Bei den nun anstehenden Bundestagswahlen gilt, wie (bis auf leichte Modifikationen bei den Wahlen 1949 und 1990) immer in der Geschichte der Bundesrepublik, die Fünfprozenthürde. Diese besagt, dass nur die Parteien Sitze zugeteilt bekommen, die auch mindestens fünf Prozent der Zweitstimmen bundesweit erhalten haben.
Fünfprozentklausel von Karlsruhe akzeptiert
So umstritten diese Regelung ist, so sehr wurde sie doch stets vom Bundesverfassungsgericht verteidigt. Die Ungleichbehandlung kleinerer Parteien sei gerechtfertigt, um eine Zersplitterung des Parlaments zu verhindern. Wie so oft in der bundesdeutschen Verfassungstradition wird mahnend auf das Beispiel der Weimarer Republik verwiesen. Nur die größeren Parteien sollen im Bundestag vertreten sein, damit es leichter wird, durch Zusammenarbeit weniger Fraktionen Regierungskoalitionen und Gesetzesmehrheiten zu finden.
Aber was passiert nun, wenn es auf einmal keine größeren Parteien mehr gibt? Dieser Artikel soll aufzeigen, was passiert, wenn alle Parteien an der Fünfprozenthürde scheitern.
Direktmandate nicht betroffen
Zunächst einmal wird die Hälfte der Sitze bekanntlich über die Erststimme vergeben. Mit dieser wird in jedem der 299 Wahlkreise ein Direktkandidat – meist eine strahlende Persönlichkeit – als Vertreter dieses Wahlkreises gewählt. Gewählt ist hier, wer die meisten Stimmen erhält (§ 5 Satz 2 Bundeswahlgesetz – BWahlG). Die Zweitstimmen und die Fünfprozenthürde spielen hier also keine Rolle. Auch ein Kandidat, dessen Partei keine 5 % der Zweitstimmen bekommt, kann sein Mandat antreten – im Gegensatz bspw. zum bayerischen Landtagswahlrecht.
Damit bestünde der Bundestag also schon einmal aus 299 direkt gewählten Abgeordneten, denen niemand mehr ihren Sitz nehmen kann. Bis hierhin hätten wir ein reines relatives Mehrheitswahlrecht wie bspw. in den USA oder in Großbritannien.
Sitzverteilung über Listenmandate
Die restlichen 299 Sitze dienen dazu, ein reines Verhältniswahlrecht herzustellen. Darum werden gemäß § 6 Abs. 2 Satz 1 BWahlG auch nicht nur diese 299 Sitze nach dem Verhältnis der Zweitstimmen vergeben, sondern alle 598. (Die Zahl 598 ist nicht in Stein gemeißelt, wie wir gleich sehen werden.)
Bei der verhältnismäßigen Aufteilung der 598 Sitze werden aber nur die Parteien berücksichtigt, die die Fünfprozenthürde übersprungen haben (§ 6 Abs. 3 BWahlG). Wenn also bspw. die SPD 20 % der Stimmen erhalten hat, aber die Parteien unter der Fünfprozenthürde zusammen 10 % haben, wird die SPD so behandelt als hätte sie tatsächlich 22,22 % bekommen. Sie bekommt dann 22,22 % der 598 Sitze – in der Realität ist das Prozedere durch die Landeslisten noch etwas komplexer, aber für dieses Rechenbeispiel ist das egal.
Für diese 20 bzw. 22 % würde die SPD nun 132 Sitze erhalten. Wenn sie zugleich 120 Direktmandate hätte, müssten ihr also 12 weitere Sitze über die Landeslisten zugeteilt werden, um die Zahl von 132 zu erreichen. Wenn sie aber 145 Direktmandate hätte, würden ihr die 13 „überschüssigen“ Sitze als sogenannte Überhangmandate verbleiben.
Überhang- und Ausgleichsmandate
Seit den Bundesverfassungsgerichtsurteilen von 2008 und 2012 zum sog. negativen Stimmgewicht werden diese Überhangmandate aber zugunsten der anderen Parteien ausgeglichen. Und das funktioniert so:
Bisher gingen wir von 598 Gesamtsitzen aus. Diese reichen aber nicht, um der SPD mit 20 bzw. 22 % der Stimmen 145 Sitze zu sichern. Also erhöhen wir die Zahl der Sitze langsam. Und zwar so lange, bis auf die SPD aufgrund ihrer Zweitstimmen genau 145 Sitze entfallen. (Das gilt natürlich nicht nur für die SPD – hätte eine andere Partei prozentual gesehen noch mehr Überhangmandate, wäre diese Partei maßgebend. Es muss einfach jede Partei mindestens so viele Gesamtsitze haben, wie sie bereits Direktmandate erhalten hat.)
Was passiert aber nun im fiktiven Szenario mit allen Parteien unter 5 %? In dem Fall würde keine Partei bei der Verteilung der Landeslistensitze berücksichtigt. Jede Partei hätte also Überhangmandate, sofern sie Wahlkreis gewonnen hätte.
Ausgleichsmandate nur ab 5 %
Also müsste man die Zahl der Sitze wohl sehr deutlich erhöhen. Das beißt sich aber leider mit dem Bundeswahlgesetz: Denn § 6 Abs. 5 sieht vor, dass auch von diesen Ausgleichsmandaten nur die Parteien profitieren können, die über die Fünfprozenthürde gekommen sind. Die anderen Parteien fallen wieder hinten runter.
Man kann also den Bundestag so weit vergrößern wie man möchte, es können keine weiteren Mandante vergeben werden. Denn die kleineren Parteien scheitern ja nicht daran, dass sie zu wenige Stimmen für einen Sitz haben – mit bspw. 4 % der Stimmen würde man auf ca. 24 Sitze kommen. Sie scheitern vielmehr nur an der Sperrklausel. Und diese Sperrklausel wird ja nicht gesenkt.
Reines Mehrheitswahlrecht
Im Endeffekt würde also eine Sitzverteilung nach dem Zweitstimmenanteil gar nicht stattfinden. Damit bliebe es bei der reinen Mehrheitswahl über die Erststimmen. Ein solcher Bundestag wäre gesetzeskonform, da das BWahlG genau diese Rechtsfolge vorsieht – wenngleich der Gesetzgeber natürlich nicht damit gerechnet hat, dass dieses Szenario jemals zustande kommt.
Auch den Bestimmungen des Grundgesetzes würde das nicht widersprechen. Art. 38 Abs. 1 GG sieht lediglich vor, dass der Bundestag in „allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl“ gewählt wird. Diese Voraussetzungen würde auch ein Mehrheitswahlrecht erfüllen. Nähere Anforderungen an das Wahlsystem und die Sitzverteilung stellt das Grundgesetz nicht auf, sondern überließ dies dem Gesetzgeber, weil man, so Carlo Schmid (SPD) in seiner Rede vor dem Parlamentarischen Rat, „das Wahlrecht nicht allzusehr unter Verfassungsschutz stellen“ wollte.
Ob ein Bundestag in einer solchen Konstellation lang im Amt bliebe oder es stattdessen zu schnellen Neuwahlen (ggf. unter einem anderen Wahlsystem) käme, lässt sich freilich nicht voraussagen – schon allein deswegen, weil dieses Szenario eine völlig andere Parteienlandschaft als die derzeitige voraussetzt.