe anzutreten – damit wäre Fluchtgefahr gegeben.
Als Anwalt weiß man, wie leicht Staatsanwaltschaft und Ermittlungsrichter die Fluchtgefahr sogar bei an ihrem Wohnort tief verwurzelten Menschen annehmen. Recht schematisch wird dann argumentiert, es sei eine erhebliche Freiheitsstrafe zu erwarten, daher bestehe die Gefahr, dass sich der Beschuldigte dem Verfahren durch Flucht entziehen wird.
Das sah die Staatsanwaltschaft zunächst nicht. Diese Einschätzung ist durchaus fragwürdig, aber man muss den Ermittlungsbehörden zubilligen, dass sie die Akten wohl besser kennen als die nur über die Medien informierte Öffentlichkeit.
Haftbefehl erst nach öffentlichen Protesten
Diese Öffentlichkeit hingegen konnte die Entscheidung so gar nicht nachvollziehen. Die Proteste waren erheblich, sei es in der Presse, in der Politik oder in den sozialen Medien.
Und daraufhin entschied sich die Staatsanwaltschaft noch einmal um. Nun wurde auf einmal ein versuchter Totschlag bejaht und daraufhin Haftbefehl beantragt, den der Ermittlungsrichter sofort erließ. Die Beschuldigten sitzen nun in Untersuchungshaft.
Auch das Ergebnis ist sicher vertretbar. Und es erscheint vielleicht sogar richtiger als die erste Entscheidung. Aber sollten sich Ermittlungsmaßnahmen wirklich nach der öffentlichen Empörung richten?
Auf einmal doch Tötungsvorsatz?
Das Vorgehen erscheint hier besonders zweifelhaft: Denn auf einmal hätten die weiter geführten Ermittlungen doch Tötungsvorsatz ergeben. Den Vorsatz zu ermitteln, ist eine extrem schwere Aufgabe. Denn der Vorsatz existiert natürlich nur im Kopf des Täters und in diesen kann man nicht hineinschauen. Man muss den Vorsatz aufgrund objektiv vorliegender Erkenntnisse erschließen. Und daran soll sich nun etwas geändert haben, nur weil die Staatsanwaltschaft in den Medien für ihre Entscheidung kritisiert wurde?
Diese Seite wurde mit der Zielsetzung eingerichtet, aus den Medien bekannte juristische Sachverhalte zu erklären. Das ist gerade deswegen notwendig, weil diese oft verkürzt oder verfälscht wiedergegeben werden. Insofern ist es sehr gefährlich, wenn sich Justizorgane nach einer öffentlichen Meinung richten, die sich auf solche verkürzten oder verfälschten Informationen gründet. Eine richtige Entscheidung kann nicht auf einer falschen Tatsachenbasis aufbauen.
Staat darf Tätigwerden nicht von öffentlicher Meinung abhängig machen
Wenn sich Behörden von der (angeblichen) Meinung der Allgemeinheit abhängig machen, bestehen zweierlei Gefahren:
- Es werden Entscheidungen getroffen, weil man erwartet, dass diese in einer bestimmten Weise aufgenommen und goutiert werden.
- Es werden keine Entscheidungen getroffen, weil man im Zweifel auf die Öffentlichkeit als Korrektiv setzt.
Wir haben mittlerweile einen Staat, der sich für alles zuständig fühlt. Die Kompetenzen und Befugnisse staatlicher Behörden weiten sich immer weiter aus. Dann sollen die Behörden diese aber bitte auch eigenverantwortlich wahrnehmen.
Natürlich darf ein Beamter seine Ansicht revidieren, wenn sich neue Erkenntnisse ergeben. Vielleicht war das hier tatsächlich so. Vielleicht wurde die Sachlage von Anfang an gründlich geprüft und hat sich erst später geändert. Aber einen besonders souveränen Eindruck macht die Haltung der Dresdner Staatsanwaltschaft nicht.