Vermutung und Fiktion

Die Vorstellungswelt des Gesetzgebers ist einfach: Tatbestand und Rechtsfolge werden einfach verknüpft – wenn etwas bestimmtes gegeben ist, dann tritt eine bestimmte Rechtsfolge ein. Der Eigentümer kann vom Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen. (§ 985) Wenn der eine Eigentümer und der andere Besitzer einer Sache ist, dann erhält Ersterer die Sache von Letzterem. Die Schwierigkeit liegt nicht darin, diese völlig banale Norm anzuwenden; bedeutend schwieriger kann es sein, das Vorliegen der Voraussetzungen auch zu beweisen.

Aus diesem Grunde gibt es verschiedene juristische Methoden, das Vorliegen bestimmter Tatsachen dadurch festzustellen, dass man sich an anderen Tatsachen orientiert, die leichter zu beweisen sind.

1. Fiktion

Bei einer Fiktion werden Sachverhalte gleichgestellt, die tatsächlich verschieden sind. Beispielsweise wird gemäß § 1923 Abs. 2 BGB ein bereits gezeugter, aber noch nicht geborener Mensch so behandelt als wäre er bereits geboren. Natürlich ist er, das ist jedem auch ohne juristische oder medizinische Bildung klar, in Wirklichkeit noch nicht geboren worden. Aber es wird so getan, um alle Vorschriften des Erbrechts auf ihn anwenden zu können.

Andere Beispiele:

  • Bei einer Wahlschuld gilt die gewählte Schuld als von Anfang an geschuldet, § 263 Abs. 2 BGB – obwohl sie eigentlich erst geschuldet wird, sobald der Gläubiger seine Wahl ausübt.
  • Verweigert jemand die Annahme eines Schriftstücks, so gilt dieses als zugestellt, § 179 Satz 3 ZPO – obwohl es ja eigentlich gerade nicht zugestellt wurde.
  • Was der Beistand eines Prozessbeteiligten vor Gericht vorträgt, gilt als von dem Beteiligten selbst vorgetragen, § 12 Abs. 4 GVG – obwohl er das in Wirklichkeit nicht gesagt hat.

2. Unwiderlegliche Vermutung

Bei einer unwiderleglichen Vermutung kann es im Gegensatz zu einer Fiktion durchaus sein, dass die Vermutung zutrifft. Ob eine Ehe gescheitert ist, ist schwer festzustellen, weil dieser Begriff einer exakten Definition und Subsumtion nicht zugänglich ist. Daher wird das Scheitern unwiderlegbar vermutet, wenn die Ehepartner seit mindestens drei Jahren getrennt leben (§ 1566 Abs. 2 BGB). Es ist nach der Lebenserfahrung durchaus wahrscheinlich, dass die Ehe dann tatsächlich gescheitert ist (darum ist es eine Vermutung und keine Fiktion) – aber wenn sie es nicht ist, dann ist das in diesem Fall auch egal (da unwiderleglich).

Andere Beispiele:

  • Gemäß § 274 StPO kann der Ablauf der Hauptverhandlung in einer Strafsache nur über das Protokoll bewiesen werden. Was im Protokoll steht, kann durch Beweise nicht widerlegt werden, es kann nur bewiesen werden, dass der Protokoll (ingesamt oder insoweit) gefälscht wurde.

3. Widerlegliche Vermutung

Mit Abstand am häufigsten und darum am praxisrelevantesten ist die widerlegliche Vermutung. Sie stellt den gesetzlichen Regelfall einer Vermutung dar (§ 292 ZPO). Es handelt sich faktisch um eine Beweiserleichterung, da man eben nur bestimmte Tatsachen beweisen muss. Es hört sich zwar zunächst nicht sehr sicher an, dass die Vermutung „widerleglich“ ist – der Gegner muss also einfach nur das Gegenteil beweisen, dann ist meine Vermutung nichts mehr wert. Tatsächlich ist eine Vermutung sehr viel wert, denn meistens schafft es der Gegner nicht, den für die Widerlegung notwendigen Gegenbeweis zu führen.

Beispiele:

  • Wenn jemand eine Sache im Jahr 2010 und im Jahr 2015 besessen hat, wird vermutet, dass er sie auch in Zwischenzeit permanent besessen hat (§ 938 BGB) – das ist hilfreich, weil es schwer sein kann, seinen Besitz für jeden einzelnen Moment eines Zeitraums nachzuweisen.
  • Um Gewährleistungsrechte geltend zu machen, muss die gekaufte Sache von Anfang an mangelhaft gewesen sein. Das ist aber meistens nicht zu beweisen, da sich der Mangel erst später zeigt. Darum reicht es, wenn man nachweisen kann, dass sich der Mangel innerhalb von sechs Monaten gezeigt hat. (§ 476 BGB)
  • Wer die Frist für ein Rechtsmittel versäumt, erhält eine zweite Chance (Wiedereinsetzung), wenn er daran nicht schuld ist. Dies wird dann vermutet, wenn er über seine Rechtsmittel nicht korrekt aufgeklärt wurde. (§ 233 Satz 3 ZPO)
  • Wenn jemand an dem Tag, an dem das Insolvenzverfahren über ihn eröffnet wird, über sein Vermögen verfügt, wird vermutet, dass er das erst nach Verfahrenseröffnung getan hat. (§ 81 Abs. 3 InsO) Es bleibt aber möglich, nachzuweisen, dass dies bspw. schon eine halbe Stunde vorher geschehen ist.

Zusammenfassung

Insgesamt haben widerlegliche und unwiderlegliche Vermutung gemeinsam, dass sie beide auf Tatbestandsebene an eine gewisse Prognosewahrscheinlichkeit anknüpfen. Unwiderlegliche Vermutung und Fiktion haben gemeinsam, dass sie auf Rechtsfolgenseite unverrückbar sind.

Sonderfälle

Die verschiedenen Fallgruppen sind übrigens nicht so streng getrennt, wie man meinen könnte:

  • Wenn man einen deutschen Personalausweis oder Reisepass besitzt, ist das noch kein sicherer Nachweis der Staatsbürgerschaft. Allerdings begründet der Besitz die widerlegliche Vermutung der deutschen Staatsbürgerschaft, was in 99,9 % der praktischen Anwendungsfälle völlig ausreicht. Hat man jedoch mindestens zwölf Jahre lang ein deutsches Ausweispapier besessen, so wird daraus ein Erwerbstatbestand gemäß § 3 Abs. 2 des Staatsangehörigkeitsgesetzes.
  • Außerdem gibt es auch noch einseitige Vermutungen: So wird nach § 1006 Abs. 1 Satz 1 BGB nur zugunsten des Besitzers vermutet, dass er auch Eigentümer ist, nicht aber zu seinen Lasten. Dagegen wirkt § 739 Abs. 1 ZPO nur zulasten eines Schuldners, indem vermutet wird, dass er alleine Eigentümer, Gewahrsamsinhaber und Besitzer einer Sache in der Ehewohnung ist, sodass sein Gläubiger sie pfänden lassen kann.
  • Als Vater eines Kindes wird vermutet, wer im Zeitpunkt zwischen sechs und zehn Monaten vor der Geburt der Mutter „beigewohnt“ hat. (§ 1600d Abs. 2 und 3 BGB) Diese Vermutung besteht aber schon dann nicht, wenn „schwerwiegende Zweifel an der Vaterschaft bestehen“. Diese Vermutung ist also schwächer als üblich, weil die andere Seite nicht das Gegenteil beweisen, sondern lediglich Zweifel darlegen muss.

Insgesamt sind Vermutungen ein notwendiger Bestandteil des Rechts. So, wie es wichtig ist, dass grundsätzlich jeder die für ihn günstigen Tatsachen vor Gericht beweisen muss, braucht dieser Grundsatz aber auch seine Grenzen. In mancherlei Hinsicht ist es realistischerweise eben nur möglich, gewisse Indizien zu beweisen. Darüberhinaus müssen wir uns damit abfinden, dass das Leben nie so eindeutig ist wie ein Klausursachverhalt.

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