Die Wahrheit vor Gericht – Teil II

Teil I dieses Beitrags finden Sie hier.

Es gibt aber auch Fälle, in denen Menschen die Wahrheit wohl kennen, sie aber nicht akzeptieren wollen, in denen sie eine eigene Wahrheit aufbauen, mit der sie besser leben können.

Ein Mandant (Hinweis auf Detailverfremdungen wie oben) befindet sich seit Jahren in verschiedenen Rechtsstreitigkeiten mit vielerlei Personen. Ein Schlüsselerlebnis für ihn war, dass ihn sein früherer Geschäftspartner wohl betrogen hat. Es gibt durchaus starke Indizien, dass dies tatsächlich so war, der schlussendliche Beweis konnte aber nie erbracht werden.

Nun wurde dieser Mandant wegen einer Straftat verurteilt, die in keiner Weise mit seinem Geschäftspartner zusammenhing. Da in seiner Anschauung aber alles mit allem zusammenhängt, macht das für ihn keinen Unterschied. Dieses Urteil sei aber, wie er ganz freudig betont, eigentlich ein Sieg für ihn. Die Geldstrafe sei für ihn nicht so schlimm, die Urteilsgründe sind das Entscheidende. Denn dort stünde ja, dass er damals betrofen worden sei – endlich, nach so vielen Jahren hat die Justiz ihm doch noch Recht gegeben!

Nur steht das da halt leider nicht. Im Urteil stehen die persönlichen Verhältnisse des Angeklagten, sozusagen seine Lebensgeschichte. Diese beruht fast immer maßgeblich auf den Aussagen des Angeklagten selbst. Und dort steht eben zum beruflichen Werdegang: „Von … bis … war der Angeklagte selbstständig. Er betrieb gemeinsamen mit einem Geschäftspartner einen …-Großhandel in …. Das Unternehmen musste schließlich Insolvenz anmelden, was der Angeklagte auf unlautere Machenschaften seines Geschäftspartners zurückführt.“

Nun hat das Gericht natürlich keinerlei Aussage über die Insolvenz des Unternehmens getroffen. Es hat lediglich wiedergegeben, was der Angeklagte selbst gesagt hat. Zu den Umständen der Insolvenz, die für das vorliegende Verfahren ohne Bedeutung war, hat es natürlich keinen Beweis erhoben und keine Tatsachen festgestellt.

Gehen wir nun wieder zurück zum Prozess und zur Position des Richters. Dieser muss also die Wahrheit ergründen. Er war nicht dabei, als das passiert ist, um das es nun geht. Er hat den Unfall nicht gesehen, er hat das Entreißen der Handtasche nicht miterlebt und er hat das Unternehmen nicht beobachtet, als es bergab ging. Und trotzdem muss er – jedenfalls, wenn es darauf ankommt – herausfinden, was nun die Wahrheit ist.

Diese übermenschliche Aufgabe muss er aber nicht bis zum Letzten schaffen. Wie oben beschrieben, reduziert man die Wahrheitssuche meist auf eine Überzeugungsbildung. Wann die Tatsachen für die Bildung einer Überzeugung ausreichen dürfen, wird folgendermaßen umschrieben: Die Beweise müssen eine Gewissheit erbringen, die den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne diese aber völlig auszuschließen.

Das ist eine schöne Formel, die natürlich mit Leben erfüllt werden muss. Und gerade hier hapert es wieder. Nun gehört es im Leben, gerade auch juristischen oder allgemein im wissenschaftlichen Bereich dazu, zu zweifeln. An sich selbst, auch an seiner eigenen Wahrnehmung, und auch an der eigenen Fähigkeit, die Wahrheit anhand von dargebrachten Tatsachen zu ergründen. Die Beweise müssen also immerhin eine Schlagkraft besitzen, aufgrund der der Richter nun sagen kann „Ja, ich weiß jetzt, was höchstwahrscheinlich passiert ist“.

Was passiert aber nun, wenn sich diese Sicherheit nicht erbringen lässt, weder in die eine noch in die andere Richtung? Lässt sich eine Tatsache nicht aufklären, bezeichnet der Jurist das als „non liquet“ – es ist nicht klar. Aber auch in solchen Situationen kann der Richter nicht einfach sagen „Was weiß ich, was da passiert ist, keine Ahnung, also kann ich auch nicht entscheiden“. Das Gericht muss immer zu einer Entscheidung kommen. Darauf haben die Beteiligten ein Recht.

In dem Fall kommt es zu einer sogenannten Beweislastentscheidung: Das Gericht entscheidet gegen die Partei, die die Beweislast trägt, die also den Beweis hätte erbringen müssen. Im Strafverfahren ist das der Staat (darum „im Zweifel für den Angeklagten“), im Zivilverfahren meist der Kläger.

Um die Schwierigkeiten, die manche Beweise mit sich bringen, etwas abzufangen, gibt es verschiedene Formen der Beweislastumkehr, der Beweiserleichterung oder des Anscheinsbeweises. Dort muss man dann – je nach Konstellation – keinen vollen Beweis für alle Tatsachen mehr erbringen, sondern bspw. nur noch bestimmte Dinge beweisen oder auch nur eine erhöhte Wahrscheinlichkeit darlegen.

Diese Techniken zeigen wiederum eines: Von der strengen Wahrheitssuche hat man sich damit sehr weit entfernt.

Aber es wäre auch frappierend, wenn in einer Welt, in der die Wahrheit häufig unsicher ist, ausgerechnet die Juristerei wüsste, wie man die Wahrheit zweifelsfrei erkennt.

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