Die Wahrheit vor Gericht – Teil I

Bevor ein Gericht das Recht auf einen Sachverhalt anwenden kann, muss es erst einmal feststellen, von welchem Sachverhalt es ausgehen muss, was also tatsächlich passiert ist. Dies geschieht in der Regel im gerichtlichen Verfahren, das man insoweit auch als Erkenntnisverfahren bezeichnet.

Um den Sachverhalt nicht völlig aus dem luftleeren Raum schöpfen zu müssen, verlässt sich das Gericht auf Beweismittel. Diese Beweismittel sind in den meisten Prozessordnungen genau aufgezählt:

  • Sachverständige
  • Augenschein
  • Parteivernehmung/Einlassung des Angeklagten
  • Urkunden
  • Zeugen

Recht viel mehr an Erkenntnisquellen gibt es auch einfach nicht.

Ziel des Erkenntnisverfahrens ist es also, die Wahrheit herauszufinden. Das sagt z.B. § 244 Abs. 2 StPO und einige andere Vorschriften nehmen darauf Bezug, was der Richter zur „Erforschung der Wahrheit“ alles tun darf oder muss. In der Zivilprozessordnung findet man dieses Verhandlungsziel nirgends so deutlich niedergeschrieben, aber auch hier sind bspw. die Parteien (§ 138 Abs. 1 ZPO) und die Zeugen (§ 395 Abs. 1) an die Wahrheit gebunden.

Dass auch wirklich die Wahrheit herausgefunden werden kann, wird durchaus bezweifelt. Es gibt durchaus Stimmen, die nicht von Wahrheitsfindung, sondern vielmehr von richterlicher Überzeugungsbildung sprechen.

„Wahrheit“ hat einen sehr objektiven Klang. Entweder etwas ist wahr oder nicht. Tatsächlich hat aber jeder seine eigene Wahrheit.

Am frappierendsten ist das bei Verkehrsunfällen. Als Anwalt schildert man hier – häufig nur gegenüber der Versicherung, da die Sache gar nicht vor Gericht geht – das, was der eigene Mandant einem gesagt hat. Man legt umfänglich dar, dass der Mandant vorbildlich gefahren ist und keinerlei Schuld am Unfall trägt. Man weiß aber oft, dass man sich die Ausführungen zur Alleinschuld des Gegners im Wesentlichen sparen könnte, da die Sache sowieso 50:50 ausgeht. Denn auch der Gegner lässt durch seinen Anwalt das gleiche schreiben. Niemand trägt selbst eine Schuld, jeder hat seine eigene Wahrheit, in der er perfekt gefahren ist.

Aber auch in anderen Rechtsbereichen ist es mitunter extrem schwer bis unmöglich, „die Wahrheit“ zu ergründen. In einem Fall (wie immer sind Detailangaben ggf. leicht verfremdet, um keine Rückschlüsse zum konkreten Verfahren zuzulassen) war mein Mandant wegen Raubes angeklagt. Er hatte – was er unumwunden zugab – einer Frau die Handtasche entrissen. Die Geschädigte war äußerst kulant, verlangte trotz Nachfrage meinerseits kein Schmerzensgeld und sagt insgesamt sehr sachlich aus, ohne die Tat irgendwie zu dramatisieren. Sie wollte den Angeklagten also sicher nicht über Gebühr belasten.

Schließlich wurde sie aber gefragt, wie lange der Raub gedauert hatte, wie lange der Täter also brauchte, um die Handtasche an sich zu bringen. Ihre Antwort war: „Ungefähr zehn Minuten.“ Bei dieser Aussage konnte man förmlich spüren, wie der gesamte Gerichtssaal sie ungläubig anschaute. Das widerspricht wohl jeder Lebenserfahrung, dass Räuber und Beraubte zehn Minuten an einer Handtasche zerren, bis sie endlich – übrigens unbeschädigt – den Besitzer wechselt.

Da es für das Urteil nicht maßgeblich darauf ankam, wurden dazu keine näheren Fragen mehr gestellt. Aber es war völlig klar, dass das so nicht stimmen kann. Nun bedeutet das keineswegs, dass die Frau gelogen hat. In ihrer Erinnerung hat dieser Vorgang mit Sicherheit so lange gedauert, weil man die Bilder eines traumatischen Ereignisses wohl viel intensiver und detaillierter wahrnimmt. Und etwas, zu dem man viele Informationen „gespeichert“ hat, muss dann einfach von einer gewissen Dauer gewesen sein.

Das war die Wahrheit dieser Frau, auch wenn man natürlich die Zeit sehr genau in Minuten und Sekunden messen kann und dieses objektive Ergebnis mit Sicherheit weniger als zehn Minuten beträgt.

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