Im Anschluss an die zuletzt genannte Prüfung des Vorliegens von Notwehr stellt sich natürlich die Frage, wie es jeweils zu behandeln ist, wenn eine der Voraussetzungen fehlt. In der Rechtsprechung sind diese Fälle mittlerweile im Großen und Ganzen geklärt, in der Literatur aber weiterhin weitgehend umstritten oder werden zumindest noch immer diskutiert.
Falsche Annahme eines Angriffs (Erlaubnistatbestandsirrtum)
Beispiel: A sieht, wie B mit einem Messer in der Hand auf ihn zugeht. Weil er glaubt, B wolle ihn damit verletzen, schlägt A ihm das Messer aus der Hand.
A hat sich hier eine Situation vorgestellt, bei der er wegen Notwehr gerechtfertigt gewesen wäre (Putativnotwehr). Tatsächlich lag diese aber nicht vor. Er irrte also über das Vorliegen eines Erlaubnistatbestands. Dies erinnert an einen Tatumstandsirrtum gemäß § 16 Abs. 1 Satz 1 StGB:
Wer bei Begehung der Tat einen Umstand nicht kennt, der zum gesetzlichen Tatbestand gehört, handelt nicht vorsätzlich.
Zwar hat er sich hier nicht bzgl. eines Merkmals des Tatbestands der Strafnorm geirrt, sondern bzgl. eines Merkmals des Tatbestands des Rechtfertigungsgrunds. Beides ist jedoch derart ähnlich, dass zumindest eine analoge Anwendung von § 16 Abs. 1 Satz 1 angemessen ist. Damit scheidet eine Vorsatzstrafbarkeit aus. Geschah der Irrtum jedoch fahrlässig, so ist eine Strafbarkeit wegen eines Fahrlässigkeitsdelikts weiter möglich.
Falsche Annahme einer Rechtfertigung (Erlaubnisirrtum)
Beispiel: In einem Linienbus weist B den A höflich darauf hin, dass er doch bitte seine dreckigen Schuhe nicht auf den Sitz legen soll. Daraufhin fühlt sich A beleidigt und schlägt „in Notwehr“ 15 Minuten lang mit den Fäusten auf B ein.
Hier irrt sich A nicht über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Notwehrrechts, sondern über dessen rechtliche Tragweite. Denn der Hinweis des B ist schon keine Beleidigung. Und auch eine echte Beleidigung würde eine solche Reaktion, die keine Abwehr eines Angriffs mehr darstellt, nicht rechtfertigen.
Es handelt sich damit um einen reinen Verbotsirrtum, der in § 17 StGB geregelt ist:
Fehlt dem Täter bei Begehung der Tat die Einsicht, Unrecht zu tun, so handelt er ohne Schuld, wenn er diesen Irrtum nicht vermeiden konnte. Konnte der Täter den Irrtum vermeiden, so kann die Strafe nach § 49 Abs. 1 gemildert werden.
Persönliche Vorstellungen über Recht und Unrecht ändern grundsätzlich nichts an der Strafbarkeit. Der Täter ist lediglich entschuldigt, wenn man ihm seinen Irrtum nicht vorwerfen kann. Dass A glaubte, ein höflicher Hinweis rechtfertige ein brutales Zusammenschlagen, ist ihm aber vorzuwerfen, da sich auch ein juristischer Laie denken kann, dass dem nicht so ist.
Er kann also wegen vorsätzlicher Körperverletzung bestraft werden, allerdings ist eine Strafmilderung durch das Gericht möglich (aber hier wohl eher unwahrscheinlich).
Fehlen des Verteidigungswillens
Beispiel: A und B sind Nachbarn und seit Jahren verfeindet. Als A den B in dessen Garten sieht nutzt er die Gelegenheit und wirft ihm einen Stein an den Kopf. Dabei wusste A nicht, dass B gerade dabei war, mit seinem Luftgewehr auf die Katze des A zu schießen.
Hätte A gewusst, dass B seine Katze töten will, hätte er diesen Angriff auf sein Eigentum durchaus mit einem Steinwurf abwehren dürfen. Aber hier war seine Motivation eine andere. Wie dies zu behandeln ist, ist sehr fraglich.
Nach herrschender Meinung gleicht die objektive Notwehrhandlung den objektiven Tatbestand der Strafnorm aus. Die zweifellos objektiv vorliegende Körperverletzung wird durch die objektiv vorliegende Abwehrhandlung kompensiert.
Allerdings hat A auch den subjektiven Tatbestand erfüllt, also eine vorsätzliche Körperverletzung begangen. Den subjektiven Tatbestand des Strafnorm kann wiederum nur der subjektive Tatbestand der Notwehr, also der Wille zur Verteidigung, ausgleichen. Einen solchen Verteidigungswillen hatte der A aber nicht.
Somit bleibt also eine subjektive Strafbarkeit erhalten: Er wollte den B verletzen, hat dies aber objektiv nicht getan. (Natürlich hat er ihn auch objektiv verletzt, da die Beule am Kopf tatsächlich vorhanden ist; sie ist nur rechtlich nicht relevant, da sie sich gerechtfertigt ist.) Eine solche Konstellation stellt im Strafrecht einen Versuch dar und ist daher genauso zu behandeln. Der A wird also so gestellt, als hätte er (ganz ohne irgendeine Form von Notwehr) auf den B geworfen, ihn aber verfehlt.
Anwendung eines anderen als des mildesten Mittels (intensiver Notwehrexzess)
Beispiel: B betritt mit einem Fuß das Grundstück des A. Obwohl es bereits reichen würde, den B mit einem leichten Schubser vom Grundstück zu entfernen, schlägt A ihm einen Vorschlaghammer auf den Kopf.
Hier liegt zwar eine Notwehrhandlung vor, da ein (geringer) Angriff gegeben ist. Gerechtfertigt wird unter mehreren gleich wirksamen Mitteln aber immer nur das mildeste, hier also das Schubsen. Wird ein schwereres Mittel verwendet, ist dieses überhaupt nicht von der Rechtfertigung durch Notwehr gedeckt.
Allerdings ist es möglich, dass die Notwehrüberschreitung trotzdem zur Straflosigkeit führt. § 33 sagt:
Überschreitet der Täter die Grenzen der Notwehr aus Verwirrung, Furcht oder Schrecken, so wird er nicht bestraft.
Nach herrschender Meinung handelt es sich bei diesem „intensiven Notwehrexzess“ um einen Entschuldigungsgrund. Die Tat bleibt also tatbestandsmäßig, vorsätzlich und rechtswidrig, sie wird wegen des Schockzustands der Notwehr aber als nicht schuldhaft angesehen.
Liegen weder Verwirrung, Furcht noch Schrecken vor, kann dem Abwehrenden allenfalls noch ein Erlaubnistatbestandsirrtum zugute kommen, wenn er der Meinung war, das angewandte Mittel sei das mildeste, das ihm zur Verfügung steht.
Notwehr trotz mangelnder Gegenwärtigkeit des Angriffs (extensiver Notwehrexzess)
Beispiel: B schlägt den A ins Gesicht, macht aber keinerlei Anstalten, ihn weiter zu verletzen. Einige Minuten später sieht A eine günstige Gelegenheit, endlich Gegenwehr zu zeigen und rammt ihm sein Taschenmesser in den Rücken.
Ein rechtswidriger Angriff auf A lag ursprünglich vor, er hätte den B also durchaus während dieses Angriffs mit seinem Messer abwehren dürfen. Im Moment der tatsächlichen Gegenwehr war der Angriff aber längst vorbei, also nicht mehr gegenwärtig.
Dieser extensive Notwehrexzess kann ebenfalls nicht durch Notwehr gerechtfertigt werden. Die Rechtsprechung stellt ihn aber nicht einmal dem intensiven Notwehrexzess gleich. Denn die „Überschreitung der Grenzen der Notwehr“ gemäß § 33 beziehe sich nur auf die Intensität der Notwehrhandlung, nicht auf ihre zeitlichen Grenzen. Wer extensiv Notwehr übt, wird also so bestraft als hätte es die Notwehrlage niemals gegeben, allenfalls bei der Strafzumessung innerhalb des (nicht gemilderten) Strafrahmens kann dies berücksichtigt werden. War er fälschlicherweise der Meinung, der Angriff dauere noch an, sind die Grundsätze der Putativnotwehr heranzuziehen – in unserem Beispiel wäre dies jedoch sicher nicht der Fall, da es keine Anhaltspunkte für einen noch immer gegenwärtigen Angriff gab.
Intensive Notwehrüberschreitung gegen tatsächlich nicht gegebenen Angriff (Putativnotwehrexzess)
Beispiel: A sieht, wie B mit einem Messer in der Hand auf ihn zugeht. Weil er glaubt, B wolle ihn damit verletzen, nimmt er seine Pistole und schießt ihm ohne Vorwarnung fünfmal in den Bauch. B wollte ihn gar nicht angreifen und es hätte ausgereicht, ihm das Messer aus der Hand zu schlagen.
Hier haben wir eine Kombination des ersten und des vorletzten obigen Falls: Es liegt keine Notwehrsituation vor und sogar, wenn eine vorlegen hätte, wäre diese Form der Gegenwehr nicht gerechtfertigt gewesen. Dabei handelt es sich um die wohl immer noch umstrittenste Frage des Notwehrrechts, zumal dies in der Praxis eher selten vorkommt und dementsprechend nicht allzuviele Urteile dazu vorliegen.
Klar ist, dass der Täter nicht besser gestellt werden kann als dies beim intensiven Notwehrexzess unter richtiger Einschätzung der Sachlage der Fall wäre. Die Rechtsprechung geht wohl überwiegend davon aus, dass ihm in der Putativnotwehr der Entschuldigungsgrund des § 33 StGB nicht zur Seite steht. Wer also von einer falschen Tatsachenbasis ausgeht, kann sich nicht zudem noch auf Verwirrung, Furcht oder Schrecken berufen. Ob dann im Endeffekt Vorsatz oder Fahrlässigkeit vorliegt, kommt hochgradig auf den Einzelfall an.