Genießen Politiker wirklich Immunität vor Strafverfolgung?

Eine weit verbreitete Ansicht geht davon aus, dass sich die Politik deswegen so ziemlich alles erlauben kann, weil die Politiker vor jedes Strafverfolgung geschützt seien. Aber stimmt das wirklich?

Richtig ist, dass es diese sogenannte Immunität gibt. Allerdings gilt diese schon einmal nicht für alle Politiker, sondern nur für Parlamentsabgeordnete. Hinsichtlich der Landtage ist dies in den Länderverfassungen geregelt, hinsichtlich der Bundestagsabgeordneten im Grundgesetz (Art. 46), was aber auch für den Bundespräsidenten entsprechend gilt (Art. 60 Abs. 4).

Immunität im Grundgesetz

In Art. 46 Abs. 1 GG ist zunächst einmal die sog. Indemnität als Unterfall der Immunität geregelt:

Ein Abgeordneter darf zu keiner Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen einer Äußerung, die er im Bundestage oder in einem seiner Ausschüsse getan hat, gerichtlich oder dienstlich verfolgt oder sonst außerhalb des Bundestages zur Verantwortung gezogen werden. Dies gilt nicht für verleumderische Beleidigungen.

Diese soll nicht vor jeder Strafverfolgung schützen, sondern lediglich eine Debatte und Abstimmung im Parlament frei von Ängsten vor strafrechtlicher Ahndung ermöglichen. Ausgenommen hiervon sind aber Verleumdungen, also wissentliche Falschbehauptungen über Personen. Im Übrigen gilt: Was im Bundestag geschieht, bleibt im Bundestag. Ausfälligkeiten können hier durch parlamentarische Ordnungsmaßnahmen geahndet werden.

Die Immunität im engeren Sinne ist in den Absätzen 2 bis 4 geregelt:

(2) Wegen einer mit Strafe bedrohten Handlung darf ein Abgeordneter nur mit Genehmigung des Bundestages zur Verantwortung gezogen oder verhaftet werden, es sei denn, daß er bei Begehung der Tat oder im Laufe des folgenden Tages festgenommen wird.
(3) Die Genehmigung des Bundestages ist ferner bei jeder anderen Beschränkung der persönlichen Freiheit eines Abgeordneten oder zur Einleitung eines Verfahrens gegen einen Abgeordneten gemäß Artikel 18 erforderlich.
(4) Jedes Strafverfahren und jedes Verfahren gemäß Artikel 18 gegen einen Abgeordneten, jede Haft und jede sonstige Beschränkung seiner persönlichen Freiheit sind auf Verlangen des Bundestages auszusetzen.

Diese Vorschriften umfassen das (extrem seltene) Verfahren zur Aberkennung von Grundrechten gemäß Art. 18 GG und das (praktisch relevante) Strafverfahren nach der StPO. Sowohl Verhaftung als auch die bloße Einleitung von Ermittlungen bedürfen hier – außer bei Festnahme auf frischer Tat – der Genehmigung durch den Bundestag. Ein rechtmäßig eingeleitetes Verfahren muss jedenfalls ausgesetzt werden, wenn der Bundestag dies verlangt.

Geschäftsordnung macht Ausnahme zur Regel

Grundsätzlich ist das also ein sehr weiter Schutz vor Strafverfolgung, das Gerücht scheint also zu stimmen.

Tatsächlich hat der Bundestag diesen verfassungsrechtlichen Schutz aber selbst unterlaufen. Denn in Anlage 6 zur Geschäftsordnung des Bundestags wird die notwendige Genehmigung zur Strafverfolgung einfach pauschal für die gesamte Legislaturperiode und für alle Abgeordneten erteilt (Ziffer 1 Abs. 1):

Der Deutsche Bundestag genehmigt bis zum Ablauf dieser Wahlperiode die Durchführung von Ermittlungsverfahren gegen Mitglieder des Bundestages wegen Straftaten, es sei denn, dass es sich um Beleidigungen (§§ 185, 186, 187a Abs. 1, § 188 Abs. 1 StGB) politischen Charakters handelt.

Damit wird den Staatsanwaltschaften also freie Hand dafür gegeben, gegen Politiker zu ermittelt. Lediglich bei Beleidigungsdelikten im Zusammenhang mit der politischen Auseinandersetzung will sich der Bundestag das letzte Wort nicht nehmen lassen.

Lediglich einschneidendere Maßnahmen sind von dieser Genehmigung nicht umfasst (Ziffer 2):

a) die Erhebung der öffentlichen Klage wegen einer Straftat und den Antrag auf Erlaß eines Strafbefehls,

b) im Verfahren nach dem Gesetz über Ordnungswidrigkeiten den Hinweis des Gerichts, daß über die Tat auch auf Grund eines Strafgesetzes entschieden werden kann (§ 81 Abs. 1 Satz 2 OWiG),

c) freiheitsentziehende und freiheitsbeschränkende Maßnahmen im Ermittlungsverfahren.

d) die Fortsetzung eines Ermittlungsverfahrens, zu dem der Bundestag in der vorausgegangenen Wahlperiode die Aussetzung der Ermittlungen gemäß Artikel 46 Abs. 4 des Grundgesetzes verlangt hat.

Nicht genehmigt sind also nur Maßnahmen, die unmittelbar in eine Verurteilung münden (können) wie Anklage und Strafbefehl sowie die Untersuchungshaft. Außerdem dürfen keine Ermittlungen weitergeführt werden, die der Bundestag schon einmal aussetzen hat lassen.

Einen inhaltlich ganz ähnlichen Beschluss fasst bspw. der Bayerische Landtag zu Beginn der Amtsperiode: Beschluss des Bayerischen Landtags vom 5. November 2018 zur vereinfachten Handhabung des Immunitätsrechts

Immunitätsaufhebung als Vorverurteilung

Von der Immunität bleibt so nicht wirklich viel übrig. Ermittelt werden kann gegen jeden Abgeordneten ohne Weiteres.

Warum wird also die Verfassung derart unterlaufen? Gibt es etwa ein Gefühl der Abgeordneten dafür, dass ihre Sonderrechte nicht gar so gut ankommen? Dass es keinen Grund mehr dafür gibt, sie von der Verantwortlichkeit vor dem Gesetz auszunehmen?

Im Gegenteil, die Aufhebung der Immunität soll den Abgeordneten gerade helfen. Denn diese Immunität, die eine Reaktion auf die Verfolgung politischer Gegner im Nationalsozialimus war, ist den Abgeordneten zunehmend auf die Füße gefallen.

Die Aufhebung der Immunität wurde und wird nicht als Auftakt für die Aufnahme rechtsstaatlicher Ermittlungen gesehen, sondern als Vorverurteilung. Denn damit hat bereits eine Instanz, nämlich der Bundestag bzw. der zuständige Immunitätsausschuss, eine für den Beschuldigten negative Entscheidung gefällt. Also muss – so zumindest die Sicht der Öffentlichkeit – irgendetwas an der Sache dran sein.

Ist die Immunität dagegen allgemein aufgehoben worden, ist das eine rein technische Entscheidung ohne Betrachtung des Einzelfalls. Die Staatsanwaltschaft ermittelt dann einfach, was jedoch regelmäßig kaum jemanden interessiert und allenfalls als Randnotiz in den Medien vorkommt.

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