Es ist nicht einfach, sich einzugestehen, dass man einem Irrtum aufgesessen ist.
Das äußerte vor kurzem ein Kollege über eine Auseinandersetzung mit – zugegebenermaßen ziemlich logikresistenten – Diskussionspartnern. Diese Aussage hat mich zum Nachdenken gebracht. Ja, es mag sein, dass in diesem Fall das Eingestehen des eigenen Irrtums schmerzlich ist. Aber gilt das immer?
Mein Ergebnis ist, dass vielmehr das Gegenteil der Fall ist bzw. sein sollte. Der Zweifel an der eigenen Erkenntnis ist Teil jedes wissenschaftlichen Strebens nach Erkenntnis, gerade in der Juristerei.
Jeder muss die Schlussfolgerungen, die er zieht, und die Standpunkte, die er einnimmt, als vorläufig betrachten. Man muss sie stets hinterfragen. Man muss sein eigener Advocatus Diaboli sein, der mögliche Gegenargumente bereits selbst aufwirft und beleuchtet. Nur, wenn diese Gegenargumente entkräftet werden können, sind die eigenen Thesen überhaupt irgendetwas wert.
Man muss sich stets fragen, ob man die Tatsachen, aufgrund derer man seine Schlussfolgerungen gezogen hat, richtig und vollständig erfasst hat. Man muss sich fragen, ob es für die Feststellungen, die man getroffen hat, noch andere Ursachen geben kann als diejenigen, denen man sie zuschreibt. Man muss stets damit rechnen, dass die Kausalverläufe andere sind als die, von denen man ausgegangen ist.
Und unter diesen Bedingungen passiert es eben immer wieder, dass man im Endeffekt zu dem Schluss kommt, dass man sich geirrt hat. Das ist nichts Ehrenrühriges. Man kann wohl – und auch diese Aussage treffe ich in dem Bewusstsein, dass sie falsch sein könnte – davon ausgehen, dass sich die großen Denker der Menschheit, ob Aristoteles, Newton, Darwin oder Einstein, bei rein quantitativer Betrachtung mehr geirrt haben als dass sie Recht hatten.
Aber die Bedeutung ihrer Leistung liegt eben nicht beim zahlenmäßigen Verhältnis von Richtig und Falsch, sondern darin, dass sie dort, wo sie Recht hatten, weiter geforscht und qualitativ revolutionäre Erkenntnisse produziert haben. Und genau das ist eben eine wissenschaftliche Vorgehensweise: Die Gesamtheit der Hypothesen zu betrachten, diejenigen auszuscheiden, die falsifizierbar sind, und diejenigen zu vertiefen, deren Richtigkeit man nicht ausschließen kann.
Gerade in einer Wissenschaft wie der Juristerei, die keine naturwissenschaftlichen Tatsachen erforscht, sondern sich durch Gesetzgebung und Rechtsprechung ihre eigenen Regeln schafft, gibt es eine Fülle an Meinungen, von denen nur eine richtig sein kann. Aber trotzdem haben all diese Meinungen (zumindest diejenigen, die sich auf dem Boden der Rechtswissenschaft an sich befinden) ihre Berechtigung. Man nennt sie dann „vertretbar“. Und so, wie es dazugehört, die Möglichkeit eigenen Irrtums stets einzuplanen, gehört es auch zu einer gesitteten juristischen Diskussion, der gegnerischen Position zuzubilligen, dass diese vielleicht in gewisser Hinsicht Recht haben kann oder ihre Argumente zumindest nicht völlig von der Hand zu weisen sind. Was einem freilich nicht verbietet, die eigenen Argumente für schlagkräftiger oder gewichtiger zu halten.
Kein Argument ist das bloße Sichberufen auf die herrschende Meinung. Aber wenn man die herrschende Meinung gegen sich hat, bedarf es jedenfalls eines ganz besonderen Argumentationsgerüsts, um sich durchzusetzen. Dazu gehört zunächst, sich mit den Argumenten der herrschenden Meinung, die sich in der Literatur leicht finden lassen, auseinanderzusetzen und diese fundiert abzulehnen. Aber damit nicht genug, in einem zweiten Schritt muss man natürlich noch sein eigenes Thesengebäude aufbauen und darlegen, wieso dieses nun zu einem besseren Ergebnis führt als die herrschende Meinung.
Dieser Ausflug in die juristische Methodenlehre zeigt auf jeden Fall eines: Auch die Mehrheit der absoluten Experten auf einem Gebiet (nichts anderes bedeutet „herrschende Meinung“) kann sich irren. Denn die herrschenden Meinungen haben sich schon x-fach geändert. Bestes Beispiel sind die Bürgschaften im engsten Familienkreis, die früher als praktisch ausnahmslos zulässig angesehen wurden, die nun aber aufgrund gewachsenen Widerstands in der Rechtswissenschaft sehr viel differenzierter bewertet werden. Ein Recht auf Sezession wurde in früherer Zeit rundweg abgelehnt, mittlerweile kommt diese absolute Haltung kaum noch vor, die Auseinandersetzung ist im Fluss und internationale Gerichte gehen vorsichtig in die gleiche Richtung – was auch darauf zurückzuführen ist, dass die Blockbildung des Kalten Kriegs vorbei ist und die monolithischen Strukturen früherer Zeiten aufbrechen.
Und auch das kann zum Erneuern der eigenen Meinung führen: Dass sich Tatsachen ändern. Das ist kein Irrtum im eigentlichen Sinne, da man ja nicht seine Meinung ändert. Aber wenn die Fundamente sich verschieben, dann kann die eigene Meinung nicht stehen bleiben, ohne in sich zusammenzustürzen.
Es mag sein, dass es einem nicht leicht fällt, seinen Irrtum einzugestehen. Weil man damit vielleicht eine liebgewonnene Meinung verabschieden muss. Aber es nützt auch nichts, wider besseren Wissens an etwas festzuhalten. Und man sollte sich lieber damit identifizieren, seine Meinung mit der Verbesserung seines Wissens weiterzuentwickeln, als damit, die eigene Meinung über die Realität zu stellen.