Der Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher

Nürnberger Prozess - GalgenHeute vor 70 Jahren wurden die Todesurteile aus dem Nürnberger Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher vollstreckt. Grund genug, sich diesen Meilenstein der Juristerei einmal genau anzusehen. Darum haben wir einzelne Aspekte des Prozesses herausgegriffen und kurz bewertet:

Prozess gegen eine Staatsführung: Zum wohl ersten Mal in der Geschichte der Menschheit wurde einer kompletten Staatsführung der Prozess gemacht. Die Aufarbeitung des Dritten Reichs sollte in juristischer Form und unter detaillierter Erforschung der Tatsachen und der persönlichen Verantwortlichkeit der Staatsspitze erfolgen. Das bedeutet eine Abkehr von Rachegedanken und insbesondere auch von anfänglichen Überlegungen, die NS-Politiker einfach zu ohne Prozess zu exekutieren. Zugleich wurde erstmals auch vorausgesetzt, dass staatliches Handeln dem Strafrecht unterliegt und nicht aus sich selbst heraus legitimiert und legalisiert ist.

Siegerjustiz: Ein großer Kritikpunkt war zunächst, dass die Sieger über die Verlierer zu Gericht sitzen würden. Mit den USA, Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion waren die vier Hauptkriegsgegner nun auf einmal die Richter über die deutsche Staatsführung. Zum einen muss man aber sagen, dass die Art der Prozessführung die Unterstellung der Voreingenommenheit schnell weitgehend entkräftet hat. Zum anderen wäre dann die Frage, wer sonst über diese Politiker hätte richten sollen. Im Jahr 1946 konnte es praktisch keine deutschen Juristen geben, die neutral waren – entweder hatten die in der NS-Zeit selbst geurteilt oder sie waren Emigranten. Dass sich die Sieger der Ahndung der Verbrechen in dem Krieg, in den sie hineingezogen wurden, annahmen, ist auch eine logische Sache.

Legitimation des Gerichts: Das Recht auf den gesetzlichen Richter ist heute sehr wichtig, es hat sogar Verfassungsrang. Demnach muss abstrakt durch das Gesetz das Gericht und durch den Geschäftsverteilungsplan des Gerichts der einzelne zuständige Richter bestimmt werden. Es soll verhindert werden, dass der Gerichtspräsident, die Staatsanwaltschaft oder gar die Regierung bestimmt, welchem Richter welcher Fall zugeteilt wird. Das war beim Nürnberger Prozess sicher nicht so. Vielmehr wurde ein Gerichtshof eigens für diese Prozesse eingerichtet. Auch hier muss man aber sagen, dass es eben keine Zuständigkeitsvorschriften für Kriegsverbrecherprozesse gab. Es war hier unumgänglich, aus der Notwendigkeit heraus erst ein Gericht einzusetzen.

Angeklagte beim Nürnberger ProzessAuswahl der Angeklagten: Der erste Prozess richtete sich gegen die Hauptkriegsverbrecher, also gegen die Staatsführung des Dritten Reichs; in den Folgeprozessen wurden bspw. Ärzte, Juristen und Unternehmer angeklagt. In diesem ersten Prozess wurden die Beschuldigten nach konkreten Rollen ausgewählt – als Repräsentanten von Staat, Propaganda und Partei, des Militärs, der Besatzungsmacht, von Sicherheitsorganen und der Wirtschaft. Da Hitler selbst, aber auch andere höchstrangige Verantwortliche für die NS-Verbrechen wie Himmler, Freisler, Goebbels und Heydrich nicht mehr am Leben waren, wurden die noch verfügbaren Angeklagten teilweise als „zweite Garde“ empfunden. Dass bspw. Reichsaußenminister Joachim von Ribbentrop kaum jemals eine eigenständige Außenpolitik machte, war weder in Deutschland noch bei den Kriegsgegnern ein Geheimnis. Zugleich muss man aber auch konstatieren, dass der Nationalsozialismus nicht Hitler alleine war. Das System konnte nur funktionieren, weil ihn führende Persönlichkeiten in führenden Positionen unterstützten und seine Vorstellungen ausführten. Und insofern muss man eben auch Menschen wie Konstantin von Neurath, obwohl er von der NS-Führung in jeder Position, die er innehatte, als zu zögerlich und wenig effektiv empfunden wurde, oder Baldur von Schirach, der wohl nicht einmal von den ihm unterstellten Hitler-Jungen ernstgenommen wurde, als Mitschuldige bezeichnen.

Auswahl der Anklagepunkte: Die Anklage umfasste vier Vorwürfe, nämlich

  • Planung eines Angriffskrieg,
  • Verschwörung zum Angriffskrieg,
  • Kriegsverbrechen und
  • Verbrechen gegen die Menschlichkeit.

Diese Tatbestände wurden im Londoner Statut vom August 1945 näher beschrieben. Grundsätzlich ist ein rückwirkendes Gesetz – in wohl jedem Strafrecht der Welt – unwirksam. Jeder muss sich darauf verlassen können, dass er nur wegen der Rechtsnormen zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden kann, die im Tatzeitpunkt bereits in Kraft getreten waren. Daran ändert auch die Tatsache nichts, dass die Nazis selbst von diesem Grundsatz nichts hielten. Das Londoner Statut schuf aber diese Straftatbestände nicht neu, sondern setzte deren Rechtswidrigkeit vielmehr voraus und beschränkte nur die Zuständigkeit des Gerichtshofs auf diese Taten.

Dass die angeklagten Handlungen strafbar waren, war auch in der damaligen Zeit kaum umstritten. „Mord, Misshandlungen oder Deportation
zur Sklavenarbeit“ oder „Plünderung öffentlichen oder privaten Eigentums, die mutwillige Zerstörung von Städten, Märkten oder Dörfern“ entsprachen nicht dem internationalen Kriegsrecht. Zwar war die Haager Landkriegsordnung im Zweiten Weltkrieg nicht anwendbar, aber die Genfer Konvention schützte die Kriegsgefangenen und gewohnheitsrechtlich war zumindest anerkannt, dass die Zivilbevölkerung im Krieg nicht vogelfrei war. Im Übrigen prangerte Hitler bereits in „Mein Kampf“ die Behandlung der deutschen Zivilbevölkerung im Ruhrgebiet durch die französischen Besatzungstruppen an.

Teilweise wird behauptet, Angriffskriege wären bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs noch als akzeptable Form der Auseinandersetzung und Recht eines souveränen Staates angesehen worden. Das ist so nicht richtig, denn bereits der auch von Deutschland bezeichnete Briand-Kellogg-Pakt aus dem Jahr 1928 wurde die Kriegsführung verurteilt und als Form des Umgangs zwischen Staaten ausgeschlossen. Dass freilich die Sowjets Polen genauso okkupierten wie Deutschland, zeigt, dass diese Prinzipien immer noch nicht allgemein anerkannt waren.

Nürnberger Prozess - HolocaustFür Kritik sorgte zumindest später auch die Beschränkung auf Verbrechen im Zusammenhang mit dem Angriffskrieg. Die Unterdrückung der eigenen Bevölkerung, einschließlich der Judenverfolgung in Deutschland selbst, wurde somit ausgeklammert. Dies war aber auch insofern verständlich, als diese Taten der deutschen Strafjustiz überlassen bleiben sollten. Die internationale Gemeinschaft sollte sich im Rahmen der Nürnberger Prozesse nur um das kümmern, was die deutsche Regierung den anderen Staaten angetan hatte.

Verbot des tu quoque: Die Argumentation „tu quoque“, zu übersetzen ungefähr als „du warst auch nicht besser“, wurde im Prozess nicht gehört. Die Angeklagten konnten sich also nicht damit verteidigen, dass ihre Kriegsgegner ähnlich gehandelt haben wie sie selbst. Dies ist insofern durchaus logisch, da auch heute kein angeklagter Dieb darauf verweisen kann, andere Menschen würden auch stehlen. Allerdings wurde hier aber nicht auf irgendwelche anderen Personen verwiesen, sondern gerade auf die Staaten, die selbst zu Gericht saßen. Dem kann man freilich entgegensetzen, dass zumindest seitens der Westalliierten keine Angriffskriege und auch keine systematischen und staatlich angeordneten Menschenrechtsverletzungen zu verzeichnen sind.

Strafmaß: Die Angemessenheit der Strafzumessung für die einzelnen Angeklagten, sowohl was ihre individuelle Verstrickung in Verbrechen als auch das Verhältnis zu den anderen Verurteilten angeht, war häufiger Anlass für Diskussionen. Betrachtet man die Tatsache, dass es hier nicht um einige, wenige Verfehlungen geht, sondern die angeklagten Kriege und Menschenrechtsverstöße, die jedem einzelnen Beschuldigten zur Last lagen, jeweils hunderttausende bis Millionen Todesopfer verursachten, wäre für jeden Verurteilten die Todesstrafe ohne Weiteres zu begründen gewesen.

Einiges der Kritik an den Urteilen ergibt sich freilich erst aus der späteren Betrachtung der Thematik. So wurde Heß, der als Hitler-Stellvertreter mit lebenslanger Freiheitsstrafe eigentlich recht milde davongekommen ist, erst dadurch zu einer tragischen Figur, dass diese – im Gegensatz zu den anderen Verurteilten – auch wirklich bis zum bitteren Ende vollstreckt wurde und er als 93-Jähriger nach insgesamt 46 Jahren in Haft Selbstmord beging. Umgekehrt wurde die tatsächliche Verstrickung Albert Speers in die Ausbeutung und die unmenschliche Behandlung von Zwangsarbeitern im Prozess selbst nicht vollständig erfasst. Aus heutiger Sicht gibt es wenig Zweifel daran, dass seine Schuld deutlich höher zu bewerten ist, wenngleich er freilich als einer der ganz wenigen Angeklagten geständig und reumütig war.

Todesstrafe: Heute ist die Todesstrafe international weitgehend geächtet, die Bundesrepublik sah sie nie vor, von den vier Staaten, die den Nürnberger Prozess leiteten, halten nur die USA noch daran fest, auch hier längst nicht mehr alle Bundesstaaten. 1946 war dies dagegen ganz anders, die Todesstrafe war in den Strafgesetzen der vier Staaten vorgesehen, ebenso im deutschen StGB, wovon vor allem im Dritten Reich exzessiv Gebrauch gemacht wurde. Nur acht Länder weltweit, darunter San Marino, Island und sechs mittel- und südamerikanische Staaten, hatten sie abgeschafft, in fast ganz Europa gab es die Todesstrafe. Insofern entstanden wenig Diskussionen darüber, auch die NS-Verbrecher hinzurichten – mag man heutzutage auch für noch so schwere Straftaten nur eine Freiheitsstrafe für angemessen halten.

Resümee

Der Nürnberger Prozess ist ein Wendepunkt der Rechtsgeschichte, da er die persönliche Verantwortlichkeit von Regierungsmitgliedern erstmals zur Grundlage eines Gerichtsverfahrens machte. Natürlich kann man immer den einen oder anderen Punkt kritisieren und möglicherweise hätte man gewisse Dinge heute anders geregelt. Aber man muss äußerst dankbar sein, dass dieser Weg gewählt wurde. Denn zumindest insgesamt war Nürnberger Prozess äußerst rechtsstaatlich und fair. Allein Görings über Tage gehende Tiraden und Rechtfertigungen, so schwer sie auch zu ertragen sein mögen, sind der beste Beweis dafür, wie umfangreich sich die Angeklagten verteidigen durften.

Allerdings wäre es für die Legitimation des Gerichts sicher besser gewesen, wenn nur die Westalliierten an ihm beteiligt gewesen wären. Dass auch die Sowjetdiktatur stellvertretend für die Weltgemeinschaft ein Urteil sprechen durfte, wirft einen leichten Schatten auf das Prozedere. Zugleich war es aber kaum möglich, die UdSSR, die einen unbestreitbaren Anteil an der Bezwingung Deutschlands und der Befreiung der Konzentrationslager hatte und die meisten Kriegstoten beklagen musste, außen vor zu lassen.

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