Der Minderjährige im Straßenverkehr

Man nehme einen Fall, wie er tagtäglich im Straßenverkehr vorkommt: Ein Achtjähriger fährt mit dem Fahrrad auf der Straße, passt nicht auf und beschädigt ein Auto. Das Kind trägt die alleinige Schuld, der Autofahrer konnte unter keinen Umständen verhindern, dass der Unfall passiert. Niemand wurde verletzt, aber am Auto ist ein Schaden von einigen tausend Euro entstanden. Wer muss diesen tragen?

Falsch wäre es, sich hier auf die verkehrsrechtliche Schuldfrage zu stürzen. Die ist nämlich gar nicht der Punkt, da wir angenommen haben, dass das Kind alleine schuld ist.

Die tatsächliche Situation ist diejenige, dass der Eigentümer des Pkw erst einmal mit einem beschädigten Auto dasteht. Das ist grundsätzlich sein Problem. Er kann nur mit den Mitteln des Rechts versuchen, dieses Problem auf jemand anderen abzuwälzen. Hierfür braucht er eine sogenannte Anspruchsgrundlage, also es muss eine rechtliche Bestimmung geben, die für genau solche Fälle anordnet, dass jemand anderes dem Eigentümer des Autos seinen Schaden ersetzt.

§ 823 Abs. 1 BGB bietet sich hier an:

Wer vorsätzlich oder fahrlässig (…) das Eigentum (…) eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

Das ist hier offensichtlich der Fall:

  • fahrlässig: Ja, das Kind hat nicht aufgepasst.
  • Eigentum: Das Auto stand im Eigentum des Geschädigten.
  • widerrechtlich: Es ist grundsätzlich verboten, fremdes Eigentum zu beschädigen.
  • verletzt: Die Beschädigung ist eine Eigentumsverletzung.

Damit ist der sogenannte Tatbestand erfüllt. Wer all das getan hat, ist, so die Vorschrift weiter, zum Schadenersatz verpflichtet. Das ist die sogenannte Rechtsfolge. Grundsätzlich könnte der Eigner des Autos also nun die Reparaturrechnung dem fahrradfahrenden Kind vorbeibringen.

Damit genau das nicht passiert, gibt es freilich gewisse Einschränkungen zum Schutz Minderjähriger. § 828 Abs. 1 BGB ordnet an:

Wer nicht das siebente Lebensjahr vollendet hat, ist für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich.

Das ist hier nicht der Fall, da das Kind ja schon acht war. Aber es geht noch weiter (§ 828 Abs. 2):

Wer das siebente, aber nicht das zehnte Lebensjahr vollendet hat, ist für den Schaden, den er bei einem Unfall mit einem Kraftfahrzeug (…) einem anderen zufügt, nicht verantwortlich. Dies gilt nicht, wenn er die Verletzung vorsätzlich herbeigeführt hat.

Die Vorschrift ist relativ neu, sie wurde erst vor gut zehn Jahren ins BGB eingefügt. Damit soll einer angeblichen Erkenntnis Rechnung getragen werden, wonach Kinder unter zehn noch keine derartige Wahrnehmung besitzen, die sie im Straßenverkehr zu verantwortlichen Verkehrsteilnehmern macht.

Was bedeutet das nun für unseren Autofahrer? Seine Anspruchsgrundlage erlischt. Er kann keinen Schadenersatzanspruch vom Kind verlangen, da das Gesetz dem einen Riegel vorschiebt.

Nun ist die nächste Möglichkeit natürlich, sich an die Volksweisheit „Eltern haften für ihre Kinder“ zu halten. Nur leider stimmt diese nicht. Eltern haften nicht für Schäden, die ihre Kinder verursachen. Also wird das auch nichts.

Eltern haften nur für ihr eigenes Verschulden, nämlich dann, wenn sie die Aufsichtspflicht verletzt haben. § 832 Abs. 1 BGB sagt:

Wer kraft Gesetzes zur Führung der Aufsicht über eine Person verpflichtet ist, die wegen Minderjährigkeit (…) der Beaufsichtigung bedarf, ist zum Ersatz des Schadens verpflichtet, den diese Person einem Dritten widerrechtlich zufügt. Die Ersatzpflicht tritt nicht ein, wenn er seiner Aufsichtspflicht genügt (…)

Nochmal, weil es ganz wichtig für das Verständnis der Vorschrift ist: Die Eltern haften nicht „ersatzweise“, weil bei ihrem Kind nichts zu holen ist. Sie haften dafür, dass sie ihr Kind nicht ausreichend überwacht haben, sodass das alleine durch die Gegend radlnde Kind einen Schaden angerichtet hat. Aber sie haften eben auch nur dann, wenn die ihre Aufsichtspflicht verletzt haben.

Und welche Pflichten die Aufsichtspflicht genau fordert, ist nicht so einfach zu bestimmen. Es kommt im Wesentlichen auf das Alter des Kindes an und darauf, welche Erfahrungen die Eltern mit dem Wesen ihres Kinder bisher gemacht haben. Je älter das Kind ist, desto mehr kann man ihm zutrauen. Und je verantwortungsbewusster das Kind bisher war, desto weniger muss man es überwachen.

Dass man einen Achtjährigen auch mal unbeaufsichtigt spielen lassen kann, wird man im Regelfall wohl annehmen können. So hat das OLG Oldenburg (Urteil vom 4. November 2004, Az. 1 U 73/04) zum Beispiel ausgeführt:

Es entspricht daher gesicherter Rechtsprechung, dass jedenfalls ein (fast) 8-jähriges Kind, das ein Fahrrad hinreichend sicher zu fahren vermag, über Verkehrsregeln eindringlich unterrichtet worden ist und sich über eine gewisse Zeit im Verkehr bewährt hat, auch ohne eine Überwachung durch die aufsichtspflichtigen Eltern mit dem Fahrrad am Straßenverkehr teilnehmen kann, etwa um zur Schule zu fahren oder einen sonst bekannten, geläufigen Weg zurückzulegen

Ähnlich das LG München II (Urteil vom 8. November 2011, Az. 8 O 2828/11):

Auch die Zeugen L haben – aus eigener Kenntnis – bestätigt, daß [das knapp fünf Jahre alte Kind] M gut Radfahren konnte, altersgerecht verkehrssicher war und, wie der Zeuge L nach den Erfahrungen von längeren Touren mit seinem Sohn N und mit M wußte, nicht zu Ermüdungen oder Unkonzentriertheiten beim Radfahren neigte. Unter diesen Umständen (…) haben die Beklagten ihre Aufsichtspflicht nicht verletzt, indem sie M gestatteten, unkontrolliert und allein zu seinem Freund N zu fahren. Es gehörte vielmehr zu der ihm altersgerecht einzuräumenden Selbständigkeit, diese ausschließlich durch ein Wohngebiet führende Fahrt unbeobachtet und allein zu bewältigen. Dies hatte er schon häufig ohne Schaden geschafft, so daß auch am Unfalltag kein Grund bestand, einer auf der Kindlichkeit beruhenden Unbesonnenheit durch gezielte Beaufsichtigung im Interesse des Rechtsgüterschutzes Dritter vorzubeugen.

Wenn in unserem Fall nicht besondere Umstände vorliegen, dürfte auch diese Eltern keine Schuld treffen.

Was bedeutet das nun für unseren Autofahrer? Hätte er einfach besser aufpassen müssen, damit er nicht auf seinem Schaden sitzenbleibt? Nein. Er konnte ja gerade nichts dafür, dass es zum Unfall gekommen ist. Er hat einfach Pech gehabt. Er hat einen Schaden und es gibt niemanden, von dem er Ersatz verlangen kann.

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