Das „Three Strikes“-Konzept kommt aus dem Baseball. Wer dreimal den Ball nicht trifft, ist draußen. Seit längerer Zeit steht es aber auch für ein sicherheitspolitisches Konzept. Der Staat reagiert in drei Strikes auf Verbrechen und beim dritten ist man dann für sehr lange Zeit weg – zumindest im „Land of the free“, hierzulande hat sich das noch nicht durchgesetzt. Zulauf hat die Idee dagegen im Zuge der Diskussion um Internetsperren bekommen. Quasi als Retourkutsche dafür gab es dann eine Forderung, die „Three Strikes“ auch gegen Politiker anzuwenden: Wer dreimal einem verfassungswidrigen Gesetz zustimmt, ist sein Mandat los. Das ganze ist, nehme ich an, durchaus ernst gemeint. dass es aber nicht umgesetzt werden wird, dürfte dem Verfasser auch klar gewesen sein. Meine Meinung vorweg: Prinzipiell kein schlechter Ansatz, aber so sicher nicht umsetzbar. Dem war sich wohl auch der Verfasser bewusst, siehe die abschließenden „Anregungen für die Online-Diskussion“. Wie würde das Parlamentsgeschäft mit so einem Gesetz in der Praxis ausschauen? Zunächst müßte jeder Abgeordnete die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes prüfen. Dagegen ist prinzipiell nichts einzuwenden, schließlich muss jeder die Tragweite seiner Entscheidungen kritisch durchdenken. Da stellt sich aber schon das Problem, dass wir eben ein Expertenparlament haben, in dem sich nicht jeder um alles kümmern kann und soll. Na gut, dann fragt man eben die, die sich auskennen, und hält sich an deren Meinung. Und schon sieht man das Kernproblem des ganzen: Es gibt nicht die eine bindende Meinung. Das gesamte Jura-Studium besteht daraus, uneindeutige Fälle zu diskutieren und die Argumente gegeneinander abzuwägen. Nicht umsonst füllt ein Grundgesetz-Kommentar ganze Regale. Und viele neu auftretende Unsicherheiten sind ja gerade noch nicht entschieden und in der Rechtswissenschaft höchst im Streit. Unumstößliche Autorität ist nur das Bundesverfassungsgericht, aber das tritt ja bekanntlich erst dann auf, wenn das Gesetz schon beschlossen wurde. Also halt im Zweifel gegen eine Grundrechtseinschränkung stimmen. Das wäre eine patente Lösung. Nur: Man muss fast immer im Zweifel sein. Siehe oben. Wer sich mit der Grundrechtsdogmatik auskennt, der kennt auch die sehr ernüchternde Quintessenz daraus: Die Grundrechte haben eigentlich keine Substanz. Jedes Gesetz kann jedes Grundrecht einschränken, näheres in Art. 19 GG. Die Schranken, die es dafür explizit im Grundgesetz gibt, sind im Endeffekt nicht der Rede wert. Damit es nicht gar so schlimm kommt, hat das Bundesverfassungsgericht dem gesetzgeberischen Handeln einige Grenzen aufgezeigt. Und zwar, indem es Gesetze für verfassungswidrig erklärt hat. Das Grundgesetz ist, wie wohl jede Verfassung, kein statisches Gebilde, sondern etwas Organisches. Es entwickelt sich gerade weiter, indem seine Akteure seine Grenzen aufzeigen. Dabei spielt das BVerfG eine überragende Rolle, die es bisher auch ziemlich gut ausgefüllt hat. Dazu gehört aber nicht nur, das Grundgesetz zu bewahren, sondern es auch weiterzuentwickeln. Ein Paradebeispiel dafür ist die sog. Schutzbereichsverstärkung, die einen fast sexuell anmutenden Charakter hat: Zwei Grundrechte tun sich zusammen und produzieren gemeinsam ein drittes. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht, das unter anderem die Privatsphäre vor staatlichen Eingriffen schützt, steht so nicht im Grundgesetz. Nicht in der Menschenwürde (Art. 1) und nicht in der allgemeinen Handlungsfreiheit (Art. 2 Abs. 1) – aber wenn man beide zusammen nimmt, dann entsteht dieses Grundrecht, also steht es implizit bereits in der Verfassung und ein Gesetz, das das nicht berücksichtigt, ist rechtswidrig. Darauf soll ein Parlamentarier mal kommen. Mehr noch, dass in Art. 2 Abs. 1 die allgemeine Handlungsfreiheit steht, ist alles andere als klar. Man liest dort nur etwas esoterisch Angehauchtes über „die freie Entfaltung der Persönlichkeit“. Die Rechtsprechung hat das weit, aber janusköpfig ausgelegt: Praktisch jedes menschliche Handeln wird dadurch geschützt – dafür ist der Schutz aber kein besonders starker. Die Abschwächung dieses Schutzes steht aber nicht im Grundgesetz. Er kommt unter anderem dadurch zustande, dass Art. 19 Abs. 1 Satz 2 entgegen seinem eindeutigen Wortlaut (!) ausgelegt und auf Art. 2 Abs. 1 nicht angewendet wird. Das Bundesverfassungsgericht ist eben nicht immer nur strenger und neutraler Interpretator des Grundgesetzes. dass das Allgemeine Gleichstellungsgesetz (Antidiskriminierungsgesetz) Bestand haben haben würde, hätte vor dem entsprechenden Urteil wohl kaum jemand geglaubt. Aber die Staatsräson, nicht gegen EU-Recht verstoßen zu müssen, tat wohl das ihre. Apropos Staatsräson: So ein Verfassungsbruch wird nicht selten auch durchaus akzeptiert. Teilweise ändert das BVerfG seine Rechtsprechung nach einiger Zeit, bezeichnet also seine alten Urteile selbst als GG-widrig. Und oft genug wird ein Gesetz zwar aufgehoben, aber der Bundestag bekommt ein, zwei Jahre Zeit dafür, ein neues zu verabschieden. Bis dahin gilt das alte, verfassungswidrige. Dafür gibt es ein ganz aktuelles Beispiel – es ist so aktuell, dass man dafür fünf Jahrzehnte zurückgehen muss: 1949 wurde ein Bundestagswahlrecht verabschiedet, das man dann 1953 in seine im wesentlichen noch heute geltende Form gegossen hat. Durch das Zusammenspiel von Mehrheits- und Verhältniswahl ergeben sich einige Problematiken, namentlich die Überhangmandate. Es gibt, wie bei jedem Sitzzuteilungsverfahren, einige Anomalien, aber kaum jemand wäre auf die Idee gekommen, das ganze für verfassungswidrig zu halten. Dann kam Dresden 2005 und auf einmal war das negative Stimmgewicht mehr als nur ein hypothetisches Rechenmodell. 2009 wurde trotzdem noch nach diesen Recht gewählt. Sollen jetzt alle Bundestagsabgeordneten seit 1953 schon einen Strike weg haben? Sie alle haben schließlich das Gesetz nicht aufgehoben. Ähnlich ist es in den – zugegeben: nicht häufigen – Fällen, in denen das BVerfG ein Gesetz explizit eingefordert hat. Dann war es verfassungswidrig ein solches Gesetz bisher nicht erlassen zu haben – alle MdBs sind also des Rechtsbruchs durch Unterlassen schuldig. Analog gibt es Fälle, in denen ein tieferer Eingriff in Bürgerrechte gefordert wurde. Die Vermögenssteuer wurde gekippt, weil Immobilien gegenüber sonstigen Werten bevorzugt wurden, also der staatliche Steuereingriff in das Grundrecht Eigentum ungleichmäßig und konkret zu gering war. Das alles klingt vielleicht so, als wäre ein Verfassungsverstoß nichts Schlimmes. Das will ich definitiv nicht sagen. Nur passieren sie manchmal erschreckend schnell und unvorhersehbar. Um die Strikes nicht ausufern zu lassen, müsste man auch hier auf ein Konzept zurückgreifen, das zu den ganz unumstößlichen Grundpfeilern jedes Rechtsstaats gehört: Das Verschuldensprinzip. Die Verfassungswidrigkeit muss dem Handelnden auch vorwerfbar sein. Und das ist in aller Regel nicht der Fall. Es gibt freilich Gegenbeispiele, in denen der Bruch des Grundgesetzes ganz offen billigend in Kauf genommen wurde – da hätte ich dann auch keine Bedenken, an der Eignung der beteiligten Mandatsträger zu zweifeln und jedem, der mit Ja gestimmt hat, einen ganz persönlichen Vorwurf zu machen. Hierfür wäre dann wohl das BVerfG ebenfalls zuständig, es müsste also neben der objektiven Feststellung der Verfassungswidrigkeit noch über das Verschulden der Befürworter urteilen. Sollte das Anliegen der Petition in dieser Ausführung umgesetzt werden, kann man das wohl begrüßen. Nur werden dann die Gesetzesbegründungen eben ausführlicher und belegen ganz eindeutig den guten Glauben der Initiatoren an die Verfassungsmäßigkeit. Oder man geht einen anderen Weg und nimmt die Rechtsnormen unmittelbar in die Verfassung auf. In dem Fall könnte man fast alles (Art 79 Abs. 3 GG) beschließen, ohne in einen Konflikt mit dem Grundgesetz zu kommen. Die Schweizer Verfassung wurde – wenngleich aus anderen Gründen – über lange Zeit mit verschiedensten Regelungen angereichert, die man eigentlich durch einfaches Gesetz hätte beschließen können. Das hat die Rechtslage aber derart verkompliziert, dass man 1999 eine Totalrevision zur Entschlackung unternommen hat. Ein anderes nettes Beispiel ist die bayerische Verfassung von 1946. Sie enthält eine große Menge an Staatszielbestimmungen und individuellen Rechten. Die sind sehr wohltuend zu lesen, spielen aber in der politischen Realität kaum eine Rolle. Das Grundgesetz ist dagegen, von seinem vielzitierten ersten Satz abgesehen, sehr nüchtern, abstrakt und technokratisch. Seine Auslegungsfähigkeit bringt Flexibilität im Positiven wie im Negativen mit sich, die sich aber autopoetisch (und über den Umweg seines Hüters in Karlsruhe) auch wieder einschränkt. Darum ist es aber nicht immer sofort und eindeutig erfassbar und Gegenstand zahlreicher Meinungsstreite. Leider ist das Thema zu komplex, um es in einem prägnanten Satz abschließend zusammenzufassen. Aber das hab ich ja oben schon getan.