Herr Richter, unterschreiben Sie!

Das Urteil ist von den Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben.

Das sagt § 315 Abs. 1 Satz 1 ZPO. Und dennoch wird kaum ein Beteiligter an einem Rechtsstreit jemals die handschriftliche Unterzeichnung des Richters gesehen haben. Dabei verlangt § 317 Abs. 1 Satz 1 ZPO doch:

Die Urteile werden den Parteien (…) zugestellt.

Wenn das Urteil vom Richter unterschrieben ist und das Urteil zugestellt wird, dann muss doch auf dem, was zugestellt wird, die Unterschrift des Richters sein.

Das Problem dabei ist nur, dass das Gesetz mit dem einheitlichen Begriffe „Urteil“ ganz verschiedene Dinge meint, die sich erst aus dem Zusammenhang ergeben. Urteil kann nämlich sein

  • der Urteilsspruch, also die gedankliche Entscheidung über Verurteilung oder Klageabweisung,
  • die Urteilsurschrift, also das Originaldokument mit der gesamten Entscheidung über den Fall, und eben auch
  • das zugestellte Urteil, also die Ausfertigung der Urschrift, die den Parteien in die Hand gegeben wird.

law-1063249_1920Wenn § 315 also anordnet, dass das Urteil zu unterschreiben ist, dann ist damit naheliegenderweise die Urschrift gemeint. Da es die Urschrift nur einmal gibt, kann diese nicht mit „den Urteilen“ (Plural) identisch sein, die an die Parteien (von denen es ja mindestens zwei gibt) zugestellt werden. Zugestellt werden – abgesehen von den Fällen, in denen seit 1. Juli 2014 sogar eine einfache Abschrift reicht – tatsächlich die Ausfertigungen.

Auf diesen wiederum ist es so, dass die Unterschrift des Richters nur durch eine maschinenschriftliche Angabe seines Namens bezeugt wird. Der Richter unterschreibt also weder persönlich die Ausfertigung, noch wird die Urschrift vervielfältigt, sodass zumindest die kopierte Unterschrift zu sehen ist. Der Grund dafür liegt wohl im Historischen, als es keine Kopiergeräte gab, sondern die Ausfertigung tatsächlich ein abgeschriebenes oder per Schreibmaschine durchgeschriebenes Dokument war. Weil es aber für die Beweiskraft und erst recht für die Gültigkeit der Ausfertigung unerheblich ist, ob der Richter seinen häufig kaum leserlichen Namenszug darauf anbringt, hat sich an dieser alten Sitte bis heute nichts geändert.

Wichtig ist die Tatsache, dass die Unterschrift bezeugt wird, aber trotzdem. Fehlt der Name des Richters oder wird er in einer Weise wiedergegeben, die nicht hinreichend deutlich macht, dass der Richter (und bei einem Kollegialgericht natürlich jeder einzelne Richter) unterschrieben hat, kann dies gravierende Auswirkungen haben.

Eine der prägnantesten Entscheidungen hierzu wurde 1924 vom Reichsgericht gefällt. Im Urteil IV 159/25 führt es Folgendes aus:

Mit der Unterzeichnung des Urteils durch die mitwirkenden Richter soll die Übereinstimmung der Formel mit dem verkündeten Urteilsspruch durch das Gericht bezeigt werden. Deshalb stellt das Fehlen einer Unterschrift oder die Unterschrift eines Richters, der bei der Entscheidung nicht mitgewirkt hat, einen wesentlichen Mangel des Urteils dar. Bei der Ausfertigung des Urteils genügt infolgedessen nicht der Vermerk “gez. Unterschriften”, sondern es müssen die Namen angegeben sein. In der reichsgerichtlichen Rechtsprechung ist denn auch die Zustellung eines Urteils nicht für wirksam erachtet worden, in dessen Ausfertigung die Unterschriften sich nicht mit den Namen der im Eingang aufgeführten Richter decken. Dasselbe muß gelten, wenn in der zum Zwecke der Zustellung übergebenen beglaubigten Abschrift Unterschriften der Richter ausgelassen sind, weil dann jede Unterlage dafür fehlt, daß das Urteil ordnungsgemäß unterschrieben ist.

Hat z.B. eine Landgerichtskammer mit drei Richtern ein Urteil gefällt, müssen deren Unterschriften auf der Ausfertigung durch die genauen Familiennamen, also bspw. „Müller, Meier, Schmidt“ wiedergegeben werden. Steht dort nur „Unterschriften“, dann ist für den Empfänger nicht klar, wer genau unterschrieben hat. Mehr noch, ein derart formelhafter Text würde dazu führen, dass der Beweiswert rapide sinkt, weil der Urkundsbeamte ihn eben standardmäßig auf die Ausfertigung setzt und vielleicht nicht einmal prüft, ob die Unterschriften im Original vorhanden sind. Schreibt er hingegen die Namen hin, besteht zumindest eine gewisse Gewähr dafür, dass er sich persönlich angesehen hat, wer da denn unterzeichnet hat.

Ob nur die Namen hingeschrieben werden oder auch noch der Zusatz „gez.“ für „gezeichnet“, ist dagegen unerheblich. Schließlich ergibt sich aus dem Zusammenhang, dass dies die Unterschriften sind. Anders kann es dagegen sein, wenn die Namen in Klammern angegeben sind. Klammern können zwar bedeuten, dass etwas repräsentiert wird, was sich anders nicht wiedergeben lässt; wenn man zum Beispiel „(Dienstsiegel)“ schreibt, ist klar, dass man damit meint, dass eigentlich an dieser Stelle ein Dienstsiegel stehen sollte. Es kann aber unter Umständen auch eine Streichung, einen Vorbehalt oder eine Auslassung bedeuten. Daher sollten Klammern grundsätzlich weggelassen werden, wie der Bundesgerichtshof „nebenbei“ in seiner sehr instruktiven Entscheidung (Az. XII ZB 132/09) dargestellt hat:

Eine Ausfertigung ist eine in gesetzlich bestimmter Form gefertigte Abschrift, die dem Zweck dient, die bei den Akten verbleibende Urschrift nach außen zu vertreten. Durch die Ausfertigung soll dem Zustellungsempfänger die Gewähr der Übereinstimmung mit der bei den Akten verbleibenden Urteilsurschrift geboten werden.

(…)

Allerdings mangelt es nicht schon deshalb an einer wirksamen Zustellung des Urteils, weil – wie die Rechtsbeschwerde meint – die Unterschrift der mitwirkenden Richterin in der zugestellten beglaubigten Abschrift nicht ordnungsgemäß wiedergegeben sei. Das ist nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs der Fall, wenn die Unterschrift in Klammern gesetzt und kein weiterer Hinweis (etwa “gez.”) hinzugefügt ist, dass der Richter das Urteil unterschrieben hat. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs reicht es allerdings aus, wenn in der Ausfertigung die Namen der beteiligten Richter in Maschinenschrift ohne Klammern angegeben sind. Dann ist im Allgemeinen ein weiterer auf die Unterzeichnung hinweisender Zusatz nicht erforderlich.

Nun meinen manche findige Tippgeber im Internet, dass man bei einem (seltenen) Urteil, bei dem diese Vorgaben nicht beachtet sind, als Verurteilter besonderes Glück habe. Mehr noch, viele akzeptieren auch die mehr als ein Jahrhundert alte Rechtsprechung von BGH, RG und anderen Gerichten nicht und meinen, die übliche Praxis der Ausfertigung sei gesetzeswidrig. Daher könne man solche Urteile (oder eben sogar alle Urteile) getrost ignorieren.

Dabei sind nicht ordnungsgemäß ausgefertigte Urteile keineswegs nichtig. (Es ist sogar höchst umstritten, ob Urteile überhaupt nichtig sein können; sogar, wenn man davon ausgeht, ist das bloße Fehlen einer Unterschrift auf der Ausfertigung ganz sicher kein Nichtigkeitsgrund.) Solche Urteile sind allenfalls anfechtbar. Für diese Frage hilft einem der Formmangel zumindest etwas weiter, da die Rechtsmittelfrist erst mit der ordnungsgemäßen Zustellung beginnt und diese ja gerade nicht erfolgt ist.

Aber man muss die einschlägigen Vorschriften auch genau und vollständig lesen.

So sagt § 517 ZPO:

Die Berufungsfrist beträgt einen Monat; sie ist eine Notfrist und beginnt mit der Zustellung des in vollständiger Form abgefassten Urteils, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Monaten nach der Verkündung.

Also auch, wenn das Urteil nicht korrekt zugestellt wird, beginnt die Frist spätestens fünf Monate nach der Verkündung. Die Berufungfrist beträgt somit sechs Monate ab Verkündung statt nur einen Monat ab Zustellung. Aber nach einem halben Jahr wird auch ein solches Urteil rechtskräftig.

Noch weniger Einfluss hat diese Frage im Strafprozessrecht. Nach § 314 Abs. 1 StPO kommt es nicht einmal auf eine Zustellung an. Vielmehr muss das Rechtsmittel innerhalb der sehr kurzen einwöchigen Frist nach Verkündung eingelegt werden:

Die Berufung muß bei dem Gericht des ersten Rechtszuges binnen einer Woche nach Verkündung des Urteils zu Protokoll der Geschäftsstelle oder schriftlich eingelegt werden.

Zu diesem Zeitpunkt existiert normalerweise noch gar kein schriftliches Urteil, sodass sich Formfragen ohnehin nicht stellen.

Für die Revision sind die Vorschriften in § 341 Abs. 1 Satz 1 StPO bzw. §§ 548, 544 Abs. 1 Satz 2 ZPO identisch mit denen zur Berufung, also gibt es auch hier keine unendliche Einspruchsmöglichkeit.

Wer mit einer gerichtlichen Entscheidung unzufrieden ist, muss also den hierfür gegebenen Rechtsweg einschlagen und die nächste Instanz bemühen. Sich auf Formvorschriften zu berufen, die zum einen falsch verstanden wurden, die einem aber zum anderen auch gar nicht weiterhelfen würden, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das gilt übrigens auch für das magische Rechtsmittel der „Zurückweisung“.

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