Verfassungsrecht außerhalb des Grundgesetzes?

In einem der letzten Beiträge ging es um das Verhältnis von Grundgesetz und Verfassung im Allgemeinen. Um es kurz zusammenzufassen: Eine Verfassung im eigentlichen Sinne ist die gesamte Verfassungsrechtsordnung, ein Verfassungsgesetz (auch Grundgesetz genannt) ist die zentrale geschriebene Rechtsnorm der Verfassung. Die Verfassungsrechtsordnung kann also noch andere Bestandteile beinhalten als nur das Grundgesetz. Daher stellt sich im Speziellen auch die Frage, ob es in Deutschland Verfassungsrecht gibt, das nicht im Grundgesetz niedergeschrieben ist.

1. Weimarer Reichsverfassung

Der erste Kandidat hierfür ist so naheliegend wie unwahrscheinlich: Die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919. Die Bundesrepublik Deutschland ist bekanntlich nur eine Neuorganisation des seit 1867/71 bestehenden deutschen Staates und als solche mit dem Deutschen Reich identisch. Aber dass die frühere Verfassung noch gelten soll, erstaunt sicher. Waren es nicht gerade die Erfahrungen mit Weimar, die weite Teile des Grundgesetzes geprägt haben? 1949 wollte man die Weimarer Republik und ihre Fehler hinter sich lassen, nicht die Verfassung neu aufgießen.

Einigermaßen bekannt ist sicher noch, dass Teile der WRV unmittelbar ins GG übernommen wurden. Art. 140 GG sagt:

Die Bestimmungen der Artikel 136, 137, 138, 139 und 141 der deutschen Verfassung vom 11. August 1919 sind Bestandteil dieses Grundgesetzes.

Es geht dabei um einige Bestimmungen über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat, über die man sich im Parlamentarischen Rat nicht so recht einigen konnte und die daher einfach durch einen Verweis auf die WRV übernommen wurden. Trotzdem ist es aber nicht wirklich so, dass das Verfassungsrecht außerhalb des Grundgesetzes wäre. Im Grunde ist diese Bestimmung nur eine textliche Übernahme der entsprechenden Artikel aus der 1919er-Verfassung. Es ist nicht so, dass diese fünf Artikel „aus eigener Kraft“ weitergelten würden. Sie erhalten ihre Geltung nur durch die entsprechende Anordnung im Grundgesetz.

Weniger bekannt ist aber, dass die Weimarer Reichsverfassung nie formell aufgehoben wurde, weder durch die NS-Machthaber noch durch die Bundesrepublik. Vielmehr gilt die WRV im Rang einfachen Bundesrechts weiter. Sie steht in der Bundesrepublik also nicht auf einer Stufe mit dem Grundgesetz, sondern auf der eines normalen Gesetzes. Und hier gilt die allgemeine Regel, dass ein späteres Gesetz das frühere aufhebt, also wenn der Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das im Widerspruch zu einem Artikel der Weimarer Verfassung steht, wird dieser automatisch aufgehoben, ohne dass dies eine Verfassungsänderung darstellt.

Die verfassungsrechtlichen Bestimmung der WRV sind naheliegenderweise durch das Grundgesetz aufgehoben worden. Sah die Verfassung des Deutschen Reiches in Art. 53 vor, wie der Reichskanzler ernannt wird, regelt das nun Art. 63 des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland. Die Zusammensetzung des Bundesrats richtet sich nach Art. 51 Abs. 2 GG, nicht nach Art. 61 Abs. 1 WRV („Reichsrat“). Das Grundgesetz hat die Weimarer Verfassung in verfassungsrechtlicher Hinsicht vollständig ersetzt.

Die einzige (eben einfachgesetzliche) Norm, die noch in Kraft sein soll, ist angeblich Art. 109 WRV, der die Vorrechte des Adels abschafft. Da es aber kein Gesetz mehr gibt, das dem Adel irgendwelche Vorrechte zubilligt, dürfte auch dieser Artikel schon lange obsolet sein.

2. Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht wird gemeinhin als Hüter des Grundgesetzes verstanden. Und Verfassungsgerichte in aller Welt bewahren und gestalten das Verfassungsrecht ihres jeweiligen Landes.

Auch das BVerfG in Karlsruhe schreibt desöfteren etwas in die Verfassung hinein, was man dort vergeblich sucht. Nirgends im Grundgesetz steht, dass es bei Europawahlen keine Sperrklausel geben darf und bei Bundestagswahlen die Überhangmandate für Probleme sorgen können und trotzdem müssen sich auch diese Vorschriften am GG messen. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist nirgends kodifiziert und trotzdem wenden es die Karlsruher Richter an. Insofern ist es eigentlich nur recht und billig, zu sagen, dass sie Verfassungsrecht außerhalb des Grundgesetzes setzen.

Das verkennt aber, wie sich das Gericht sieht. Auch Sicht der 16 Karlsruher Richter steht all das sehr wohl im Grundgesetz. Was sie in ihren Urteil feststellen, ist kein neues Recht und kein Richterrecht, es ist nur die Auslegung des geschriebenen Rechts. Das Allgemeine Persönlichkeitsrecht ist danach in den Artikeln 1 Abs. 1 sowie 2 Abs. 1 GG enthalten – die Richter verhelfen ihm nur zum Vorschein. Die Auslegung des Gesetzes wird immer notwendig sein; mal ist sie enger am Wortlaut und mal freier, aber echte Rechtssetzung wie im Rechtskreis des Common Law (das angloamerikanische Recht, in dem Präzedenzfälle eine enorme Rolle spielen) findet hierzulande nicht statt.

3. Andere Gesetze

Viele Gesetze berühren verfassungsrechtliche Materien. So war es im Parlamentarischen Rat ein großer Diskussionspunkt, ob man die Regeln für das Bundestagswahlrecht im Grundgesetz verankern sollte, womit sie nur sehr schwer zu ändern gewesen wären. Carlo Schmid (SPD) plädierte in seiner Grundsatzrede dafür, das Wahlrecht „nicht allzu sehr unter Verfassungsschutz“ zu stellen:

Die Frage ist nun, ob nicht durch uns allgemeine Bestimmungen für ein solches Wahlgesetz in das Grundgesetz aufgenommen werden sollten. Ich für meinen Teil würde darin einen Nachteil sehen. Man soll Wahlgesetze nicht allzu sehr unter Verfassungsschutz stellen.
Man sollte Wahlgesetze beweglich lassen, damit sich bestimmte Erfahrungen auswirken können und damit sich auch ein Stilwandel im politischen Leben konkret auswirken kann.

Dieser Linie schloss sich auch die Mehrheit in dieser Verfassunggebenden Versammlung an und begnügte sich mit einigen sehr groben Kriterien:

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages werden in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählt. (Art. 38 Abs. 1 Satz 1 GG)
Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr vollendet hat; wählbar ist, wer das Alter erreicht hat, mit dem die Volljährigkeit eintritt. (Art. 38 Abs. 2 GG)
Der Bundestag wird (…) auf vier Jahre gewählt. (Art. 39 Abs. 1 Satz 1 GG)

Alles Weitere regelt das Bundeswahlgesetz (BWG, BWahlG), das mit einfacher Mehrheit im Bundestag geändert werden kann. Das, was im BWahlG steht, hätte also auch im Grundgesetz stehen und damit Verfassungsrecht darstellen können.

Dass man es nicht gemacht hat, bedeutet aber noch lange nicht, dass es sich damit zwingend um Teile der Verfassungsrechtsordnung handeln würde. Vielmehr werden einfache Rechtsnormen mit verfassungsrechtlichen Bezügen zusammen mit der Verfassung unter dem Sammelbegriff „Staatsrecht“ eingeordnet. Dazu gehören z.B. die Geschäftsordnung des Bundestags, das Parteiengesetz, das Bundesverfassungsgerichtsgesetz und teilweise auch der Einigungsvertrag sowie internationale Abkommen und Konventionen – eine genaue und definitive Abgrenzung, was nun Staatsrecht ist und was nicht, ist aber praktisch nicht möglich.

Aber in jedem Falle sind diese Rechtsnormen im Bereich des Staatsrechts oder des öffentlichen Rechts (der Oberbegriff, der auch noch Verwaltungsrecht umfasst) besser aufgehoben als als Teil der Verfassung.

Ergebnis

Nach all dem Gesagten muss man also zu dem Schluss kommen, dass die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland ausschließlich aus ihrem Verfassungsgesetz, dem Grundgesetz, besteht.

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2 Gedanken zu „Verfassungsrecht außerhalb des Grundgesetzes?“

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