Die Notwehr ist ein seltsames Rechtsinstitut. Zum einen handelt es sich um einen sehr landläufigen Begriff, den wohl auch jeder juristische Laie schon einmal gehört hat und unter dem er sich auch etwas vorstellen kann. Zum anderen wird dieser Begriff meist in vielerlei Hinsicht völlig missverstanden, was seine Voraussetzungen, seine Bedeutung und seine Folgen angeht.
Nehmen wir zum Einstieg einen sehr plastischen Fall, bei dem weder die Rechtsprechung noch der normale Bürger irgendeine Schwierigkeit haben, Notwehr anzunehmen: A stürzt mit dem Messer auf B zu, um diesen zu verwunden oder gar zu töten. B kann den A im letzten Moment am Handgelenk festhalten und von sich wegschubsen. Dadurch erleidet A einige blaue Flecke.
„Einige blaue Flecke“ bedeuten eine Körperverletzung. B hat sich also prinzipiell einer Straftat schuldig gemacht. Es ist jedoch völlig klar, dass er nicht verurteilt werden kann, weil Notwehr gegeben ist. Aber wo baut man das ein?
Notwehr nimmt der Tat die Rechtswidrigkeit
Dafür muss man den heute ohne Abstriche anerkannten Aufbau eines vorsätzlichen Begehungsdelikts kennen. Juristen teilen die Prüfung einer Strafbarkeit in vier Teile ein, nämlich den objektiven Tatbestand, den subjektiven Tatbestand, die Rechtswidrigkeit und die Schuld. Im Einzelnen bedeutet das:
- subjektiver Tatbestand: Hat B den Körper des A verletzt (§ 223 Abs. 1 StGB)? Ja, das hat er.
- objektiver Tatbestand: Wusste und/oder wollte B, dass er den A verletzt? Ja, er hat es zumindest billigend in Kauf genommen.
- Rechtswidrigkeit: Hat B im Gegensatz zur Rechtsordnung gehandelt? Sind der subjektive und der objektive Tatbestand erfüllt, liegt in der Regel auch Rechtswidrigkeit vor. Hier ist jedoch der Rechtfertigungsgrund der Notwehr gegeben.
- Schuld: Da eine Strafbarkeit mangels Rechtswidrigkeit ausscheidet, stellt sich die Frage nach der Schuld nicht mehr.
Hieran sieht man, wie die Notwehr im deutschen Strafrecht funktioniert: Eine Körperverletzung bleibt eine Körperverletzung, allerdings eine ausnahmsweise rechtmäßige Körperverletzung. Und um rechtmäßige Handlungen kümmert sich das Strafgesetzbuch nicht.
Abwehrrecht gegen alle Angriffe ohne Verhältnismäßigkeitsprüfung
Aber was genau ist Notwehr nun? § 32 Abs. 2 StGB sagt:
Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.
Dies klingt zunächst noch ganz naheliegend – man wird angegriffen und wehrt sich dagegen. Ganz eminent wichtig für das Verständnis sind aber die beiden Grundprinzipien des (deutschen) Notwehrrechts:
Erstens ist jeder Angriff auf ein geschütztes Rechtsgut notwehrfähig. Eine landläufige Meinung glaubt, die Notwehr sei nur ein Mittel gegen körperliche Angriffe. Dem ist rechtlich gesehen aber keineswegs so. Das deutsche Strafrecht hat diesem Ansatz, den es in anderen Staaten durchaus gibt, eine klare Absage erteilt. Man kann sich insbesondere gegen Angriffe auf das Leben, auf die Gesundheit, auf das Eigentum, auf die Freiheit, auf die sexuelle Selbstbestimmung und sogar auf die Ehre verteidigen. Daneben können aber auch Belästigungen über einer gewissen Erheblichkeitsschwelle als Angriffe gelten. Ob der Angreifer vorsätzlich oder schuldhaft handelt, ist grundsätzlich nicht erheblich. Auch nicht, ob er damit überhaupt ein Strafgesetz verletzt.
Zweitens gibt es keine Verhältnismäßigkeitsprüfung. Es wird nicht ins Verhältnis gesetzt, welche Rechtsgüter betroffen sind. Das bedeutet also theoretisch, dass man einen Angriff auf seine Ehre mit tödlicher Gewalt abwehren darf.
Von diesen beiden Grundsätzen muss man zunächst ausgehen, um die prinzipielle Weite des Notwehrrechts zu verstehen. Erst dann kann man die Einschränkungen dieses Rechts ins Blickfeld nehmen.
Erforderlichkeit und Gebotenheit
Zunächst muss die Notwehrhandlung auch „erforderlich“ sein. Eine Verteidigung ist immer erforderlich, da ja ein Angriff vorliegt. Dies bedeutet aber auch noch, dass genau diese Handlung erforderlich sein muss. Hieraus folgert man, dass immer nur das mildeste erfolgversprechende Notwehrmittel zulässig ist. Die Notwehr gibt keinen Freibrief, den Angreifer zu verletzen; der Eingriff in seine Rechte muss so zurückhaltend wie möglich erfolgen. Steht aber eine schonendere Verteidigung nicht zur Verfügung, so darf eben auch eine relativ milde, absolut gesehen aber sehr einschneidende Abwehr angewandt werden.
Beispiele: C vergewaltigt die D. Durch eine leichte Ohrfeige könnte D den C abwehren. Tatsächlich versetzt sie ihm aber einen wuchtigen Faustschlag, wodurch er einen Nasenbeinbruch erleidet. Der Faustschlag ist nicht durch Notwehr gerechtfertigt, da die Ohrfeige ein milderes Mittel gewesen wäre. / E bestiehlt F. Die absolut einzige Möglichkeit, den Diebstahl zu verhindern, ist, dem E einen in der Nähe liegenden Schraubenzieher in den Kopf zu rammen. Dies ist gerechtfertigt, da es sich um das mildeste (da einzige) Mittel handelt.
Eine ganz andere Frage ist freilich, ob das sich wehrende Opfer immer erkennt, welche Handlung nun die mildeste ist.
Und dann gibt es noch das höchst problematische Merkmal der „Gebotenheit“. Denn die Notwehr muss ja, siehe obige Definition, auch geboten sein. Über dieses Merkmal werden, auch wenn man es ihm nicht ansieht, viele Fälle ausgeschieden, in denen die Notwehr irgendwie unangemessen erscheint. Zum einen wird hier eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durch die Hintertür eingeführt, die aber nur bei einem ganz krassen Missverhältnis greifen darf, um die gesetzliche Wertung nicht auf den Kopf zu stellen. Auch Angriffe durch Kinder, schuldlos Handelnde und Verwandte werden in diesem Rahmen von einer allzu weitgehenden Notwehr ausgenommen.
Prüfungsschema
Das vollständige Prüfungsprogramm der Notwehr sieht in juristischer Hinsicht dann wie folgt aus:
- Notwehrlage
- Angriff auf ein Rechtsgut
- gegenwärtig
- rechtswidrig
- Notwehrhandlung
- Verteidigungshandlung
- Erforderlichkeit
- Eignung des Mittels
- mildestes Mittel
- Gebotenheit
- Subjektiv: Kenntnis der Notwehrlage
Ein Gedanke zu „Notwehr (I) – Grundlagen“
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