Eine YouGov-Umfrage hat Erstaunliches herausgefunden: Ein Drittel der Bayern würde einen Austritt des Freistaats aus der Bundesrepublik befürworten. Die bayerischen Bürger haben, so scheint es, nie vergessen, unter welchen Umständen sie 1871 ins Deutsche Reich gezwungen wurden und dass sie auch nach dem Zweiten Weltkrieg einem Wiedererstehen eines deutschen Staates skeptisch gegenüber standen. Ökonomische und politische Argumente tun – obgleich eine ernstzunehmede Debatte über die Eigenstaatlichkeit derzeit kaum stattfindet – ihr Übriges.
Karlsruhe gegen Sezession, Völkerrecht dafür
Nun gab es allerdings im Dezember 2016 ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts (2 BvR 349/16), das eine einseitige Sezession einzelner Länder ohne Zustimmung des Bundes für grundgesetzwidrig hielt. Die Bundesverfassung, so die Richter, sehe einen Austritt nicht vor. Das ist nicht verwunderlich, denn außer in der Verfassung Liechtensteins ist ein Austrittsrecht nirgends vorgesehen.
Darauf kommt es aber auch gar nicht an, da ein Separationsrecht völkerrechtlich zu begründen ist. Die frühere Ansicht eines „Rechts auf territoriale Integrität“ wird in der neueren Literatur kaum noch vertreten und wird auch von internationalen Gerichten nur noch ganz zögerlich mit zunehmender Distanz angesprochen. Sie ist im Grunde nur noch ein Relikt des Kalten Kriegs, in dem man sich bemühte, den Status quo zu erhalten, um die Stabilität der Machtblöcke nicht zu gefährden. Juristisch nachvollziehbar war sie ohnehin nie. An Bedeutung gewinnt vielmehr das Selbstbestimmungsrecht der Völker, das klar stellt, dass kein Land dazu gezwungen werden kann, in einem anderen Staat zu verbleiben.
Austritt über Grundgesetzänderung immer möglich
Nehmen wir aber trotzdem einmal an, dass sich Bayern aus eigener Entscheidung nicht einfach aus dem Bund verabschieden könnte, weil das Grundgesetz das nicht (ausdrücklich) vorsieht. Mit Zustimmung des Bundes ginge das natürlich trotzdem. Gehen wir nun davon aus, dass für einen Austritt Bayerns das Grundgesetz geändert werden müsste – oder dass es wenigstens angepasst werden müsste, nachdem Bayern sich abgespalten hat.
Grundgesetz sagt nicht, wo es gilt
Was man konkret am Grundgesetz ändern müsste, ist schon gar nicht so leicht zu sagen. Am naheliegendsten wäre es, die Vorschrift zu ändern, die besagt, dass Bayern Teil der Bundesrepublik ist. Eine solche gibt es aber gar nicht. Denn eine Verfassung kann schon denklogisch nicht selbst regeln, wo sie gilt – entweder sie gilt in einem Land oder nicht.
Würde das Grundgesetz behaupten, dass es in der Schweiz gilt, würde das die Schweizer relativ wenig interessieren. Denn wenn das Grundgesetz in der Schweiz nicht gilt, hat ein Grundgesetz-Artikel, der besagt, dass das Grundgesetz in der Schweiz gilt, in der Schweiz keine Geltung – ein unendlicher Rekurs. Daher konnte Art. 23 GG in der Fassung bis 1990 auch behaupten, das GG gelte in ganz Berlin, ohne dass das Ost-Berlin groß beeindruckt hätte. Dass umgekehrt das Saarland und Baden-Württemberg darin nicht vorkamen und auch nie nachgetragen wurden, war ebenso egal. Eine Verfassung gilt eben, wo sie gilt – und das wird durch politische Tatsachen außerhalb der Verfassung selbst festgelegt.
Bayern in der Präambel
Bleiben wir trotzdem innerhalb dieses Gedankenspiels, dass der Austritt irgendwie über das Grundgesetz funktionieren müsse. Angesprochen werden die Bayern aber zumindest in der Präambel. Deren dritter Satz lautet:
Die Deutschen in den Ländern Baden-Württemberg, Bayern, (…) haben in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands vollendet.
Das ist ein netter Satz. Eine Präambel ist ein Vorspruch, in dem sich viele nette Sätze verstecken. Die Sätze in der Präambel können, wie bei jedem anderen Artikel des Grundgesetzes, rechtlichen Gehalt haben, müssen es aber nicht. Dieser Satz hat aber offensichtlich keinerlei rechtlichen Gehalt, denn er schildert nur einen historischen Fakt – die deutsche Einheit hat stattgefunden und diese Länder waren daran beteiligt. So ist es einfach und so wäre es auch, wenn dieser Satz nicht im Grundgesetz stünde. Daran will aber auch niemand etwas ändern; geändert werden soll nur die momentane Zugehörigkeit Bayerns zum Bund.
Die Bayern als Teil des deutschen Volkes?
Weiter zu Satz 4 der Präambel:
Damit gilt dieses Grundgesetz für das gesamte Deutsche Volk.
Hier wird erstmals eine Geltung angesprochen. Das GG gilt für das gesamte deutsche Volk. Das soll zum einen klar stellen, dass das Grundgesetz keine Ambitionen hat, seine Geltung weiter auszudehnen. Eine Rückgabe des Ostgebiete, eine Wiederangliederung Österreichs oder die Rekolonialisierung Kameruns und Namibias will niemand ernsthaft.
Die Ankopplung über „Damit“ an den vorhergehenden Satz, der die Bundesländer aufzählt, könnte möglicherweise aber so verstanden werden als würde so zugleich erklärt, dass das Grundgesetz in jedem dieser Länder gilt. Allerdings beschränkt sich das GG aber immer noch auf das deutsche Volk. Wenn sich die Bayern also durch Sezession aus dem deutschen Volk ausgliedern würden, würde das Grundgesetz diese Änderung gleichsam automatisch mit vollziehen.
Rein vorsichtshalber könnte man freilich auch noch einen erklärenden Satz 5 einfügen: „In Bayern gilt es nicht.“ Dass sich der Bundes-Verfassungsgesetzgeber diese Blöße an einer derart prominenten Stelle geben würde, darf man aber bezweifeln.
Austritt per Staatsvertrag
Eine andere Möglichkeit wäre es, die für einen Austritt notwendigen Staatsverträge mit grundgesetzändernden Mehrheiten zu beschließen. Dem steht aber Art. 79 Abs. 1 Satz 1 GG entgegen. Denn das GG darf nur innerhalb seines Wortlauts geändert werden, nicht durch ein separates Zustimmungsgesetz zu einem Staatsvertrag.
Das könnte man dadurch umgehen, dass bspw. in Art. 144 GG, der schon längst nur noch historische Bedeutung hat und zudem auf einen Artikel 23 verweist, den es heute in der Form nicht mehr gibt, eine entsprechende Ermächtigung zum Abschluss eines Staatsvertrags eingefügt wird. Diese könnte beinhalten, dass ein Austritt Bayerns in Kraft tritt, sobald die entsprechenden Verträge abgeschlossen sind.
Beitritt des Saarlands zum 1. Januar 1957
Damit wäre die Abspaltung Bayerns im Grundgesetz nur angedeutet, der eigentliche Vorgang des Austritts würde sich aber außerhalb (eben auf vertraglicher Basis, die nur durch einfaches Zustimmungsgesetz in eine innerstaatliche Rechtsnorm gebunden wird) vollziehen. Das wäre – wenngleich mit umgekehrten Vorzeichen – nicht einmal beispiellos.
So lautete Art. 23 Satz 2 GG a.F.:
In anderen Teilen Deutschlands ist es [das Grundgesetz] nach deren Beitritt [zur Bundesrepublik] in Kraft zu setzen.
In der Verfassung war also bereits eine Blankettbestimmung enthalten, über die sich neue Bundesländer der Bundesrepublik anschließend konnten. Als das Saarland 1956 den Beitritt erklärte, musste das Grundgesetz insoweit auch nicht geändert werden, da damit nur eine bereits im GG vorgesehene Möglichkeit genutzt wurde.
Die Lösung: Art. 144 GG n.F.
Und so könnte man einen neuen Art. 144 GG einführen:
(1) Der Freistaat Bayern scheidet aus dem Geltungsbereich dieses Grundgesetzes aus.
(2) Die Rechtsverhältnisse zwischen dem Freistaat Bayern und der Bundesrepublik Deutschland werden durch Staatsverträge geregelt, die der Zustimmung des Bundesrats bedürfen.
(3) Der Austritt wird wirksam, sobald die in Abs. 2 genannten Verträge in Kraft treten.
Ja, das könnte man. Wenn man wollte. Und wenn es dafür eine Mehrheit in Bayern gäbe, käme der Bund wohl auch nicht daran vorbei. Den ersten Schritt in diese Richtung müssten also die bayerischen Bürger gehen. Und zwar nicht nur im Rahmen einer YouGov-Umfrage.