Letzten Sommer hat uns noch der Feinstaub gemeuchelt, zwischendrin haben wir das Gammelfleisch überlebt, aber mittlerweile führen sogar schon Glühbirnen den Weltuntergang herbei – wenn wir uns nicht vorher alle auf Flatrate-Parties totsaufen. Gegen all diese Untragbarkeiten des täglichen Lebens wird immer öfter nach dem Staat gerufen. Dieser solle doch verbieten, einschränken, überwachen oder sonst für unser aller Wohlbefinden sorgen. Dabei leben wir doch bereits in einem Staat, in dem Jura-Studenten bei durchschnittlichen Klausuren auf durchschnittlichen Tischen kaum noch die erlaubten Hilfsmittel (Bücher mit einfachen Gesetzestexten, ganz ohne Anmerkungen, Erläuterungen oder gar Kommentare) unterbringen. Die liebevoll “Ziegelsteine” genannten Loseblattsammlungen bestehen bereits aus 4100 (”Schönfelder”, Zivil- und Strafgesetze) bzw. 3800 Seiten (”Sartorius”, Öffentliches Recht); trotz einer Papierdicke, die jedem Telephonbuch alle Ehre machen würde, bringen sie 2,5 bzw. 2,2 kg auf die Waage. Und trotzdem scheint es immer, wenn irgendetwas medienträchtiges passiert, gerade kein richtiges Gesetz zu geben. Nun sind beispielsweise Amokläufe ja schon verboten. Da sie trotzdem ab und zu vorkommen, kann also nur ein weiteres Verbot helfen: Die “Killerspiele” erwischt es dabei immer mal wieder, zumindest rhetorisch. Zwar ist die derzeitige Politik denn auch weniger werte- als viel mehr maßnahmenfixiert; wir befinden uns heute sicher nicht mehr in einem weltanschaulich geprägten Staat, aber eine neu justierte Zielrichtung ändert an der Intensität der Eingriffe wenig. Und so zerfällt auch die Lebenslüge der 68er, sie hätten für einen freieren Staat gesorgt. Richtig, sie haben den überkommenen Adenauer-Staat gründlich reformiert. Aus dem Staat als moralisch-sittlicher Bezugsgröße ist vielmehr der egalitär-fürsorgliche Partner geworden – ein Partner, dessen Machtposition seine Umarmung freilich leicht zur Umklammerung werden läßt. Der Widerstand dagegen ist erstaunlich gering. “Der Mensch wird frei geboren, aber überall liegt er in Ketten”, stellte schon Rousseau fest. Manchmal wirkt es aber, als brächte die Schwere der Ketten eine geradezu beruhigende Bodenhaftung, die uns vor allzugroßer Leichtigkeit und den mit Freiheit einhergehenden Risiken bewahrt. Nun hat der Staat für seine Bürger aber nicht nur Ketten übrig. Eine ausgeprägte Subventionierungs- und Alimentierungskultur hat sich etabliert und scheint unangreifbar. Jede Andeutung, die beständig fließenden Zahlungen noch so zaghaft zurückzuschrauben, wird von Lobbyisten postwendend abgewehrt. Beschränkungen staatlicher Wohltaten werden als Eingriffe in das eigene Vermögen, als Raub geradezu, verpönt. Oscar Lafontaine fordert auch folgerichtig ein höheres Budget: dass es in Deutschland keine Staatsquote von 50% gebe, sei eine politische Entscheidung. Hier liegt er richtig – es ist eine politische Entscheidung, die das Grundgesetz mit Verankerung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung getroffen hat. Und mit dieser läßt sich ein übermächtiger, verteilender und bevormundender Staat eben nicht vereinbaren. Angesichts solcher Aussichten verblaßt das Antidiskriminierungsgesetz, selbst ein beispielloser Angriff auf diese Ordnung, richtiggehend. Es mag ja durchaus verlockend sein, in mancherlei Hinsicht das eigene Denken ausschalten und an staatliche Autoritäten delegieren zu dürfen – oder, positiver ausgedrückt: den Staat als Auffangnetz unter sich zu wissen. Die Frage ist aber, ob wir wirklich einen Staat wie Frankreich wollen, in dem es verboten ist, schweinefleischhaltige Speisen an Obdachlose auszuschenken, weil sich Moslems davon diskriminiert fühlen könnten, oder einen Staat wie die USA, wo man Alkohol in der Öffentlichkeit nur aus braunen Papiertüten trinken darf.