Anspruchsverlust durch Verspätung

Eine der Prozessmaximen der ZPO, also ein eherner Grundsatz, auf dem das Zivilverfahren vor deutschen Gerichten aufbaut, ist das Beschleunigungsprinzip. Gerade heuzutage, wo niemand mehr Zeit hat und Ressourcen knapp sind, muss auch ein Gerichtsverfahren möglichst reibungslos funktionieren. Darum sieht die ZPO an vielen Stellen vor, dass man sich möglichst schnell äußern muss.

Wenn man das nicht tut, hat man oft Pech gehabt. Das wohl schärfste Schwert ist § 296 ZPO:

§ 296 Zurückweisung verspäteten Vorbringens

(1) Angriffs- und Verteidigungsmittel, die erst nach Ablauf einer hierfür gesetzten Frist (…) vorgebracht werden, sind nur zuzulassen, wenn nach der freien Überzeugung des Gerichts ihre Zulassung die Erledigung des Rechtsstreits nicht verzögern würde oder wenn die Partei die Verspätung genügend entschuldigt.

(2) Angriffs- und Verteidigungsmittel, die (…) nicht rechtzeitig mitgeteilt werden, können zurückgewiesen werden, wenn ihre Zulassung nach der freien Überzeugung des Gerichts die Erledigung des Rechtsstreits verzögern würde und die Verspätung auf grober Nachlässigkeit beruht.

(3) Verspätete Rügen, die die Zulässigkeit der Klage betreffen und auf die der Beklagte verzichten kann, sind nur zuzulassen, wenn der Beklagte die Verspätung genügend entschuldigt.

Man kann dadurch also bestimmte Beweismittel dann nicht mehr vorbringen, weil es dafür eben zu spät ist. Wenn also der Kläger im Prozess auf einmal merkt, dass es für ihn schlecht läuft, dann kann er nicht verlangen, dass das Verfahren vertagt wird, damit im nächsten Termin ein Zeuge gehört wird, den er bisher nicht erwähnt hat. Sogar, wenn der Richter überzeugt ist, dass diese Zeugenaussage eine Wende im Prozess bringen würde, muss er dieses Beweismittel ignorieren.

Gegen diese sehr strikte Herangehensweise gibt es durchaus Kritik, da sie objektiv falsche Entscheidungen in Kauf nimmt. Aber insgesamt wird diese Praxis einfach dadurch gerechtfertigt, dass man ein anderes Verfassungsgut schützt, nämlich das Recht der Bürger auf eine effiziente Gerichtsbarkeit und schnelle staatliche Hilfe.

Jetzt nehmen wir folgenden Fall:

A hat B beauftragt, bei ihm Teppichboden zu verlegen. B stellt eine Rechnung über die vereinbarten 2000 Euro. A ist jedoch nicht zufrieden mit der Arbeit und überweist nur 1500 Euro, weil die Arbeit nicht mehr wert sei. B sieht das anders und klagt auf die ausstehenden 500 Euro. Im Prozess merkt A, dass der vernommene Sachverständige B recht gibt und fürchtet nun, dass der Richter dem B den vollen Preis zuspricht. Also sagt er: „Eigentlich wollte ich es ja nicht erwähnen, aber B hat beim Arbeiten meine Schrankwand mit seinem Werkzeug verkratzt. Wenn ich das reparieren lasse, kostet es mich mindestens 500 Euro. Also wären wir, sogar wenn ich das hier verliere, sowieso quitt!“

Diese Vorgehensweise hat eine gewisse Logik: A schuldet B 500 Euro, B schuldet A 500 Euro, das hebt sich gegenseitig auf. Auch das Gesetz kennt diese Möglichkeit, sie nennt sich Aufrechnung. Genauer gesagt ist das hier eine Prozessaufrechnung (weil sie im Prozess erklärt wurde) und zugleich eine Eventualaufrechnung (weil sie nur eventuell, also für den Fall erklärt wird, dass man den Prozess verliert). Diese Vorgehensweise ist unbestritten zulässig.

Hier ergibt sich nur ein Problem: Wir sind bereits im Prozess. Das Vorbringen ist also ziemlich spät. Und weil B sagen wird „Gar nichts hab ich kaputt gemacht! Der Kratzer war schon da und außerdem ist doch der ganze Schrank keine 500 Euro mehr wert“, war es auch zu spät. Denn nun müsste der Richter Zeugen und Gutachter laden, was einen weiteren Termin und damit eine Verzögerung des Verfahrens bedeuten würde. Damit wird diese Prozessaufrechnung als verspätet zurückgewiesen, der Richter darf sie bei der Fällung des Urteils nicht berücksichtigen.

Aus Sicht von A bedeutet das also, dass er nun wohl dazu verurteilt wird, die 500 Euro an B zu zahlen. Aber wie du mir, so ich dir: Dann klagt A eben seine 500 Euro Schadenersatz, diesmal unter rechtzeitiger Benennung von Zeugen und mit der Anregung eines Sachverständigengutachtens, in einem neuen Prozess ein.

Hier kommt aber § 322 Abs. 2 ZPO ins Spiel:

Hat der Beklagte die Aufrechnung einer Gegenforderung geltend gemacht, so ist die Entscheidung, dass die Gegenforderung nicht besteht, bis zur Höhe des Betrages, für den die Aufrechnung geltend gemacht worden ist, der Rechtskraft fähig.

Übersetzt heißt das: Hat jemand die Aufrechnung erklärt, aber hat das Gericht entschieden, dass er gar nicht aufrechnen kann, weil er keine Forderung besitzt, dann ist das Nichtbestehen dieser Forderung gerichtlich bestätigt. Damit kann es nicht zum Gegenstand eines neuen Prozesses gemacht werden. Diese sogenannte „materielle Rechtskraft“ will verhindern, dass man dieselbe Klage solange einreicht, bis man endlich Recht bekommt. Hat einmal ein Gericht endgültig entschieden, ist jeder weiteren Klage in derselben Sache die Grundlage entzogen.

Das hört sich vernünftig an, hat aber doch mit dem Ausgangsfall nichts zu tun, oder? Das Gericht hat ja nicht in der Sache über den Schadenersatzsnspruch des A entschieden, sondern ihn gar nicht beachtet, weil er zu spät war. Das ist also ein ganz anderer Fall.

Doch, das ist das Gleiche, sagt die Rechtsprechung, die man im „Thomas/Putzo“, einem bekannten ZPO-Kommentar findet. „Bleibt das der Aufrechnung zu Grunde liegende tatsächliche Vorbringen unberücksichtigt (§ 296), so ist die Aufrechnungsforderung sachlich und rechtskraftfähig aberkannt.“ Dies hat der BGH in einer Entscheidung so festgelegt, die online nicht zu finden ist, aber im Rechtsprechungsreport der Neuen Juristischen Wochenschrift (NJW-RR 91, 972) abgedruckt wurde. Das Urteil, das A zur Zahlung von 500 Euro verurteilt und gleichzeitig seine Gegenforderung nicht berücksichtigt, erstreckt also seine materielle Rechtskraft auch auf diese Forderung. Hätte er sie rechtzeitig in den ersten Prozess eingebracht, hätte er (wenn er den Schaden hätte beweisen können) erfolgreich aufrechnen können. Hätte A die Aufrechnung gar nicht erwähnt, könnte er jederzeit (solange sie nicht verjährt ist) eine neue Klage einreichen. Aber er ist hier in die Lücke zwischen rechtzeitigem und nachträglichem Vorbringen gefallen.

Und die Sanktion dafür soll laut Rechtsprechung nun sein, die Forderung endgültig zu verlieren? Das erscheint, rein vom Gerechtigkeitsgefühl her, völlig unangemessen.

Aber es findet sich auch wenig Stütze im Gesetz für diesen Standpunkt. Hier liegt eben keine „Entscheidung, dass die Gegenforderung nicht besteht“ vor. Es wurde nur entschieden, dass das prozessuale Angriffsmittel der Aufrechnung zu spät erklärt wurde und die Sachlage nicht ad hoc zu klären war.

Und auch der Grund für das Festschreiben einer materiellen Rechtskraft ist hier nicht berührt: Wir erinnern uns, es soll verhindert werden, dass derselbe Anspruch mehrmals eingeklagt wird, bis er endlich erfolgreich ist. Gerade bei größeren Gerichten könnte der Kläger immer darauf hoffen, dass die Sache einem anderen Richter zugeteilt wird, der vielleicht mehr Verständnis für ihn hat. Aber das ist hier ja nicht der Fall. Zum einen handelt es sich bei der Prozessaufrechnung um ein einmaliges Ereignis, der B wird den A ja nicht laufend wegen lauter neuer Rechnungen verklagen.

Zum anderen tritt die Rechtsfolge, dass nur einmal über den Anspruch entschieden werden soll, ja trotzdem ein. Denn wenn die Aufrechnung rechtzeitig erklärt wurde, wird ja über das Bestehen des Anspruchs entschieden und dieses Urteil ist dann definitiv von der Rechtskraft umfasst.

Hier dagegen soll sich die Rechtskraft auf etwas erstrecken, was das Gericht nie geprüft hat. Aus dem Grundsatz, dass man Anspruch auf nicht mehr als eine gerichtliche Entscheidung in einem bestimmten Verfahren hat, wird dadurch die Ausnahme, dass man gar keinen Anspruch darauf hat. Das ist weder mit dem Justizgewährleistungsanspruch noch mit dem rechtlichen Gehör zu vereinbaren.

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