Der Legitimationsregress

Kern der Rechtwissenschaft ist die Frage, welche Handlung erlaubt ist und welche nicht; weniger technisch gesagt: wer was darf. Das gilt sowohl für Privatpersonen als auch für staatliche Organe.

Und so kann man bei jedem behördlichen Handeln die Frage stellen, ob diese zulässig ist. Damit verbunden ist spiegelbildlich die Frage, ob eine Handlung des Bürgers im Angesicht einer behördlichen Handlung zulässig ist.

Nehmen wir an, ein Autofahrer fährt an einem „Tempo 80“-Schild vorbei. Und zwar mit einer Geschwindigkeit von 90 km/h. Darf er das?

Die erste, logische Reaktion ist diejenige, dass er das natürlich nicht darf. Schließlich widerspricht es dem angebrachten Verkehrsschild. Diese hat (unterstelltermaßen) die zuständige Behörde dort platziert. Es handelt sich somit um einen gegenüber jedermann geltenden Verwaltungsakt, eine sogenannte Allgemeinverfügung. Ein Verkehrsschild wirkt also so, als würde die Polizei jedem Autofahrer auf dieser Straße einen Bescheid aushändigen, der ihn verpflichtet, hier maximal 80 Stundenkilometer zu fahren.

Das darf die Behörde aber nicht einfach so, sie tut dies aufgrund der Ermächtigung in der Straßenverkehrsordnung. Die Straßenverkehrsordnung ist eine Verordnung, die das Bundesverkehrsministerium erlassen hat. Das wiederum erlaubt das Straßenverkehrsgesetz, das von Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde. Die Grundlage hierfür findet sich in der Verfassung: Art. 74 Abs. 1 Nr. 22 des Grundgesetzes erlaubt es dem Bund, den Straßenverkehrs zu regeln.

Diese Technik, dass jede Rechtsnorm daran gemessen wird, ob sie mit der darüberstehenden Rechtsnorm im Einklang steht, bezeichnet man als Legitimationsregress. Nach Durchschreiten seiner einzelnen Stufen kann man also sagen, dass ein Verkehrsschild zulässig ist, weil es der Verfassung entspricht.

Nur: Woraus legitimiert sich die Verfassung?

In modernen Demokratien geht man davon aus, dass die Verfassung dem Volkswillen entspricht bzw. sogar aus diesem entsteht. Das mag eine gewisse Berechtigung haben, denn gemeinhin werden Verfassungen durch die gewählten Vertreter der Bürger ausgearbeitet, teilweise auch durch Volksentscheid bestätigt. Der Wille der Mehrheit bildet sich also in der Verfassung ab.

Aber mit welcher Berechtigung muss sich der Einzelne der Mehrheit beugen? „Demokratie ist, wenn zwei Wölfe und ein Schaf darüber abstimmen, was es zum Mittagessen gibt“, sagt ein ziemlich zynischer Spruch. Natürlich ist eine Mehrheitsherrschaft schon denklogisch der Minderheitsherrschaft vorzugswürdig. Aber eine Einwilligung jedes Bürgers dieser Gruppe, sich dem Willen der Meisten zu unterwerfen, gibt es sicher nicht.

Und auch die Mehrheit ist eine sehr relative Sache. Je länger die Abstimmung über die Verfassung zurückliegt, desto unsicherer wird ihre Akzeptanz. Und es ist nur eine Frage weniger Jahre, bis so viele der damaligen Wähler gestorben sind und gleichzeitig so viele neue Bürger hinzugekommen sind, dass es nicht mehr sicher ist, ob eine Mehrheit noch gegeben ist.

Für eine organisierte Staatlichkeit muss also die Verfassung als stehende Norm betrachtet werden, auch, wenn dies rein rational betrachtet eine äußerst wacklige Konstruktion ist.

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